Der Eitelstolz des Untertanen

Er sei "wahrscheinlich der größte Liebhaber des Theaters", heißt es ziemlich unbescheiden auf dem Klappentext. Das werden wohl nur wenige unwidersprochen hinnehmen wollen, ist doch die Liebe des FAZ-Kritikers Gerhard Stadelmaier eine recht einseitige: demjenigen Theater, das er selbst Regisseurstheater nennt, begegnet er nämlich nicht als Liebender, sondern als unerbittlich, mancher wird sagen: als verbohrt Hassender.

cover stadelmaiersliebeserklaerungenVielleicht aber ist Gerhard Stadelmaier wenn nicht der größte Theaterliebhaber, so doch der größte Bühnenkunstmonarchist. Und das hier anzuzeigende Buch lässt seine Königinnen und Könige auftreten, vor denen er lustvoll auf die Knie geht ("wenn man die entsprechenden Knie hat", wie er verlauten lässt): "die großen Schauspieler und ihre gewaltigen Figuren". Mit dem Eitelstolz des Untertanen preist er sie, und mit einer gewissen Häme verzeichnet es der Monarchist, wenn auch die Republikaner im Staub vor der Größe der einsamen Bühnenherrscher liegen. So erinnert er etwa daran, wie, wenn Bernhard Minetti ein Theater betrat, dieser "den Raum dominierte, wie sich ihm alle zuneigten, wie das ganze demokratische Ensemble der Voyeure, Flaneure und Abonnenten sich ihm geradezu aufatmend zu unterwerfen schien – da ließ sich ein König herab."

Stadelmaier ist ehrlich genug vorwegzuschicken, dass nicht alle großen Schauspieler in seinem Buch vorkommen können. Dass der Bühnenkunstmonarchist, der er ist, jedoch alle Schauspieler ignoriert, deren Bühnenkunst mit dem Arbeiter- und Bauernstaat DDR in Berührung gekommen ist, hat wohl Methode: keine Inge Keller, keine Corinna Harfouch, kein Henry Hübchen, kein Ulrich Mühe.

Dafür gibt es ein buntes Panoptikum des BRD-Theaters, beginnend mit einem klugen Essay über Gustaf Gründgens, weiter über Porträts der großen Schaubühnen-Mimen (Edith Clever, Jutta Lampe, Bruno Ganz …) bis hin zu den großen Spielern unter Dieter Dorn, Peter Zadek, Claus Peymann oder Andrea Breth (Cornelia Froboess, Angela Winkler, Rolf Boysen, Gert Voss, Johanna Wokalek …). Manchmal mag Stadelmaiers Panegyrik gefährdet sein, in allzu leeres Wortgepränge zu gleiten (geradezu inflationär wird das Buch von dem Wort "Welt" in allen möglichen Zusammensetzungen durchzogen), manchmal aber kommt man nicht umhin, sich vor diesem zur Entzückung entzündeten Bühnenherrscheruntertanen zu verneigen. Wenn Stadelmaier seine Vision von Shakespeares "Sturm" entfaltet oder den einen großen Moment von Otto Sander im Film "Das Boot" schildert, dann findet er wahrhaft schöne Worte. Worte, die wohl nur einem großen Liebhaber einfallen. Also doch! (Wolfgang Behrens)

 

Gerhard Stadelmaier:
Liebeserklärungen. Große Schauspieler, große Figuren.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012, 240 S., 19,90 Euro.

 

Ein relativ guter Klang

Als ein unvergleichlich geschmeidiges Instrument hat George Steiner, der Literaturphilosoph, den Chor vor über 40 Jahren in seinem Essay "Der Tod der Tragödie" bezeichnet. Treffenderweise. Denn gleichviel, ob man (wie Steiner) vom Ende der Tragödie ausgeht oder nicht – der Chor hat überlebt: Aus ihm ist einst das Theater erwachsen, aus ihm zieht es noch immer Innovations- und Irritationskraft.

cover maskeundkothurn chorKaum verwunderlich also, dass die Zeitschrift "Maske und Kothurn" in ihrer aktuellen Nummer "Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater" vorstellt. Auch nicht überraschend, dass hier allenfalls ein kleiner Ausschnitt zur Sprache kommt. Einen repräsentativen Querschnitt wollten die Herausgeberinnen ohnehin nicht vorlegen, aber eine lohnende Frage aufwerfen: "Wann ist ein Chor ein Chor?" Die einzelnen Beiträge verlieren sie (leider) immer wieder etwas aus den Augen, aber mit Grund wahrscheinlich. Denn mit dem Bezug auf den Gruppencharakter eines Chores ist nicht allzu viel gesagt, weil jede Gruppe mehr ist als die Summe ihrer Individuen. Weil verschiedene Einzelne verschiedene Gruppen bilden, gerade im Theater.

