Presseschau vom 27. Juli 2012 – Stimmen zum Tod von Susanne Lothar

Eine Extremspielerin

27. Juli / 2. August 2012. Bei uns erinnert sich Michael Eberth an eine Theatererfahrung mit Susanne Lothar – hier eine Übersicht anderer Pressestimmen zum Tod der Schauspielerin:

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (25.7.2012) schreibt Gerhard Stadelmaier: "Immer, wenn Susanne Lothar, Tochter der zarten Schauspielerin Ingrid Andrée und des noch zarteren Schauspielers Hanns Lothar, Gattin des (schon 2007 jung verstorbenen) allerzartesten Schauspielers Ulrich Mühe, die Bühne betrat: unzart, herb, flirrend, schniefend, sturzflugartig – hob sie sofort alle Gesetze auf." Es habe nur noch gegolten: ihr Gesetz. "Sie war eine Überwältigerin. In aller Unschuld." Sie habe von Anfang an mit "besseren bis großen" Regisseuren gearbeitet, mit Zadek, Giesing, Wieler, Bondy. "Und sie ließ sich von Anfang an zu Hitze- wie zu Kältegraden extremer Natur verführen." In den letzten Jahren ihres viel zu kurzen Lebens habe Susanne Lothar "zum großen, vornehmen Ensemble der Ensemblelosen" gehört. "Kein Haus wollte oder konnte diese wunderbare, sperrig anziehende Ausnahmetheaterkünstlerin in ihren Vierzigern auf Dauer beschäftigen, sie mit Rollen locken." Vielleicht sei sie dazu auch zu eigengesetzlich, zu selbstsicher, zu solistisch gewesen. Im Kino habe sie dafür aber "den Teufelsengelskreis ihrer Schreckenslustweiber" (Stadelmaier fächert vorher seine Eindrücke einer ganzen Reihe ihrer Theaterrollen auf) ausschreiten können.

Als "kompromisslose, zu allen Wagnissen bereite Extremschauspielerin - so extrem liebend, duldend, leidend und durchlässig für den Schmerz wie keine andere" wird Susanne Lothar von Christine Dössel in der Süddeutschen Zeitung (27.7.2012) beschrieben. "Sie konnte ihrem Blick eine arktische Froststarre verleihen, ihr Gesicht zur Maske werden lassen, schockgefroren aus den Erfahrungen von Hass, Zorn und Leid. Sie war Schneekönigin, Medusa und ewig-verletztes Kind." "Maximales Risiko" - das sei ihre Devise gewesen. "Vordringen zur Wahrheit, wie weh es auch tut." Ob Burgtheater oder "Tatort": Mit ihrer besonderen Mischung aus Zähigkeit und Zerbrechlichkeit, Extremismus, Eigensinn und Intuition habe "die Ausnahme- und Instinktschauspielerin Susanne Lothar" jede Produktion bereichert. "Dass Susanne Lothar, deren malträtierte Bühnen- und Filmfrauen oft so zäh und hart im Nehmen waren, im realen Leben eine Zerrissene, Gefährdete, zuletzt womöglich unrettbar Einsame war, ist unendlich traurig."

"Scheinbare Gegensätze verbanden sich in Susanne Lothar aufs eindrucksvollste: Zerbrechlichkeit und Stärke, die sich nicht zuletzt eiserner Disziplin verdankte; Trauer und Komik; das Zarte und das Harte", würdigt Ulrich Weinzierl die Schauspielerin in der Welt (27.7.2012) und erinnert sich, wie auch die meisten anderen Nachrufenden, ganz besonders an Susanne Lothars Lulu in Peter Zadeks Hamburger Inszenierung, die einzigartig gewesen sei durch ihre "naive Schamlosigkeit". Im Film wiederum habe sie meist "eine aus der unendlichen Schar der Erniedrigten und Beleidigten" verkörpert, dabei jedoch nie verhehlt, dass in Opfern potenzielle Täter stecken. "Das verlieh ihren Gestalten wundersame Ehrlichkeit und Würde, den Anschein eines Rests von Freiheit im Zwang."

