Glaubenskriegerisch neutral

von Dirk Pilz

Juli 2012. Alles wird immer mehr auf dieser Welt. Mehr Menschen, mehr Informationen, mehr Kunst, auch mehr Unsinn, klar. Unübersichtlichkeit und Orientierungsverlust sind wahrscheinlich jene Merkmale unserer Gegenwart, die jeder abnicken wird.

Deshalb sind Handbücher eine feine Sache. Handbücher wählen aus, schaffen Ordnung und teilen dem Leser mit, was er kennen muss, um halbwegs den Überblick zu wahren. Je größer die Unübersichtlichkeit, desto stärker die Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion.

Kein Theaterwissenschaftsdeutsch

Der Metzler Verlag bedient seit Jahren bestens dieses Bedürfnis, indem er für die altbewährte Sachbuchgattung Handbuch immer neue Gegenstände (er)findet. Es gibt inzwischen 92 Metzler-Handbücher, eins zu Adorno und zur Angst, eins zu Glück und zu Goethe natürlich, auch Hamlet hat es zum eigenen Nachschlagthema geschafft.

Daneben hat der Verlag noch reichlich Lexika im Angebot. Jedes ist anders. Dasjenige zur Rezeption der antiken Literatur etwa (Supplementband 7 zum Neuen Pauly, 2010) ist ganz und gar hervorragend, weil es nicht nur hoch informativ, sondern weitgehend ideologiefrei verfährt; dasjenige zur Theatertheorie (2005) ist dagegen eine Unverschämtheit, weil es hoch vorurteilsbelastet größtenteils nur solche Theorien aufgenommen hat, die den Herausgebern (Erika Fischer-Lichte, Doris Kolesch und Matthias Warstat) in den wissenschaftspolitischen Kram passen, nämlich solche, die das Dogma vom performative turn mitbeten. Auch Handbücher verraten eben viel über ihre Verfasser.

Jetzt ist eines zum Drama erschienen, herausgegeben von dem Kölner Theaterwissenschaftler Peter W. Marx. Es hat drei Teile. In einem ersten werden Begriffe und Konzepte verhandelt, ein zweiter bietet "Annäherungen an das Drama in analytischer Perspektive". Den größten Raum nimmt der dritte Teil ein, "Gattungen des Dramas im historischen Kontext". Mit Grund. Das Drama, steht im Vorwort, ist "keine in sich ruhende Form". Denn das "Bezogensein auf das Theater" verhindere eine Eindeutigkeit der Gattung. Also wird hier immer auf das Theater verwiesen. Das ist ein erster Vorteil dieses Handbuches.

marx handbuch drama 180Ein zweiter, unbedingt hervorhebenswerter: Man wird kaum genötigt, sich durch verschwurbeltes Theaterwisssenschaftsdeutsch zu quälen; das fällt gerade im Vergleich zur sonstigen Fachliteratur auf. Vielen Dank den 28 AutorInnen, dem Lektorat und dem Herausgeber ­– dieses Buch dürfen auch Menschen lesen, die keine Freunde verkrampfter Substantiv- und Fremdwortverknotungen sind.

Und noch etwas zeichnet dieses Nachschlagewerk aus: Es hat einen Blick sowohl für aktuelle Entwicklungen (ein Kapitel widmet sich der interkulturellen Dramaturgie, eines der intermedialen) als auch für Themen, die sträflicherweise sonst kaum Beachtung finden, das Wunderbare etwa.

Keine Frontkämpfe

Entscheidend aber ist die Grundhaltung zum Gegenstand: die "konsequente Historisierung", wie Peter W. Marx schreibt. Und konsequent betriebene Historisierung bedeutet hier eben auch, dass in keinem der Kapitel plumpe Fortschrittsgeschichten erzählt werden. Für dieses Handbuch ist das geistliche Spiel des Mittelalters genauso wenig die Kuriosität einer versunkenen Vergangenheit wie das postdramatische Theater der Bühnenwahrheit letzter Schluss.

Dass es in der Kunstgeschichte keine Fortschritte, sondern nur Ausdifferenzierungen gibt, dass zum Beispiel die Performance Art keine Höher- oder Weiterentwicklung, sondern nur eine andere Erscheinungsweise von Theater ist und also das Guckkastenspiel weder überflüssig macht noch zwingend veraltet erscheinen lässt, ist im Grunde zwar eine Selbstverständlichkeit. Aber es wurde absichtsvoll vergessen, weil die Mode (und die Wissenschaftspolitik) es so wollte. Nicht nur in der Theaterpraxis, auch in der Theatertheorie werden immer wieder Glaubenskriege geführt, zum Beispiel um "altes" und "neues" Theater. Siehe oben das Metzler-Lexikon zur Theatertheorie, um nur ein Beispiel zu nennen.

Das "Handbuch Drama" hat es angenehmerweise nicht nötig, derlei glaubenskriegerische Frontkämpfe mitzumachen. Es hat auch einen Blick für die Geschichtlichkeit und also Begrenztheit des eigenen Denkens und Wahrnehmens, kann deshalb so entspannt wie präzise auf das im derzeitigen Theater "zunehmende Bedürfnis, wieder größere Geschichten" zu erzählen, blicken oder auf diverse "Ermüdungserscheinungen" des postdramatischen Theaters.

Dabei ist es nicht entscheidend, ob man die einzelnen Erörerterungen teilt. Dass Aristoteles' "Poetik" hier kritikfrei als "Urschrift des Dramas" gehandelt wird, finde ich seit Wolfram Ettes Kritik der Tragödie nicht mehr überzeugend (wahrscheinlich ist aber Ettes Buch zu spät erschienen, um noch beachtet werden zu können). Und ist es tatsächlich berechtigt, vom "weltweiten Siegeszug des epischen Theaters Brechtscher Prägung" zu sprechen?

Aber gut, auch dieses Handbuch tut, was Handbüchern zu tun aufgegeben ist: ordnen, gewichten. Es ist dennoch weit mehr als ein bloßes Nachschlagewerk, weil es den Blick schärft und zum Nachforschen und Fortdenken ermuntert. Weil es von einer Haltung getragen ist, die die Irrtumsanfälligkeit allen Denkens mit in Rechnung stellt. Insofern betreibt es Komplexitätserweiterung. Insofern lohnt es, dieses Buch zu lesen und nicht nur zum Nachblättern hervorzuholen.

 

Peter W. Marx (Hg.:):
Handbuch Drama. Theorie, Analyse, Geschichte.
Verlag J.B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2012,
348 S., 69,95 Euro

 

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