Was chorische Energie ausmacht, wie sich das Verhältnis von Einzelnem und Masse darstellt, wird in diesem Band daher vornehmlich an konkreten Inszenierungen untersucht, an Claudia Bosses Persern, Volker Löschs Medea und René Polleschs Ein Chor irrt sich gewaltig etwa. Sehr schön, dass auch der leider etwas in Vergessenheit geratene Josef Szeiler hier nicht übergangen wird – in einem Gespräch berichtet er von seiner "Prometheus"-Inszenierung 1983 in Wien und der Arbeit an einem "kreativen Chor". Wann ist ein Chor ein Chor? Szeiler sagt: Im Theater sei ein Chor ein Chor, "wenn jemand dirigiert und alle sprechen gleichzeitig und es schert niemanden etwas." Das erzeuge bestenfalls "einen relativ guten Klang". Er dagegen will mit dem Chor das, was Einar Schleef einst wollte: einen "rituellen Vorgang" schaffen. Auch das gehört zu den Formationen des Chores im Gegenwartstheater: diese Sehnsucht nach dem Rituellen. (Dirk Pilz)

 

Genia Enzelberger, Monika Meister, Stefanie Schmitt (Hg.):
Auftritt Chor. Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater.
Maske und Kothurn. Heft 1/2012.
Böhlau Verlag, Wien 2012, 118 S., 16,90 Euro

 

Das Leiden bleibt

Es gebe da an den antiken Tragödien etwas, das bis heute kontrovers diskutiert werde, woran sich ablesen lasse, dass sie sich keineswegs erledigt hätten, schreibt der Literaturwissenschaftler Bernhard Greiner zu Beginn seiner ehrgeizigen Studie. Das sei die Frage, ob der Mensch in der Tragödie (und im Leben) einem "übermächtigen, ihn verderbenden Schicksal oder einer ihn ins Unglück stürzenden göttlichen Lenkung ausgesetzt und allenfalls fähig sei, Klage zu erheben" oder ob ihm "ein eigener, von ihm auch zu verantwortender Anteil an seinem Geschick zuerkannt werde".

cover greiner tragoedieDas ist die Frage, ja. Anders aber als zuletzt Wolfram Ette in seiner Studie Kritik der Tragödie gibt Greiner darauf keine eigene tragödientheoretische Antwort, sondern führt in das "komplexe Feld der Determinationen, in das die Tragödie das Handeln des Menschen eingelassen zeigt". Die Tragödie, so Greiner, verhandle den Freiheitsspielraum des Menschen, daher auch der Untertitel dieses Buches: "eine Literaturgeschichte des aufrechten Ganges". Es geht in Tragödien damit immer um das Verhältnis von "Gebundenheit und Selbstverfügung".

Das ist kein neuer, aber noch immer ein eleganter Zugriff auf den Stoff. Denn er erlaubt, von Aischylos bis Botho Strauß die Entwicklung der Tragödie zu verfolgen. Ein Überblicksbuch also, allerdings mit punktuellen Tiefenbohrungen, zu Goethes "Faust" oder Wedekinds "Lulu" zum Beispiel. Bemerkenswert, dass es in diesem Buch auch ein eigenes, aufschlussreiches Kapitel zu Benjamin Cohen und den geschichtsphilosophischen Bestimmungen der Tragödie in jüdischer Perspektive gibt. Schade, dass es zum Gegenwartstheater nichts zu sagen weiß.