"Mit dem, was im Menschen an Monströsem vorhanden ist, schien diese Schauspielerin nah vertraut, die sich ihm in einem Masse aussetzte, dass man Angst um sie bekam", schreibt Barbara Villiger Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (27.7.2012). Man habe sich gefragt, wie sie Rollen wie die in den Haneke-Filmen aushielt, "dünn, fragil, durchsichtig fast, wie sie daherkam". Zum Schluss ihres kurzen Texts erinnert sich Barbara Villiger Heilig an Susanne Lothars Zürcher Auftritt in Luc Bondys Inszenierung von "Auf dem Land" von Martin Crimp: "Ein Balancieren auf dem Grat zwischen Vernunft und Wahn, sukzessive ins Vakuum torkelnd, in ein Jenseits, das abgespalten schien von unserer Welt, unerreichbar, uneinholbar: Das führte sie vor, und man schauderte."

"Die ge- und missbrauchten Frauen, die Susanne Lothar auf dem Theater oft gespielt hat, behielten immer einen Unschuldspanzer aus diesem Entsetzen über die Bestie Mensch. Egal was ihnen zustieß oder was sie selbst anrichteten", schreiben Cristina Nord und Esther Slevogt in ihrem gemeinsamen Nachruf in der taz (27.7.2012). Eine souveräne, selbstbewusste und lebenspralle Lulu sei sie bei Zadek gewesen, "wie man dieses bis dahin so klischeebeladene Abziehbild aller Männerbegierde noch nie gesehen hatte". Später sei das Physische ihrer frühen Bühnenfiguren einer subtil gebrochenen Bodenständigkeit gewichen, "mit der Susanne Lothar Stücke und Stoffe zu erden verstand, die sonst an ihrer Konstruiertheit erstickt wären". Manchmal hätten ihre Figuren nur noch aus Blicken bestanden, "einer eisigen Sanftheit, die nur noch selten von kurzen Eruptionen eines erstickten Lebenshungers aufgebrochen wurde".

"Es gehört so viel Widersprüchliches zum Leben, das, genau besehen, schwer auszuhalten ist", schreibt Dirk Pilz in seinem Nachruf für die Frankfurter Rundschau (27.7.2012). Susanne Lothar habe es sich immer genau angesehen, sie sei oft durch die Straßen gelaufen und habe geschaut, wie die Leute gehen, die Hände heben, den Blick senken. "Je genauer sie beobachtete, desto mehr Unversöhntes erkannte sie." Es gebe wenige Schauspieler, die so ungeschützt ihre Ängste und Sehnsüchte, ihre Schutz- und Liebesbedürftigkeit zeigen. "'Suse', wie sie von Freunden genannt wurde, war eine Frau, die in ihren Rollen zu schwitzen schien, wenn es bitterkalt war, und zu frieren in der größten Glut." Sie habe ihre Figuren dorthin getrieben, wo der Schmerz wohnt, unter die Haut, hinter die Pupillen. "Sie hätte Extrembergsteigerin werden können, Eiskletterin. Sie ist Extremspielerin geworden."

"In ihren früheren Jahren war diese Schauspielerin das gebrannte und misshandelte, weiterkämpfende Kind", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (2.8.2012). In späteren Rollen habe sie "die Autorität und komische Distanz der Bitterkeit" hinzugewonnen. "Man hatte nun eine Zeit lang den Eindruck, sie spiele nur noch sitzende Frauen: Frauen, die nicht handeln, nicht kämpfen, nichts wollen" "Dem Zuschauer" sei damals der Verdacht gekommen, dass dies die großen brgerlichen Frauenrollen unserer Tage sein könnten: "brütende Wesen, die sich gleich erheben und die Männer verlassen werden". Sie wolle nicht immer nur "die Verlustfiguren" spielen, habe Susanne Lothar vor gar nicht langer Zeit gesagt, sie wolle gern mal in einem James-Bond-Film mitspielen. "Das wäre zweifellos ein großartiger Bond geworden". Der Agent seiner Majestät wisse nicht, was er versäumt hat. "Wir wissen es aber schon."

(sd)

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