An der Gegenwärtigkeit der Tragödie und ihrer ästhetischen Verfahren zweifelt Greiner aber nicht: Sie sei gegenwärtig, insofern die Nötigung weiter bestehe, "die Welt vom Leiden aus zu verstehen", wie Nietzsche es in einem seiner nachgelassene Fragmente formulierte. Denn noch immer werden wir mit Furchtbarem konfrontiert, das sich "logisch-vernünftiger Bewältigung" verweigert. (Dirk Pilz)

 

Bernhard Greiner:
Die Tragödie. Eine Literaturgeschichte des aufrechten Ganges.
Grundlagen und Interpretationen.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2012, 864 S., 27, 90 Euro

 

Mehr Bücher? Gibt es hier.

 

Der Eitelstolz des Untertanen

Er sei "wahrscheinlich der größte Liebhaber des Theaters", heißt es ziemlich unbescheiden auf dem Klappentext. Das werden wohl nur wenige unwidersprochen hinnehmen wollen, ist doch die Liebe des FAZ-Kritikers Gerhard Stadelmaier eine recht einseitige: demjenigen Theater, das er selbst Regisseurstheater nennt, begegnet er nämlich nicht als Liebender, sondern als unerbittlich, mancher wird sagen: als verbohrt Hassender.

cover stadelmaiersliebeserklaerungenVielleicht aber ist Gerhard Stadelmaier wenn nicht der größte Theaterliebhaber, so doch der größte Bühnenkunstmonarchist. Und das hier anzuzeigende Buch lässt seine Königinnen und Könige auftreten, vor denen er lustvoll auf die Knie geht ("wenn man die entsprechenden Knie hat", wie er verlauten lässt): "die großen Schauspieler und ihre gewaltigen Figuren". Mit dem Eitelstolz des Untertanen preist er sie, und mit einer gewissen Häme verzeichnet es der Monarchist, wenn auch die Republikaner im Staub vor der Größe der einsamen Bühnenherrscher liegen. So erinnert er etwa daran, wie, wenn Bernhard Minetti ein Theater betrat, dieser "den Raum dominierte, wie sich ihm alle zuneigten, wie das ganze demokratische Ensemble der Voyeure, Flaneure und Abonnenten sich ihm geradezu aufatmend zu unterwerfen schien – da ließ sich ein König herab."

Stadelmaier ist ehrlich genug vorwegzuschicken, dass nicht alle großen Schauspieler in seinem Buch vorkommen können. Dass der Bühnenkunstmonarchist, der er ist, jedoch alle Schauspieler ignoriert, deren Bühnenkunst mit dem Arbeiter- und Bauernstaat DDR in Berührung gekommen ist, hat wohl Methode: keine Inge Keller, keine Corinna Harfouch, kein Henry Hübchen, kein Ulrich Mühe.

Dafür gibt es ein buntes Panoptikum des BRD-Theaters, beginnend mit einem klugen Essay über Gustaf Gründgens, weiter über Porträts der großen Schaubühnen-Mimen (Edith Clever, Jutta Lampe, Bruno Ganz …) bis hin zu den großen Spielern unter Dieter Dorn, Peter Zadek, Claus Peymann oder Andrea Breth (Cornelia Froboess, Angela Winkler, Rolf Boysen, Gert Voss, Johanna Wokalek …). Manchmal mag Stadelmaiers Panegyrik gefährdet sein, in allzu leeres Wortgepränge zu gleiten (geradezu inflationär wird das Buch von dem Wort "Welt" in allen möglichen Zusammensetzungen durchzogen), manchmal aber kommt man nicht umhin, sich vor diesem zur Entzückung entzündeten Bühnenherrscheruntertanen zu verneigen. Wenn Stadelmaier seine Vision von Shakespeares "Sturm" entfaltet oder den einen großen Moment von Otto Sander im Film "Das Boot" schildert, dann findet er wahrhaft schöne Worte. Worte, die wohl nur einem großen Liebhaber einfallen. Also doch! (Wolfgang Behrens)

 

Gerhard Stadelmaier:
Liebeserklärungen. Große Schauspieler, große Figuren.
Paul Zsolnay Verlag, Wien 2012, 240 S., 19,90 Euro.

 

Ein relativ guter Klang

Als ein unvergleichlich geschmeidiges Instrument hat George Steiner, der Literaturphilosoph, den Chor vor über 40 Jahren in seinem Essay "Der Tod der Tragödie" bezeichnet. Treffenderweise. Denn gleichviel, ob man (wie Steiner) vom Ende der Tragödie ausgeht oder nicht – der Chor hat überlebt: Aus ihm ist einst das Theater erwachsen, aus ihm zieht es noch immer Innovations- und Irritationskraft.

cover maskeundkothurn chorKaum verwunderlich also, dass die Zeitschrift "Maske und Kothurn" in ihrer aktuellen Nummer "Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater" vorstellt. Auch nicht überraschend, dass hier allenfalls ein kleiner Ausschnitt zur Sprache kommt. Einen repräsentativen Querschnitt wollten die Herausgeberinnen ohnehin nicht vorlegen, aber eine lohnende Frage aufwerfen: "Wann ist ein Chor ein Chor?" Die einzelnen Beiträge verlieren sie (leider) immer wieder etwas aus den Augen, aber mit Grund wahrscheinlich. Denn mit dem Bezug auf den Gruppencharakter eines Chores ist nicht allzu viel gesagt, weil jede Gruppe mehr ist als die Summe ihrer Individuen. Weil verschiedene Einzelne verschiedene Gruppen bilden, gerade im Theater.

Was chorische Energie ausmacht, wie sich das Verhältnis von Einzelnem und Masse darstellt, wird in diesem Band daher vornehmlich an konkreten Inszenierungen untersucht, an Claudia Bosses Persern, Volker Löschs Medea und René Polleschs Ein Chor irrt sich gewaltig etwa. Sehr schön, dass auch der leider etwas in Vergessenheit geratene Josef Szeiler hier nicht übergangen wird – in einem Gespräch berichtet er von seiner "Prometheus"-Inszenierung 1983 in Wien und der Arbeit an einem "kreativen Chor". Wann ist ein Chor ein Chor? Szeiler sagt: Im Theater sei ein Chor ein Chor, "wenn jemand dirigiert und alle sprechen gleichzeitig und es schert niemanden etwas." Das erzeuge bestenfalls "einen relativ guten Klang". Er dagegen will mit dem Chor das, was Einar Schleef einst wollte: einen "rituellen Vorgang" schaffen. Auch das gehört zu den Formationen des Chores im Gegenwartstheater: diese Sehnsucht nach dem Rituellen. (Dirk Pilz)

 

Genia Enzelberger, Monika Meister, Stefanie Schmitt (Hg.):
Auftritt Chor. Formationen des Chorischen im gegenwärtigen Theater.
Maske und Kothurn. Heft 1/2012.
Böhlau Verlag, Wien 2012, 118 S., 16,90 Euro

 

Das Leiden bleibt

Es gebe da an den antiken Tragödien etwas, das bis heute kontrovers diskutiert werde, woran sich ablesen lasse, dass sie sich keineswegs erledigt hätten, schreibt der Literaturwissenschaftler Bernhard Greiner zu Beginn seiner ehrgeizigen Studie. Das sei die Frage, ob der Mensch in der Tragödie (und im Leben) einem "übermächtigen, ihn verderbenden Schicksal oder einer ihn ins Unglück stürzenden göttlichen Lenkung ausgesetzt und allenfalls fähig sei, Klage zu erheben" oder ob ihm "ein eigener, von ihm auch zu verantwortender Anteil an seinem Geschick zuerkannt werde".

cover greiner tragoedieDas ist die Frage, ja. Anders aber als zuletzt Wolfram Ette in seiner Studie Kritik der Tragödie gibt Greiner darauf keine eigene tragödientheoretische Antwort, sondern führt in das "komplexe Feld der Determinationen, in das die Tragödie das Handeln des Menschen eingelassen zeigt". Die Tragödie, so Greiner, verhandle den Freiheitsspielraum des Menschen, daher auch der Untertitel dieses Buches: "eine Literaturgeschichte des aufrechten Ganges". Es geht in Tragödien damit immer um das Verhältnis von "Gebundenheit und Selbstverfügung".

Das ist kein neuer, aber noch immer ein eleganter Zugriff auf den Stoff. Denn er erlaubt, von Aischylos bis Botho Strauß die Entwicklung der Tragödie zu verfolgen. Ein Überblicksbuch also, allerdings mit punktuellen Tiefenbohrungen, zu Goethes "Faust" oder Wedekinds "Lulu" zum Beispiel. Bemerkenswert, dass es in diesem Buch auch ein eigenes, aufschlussreiches Kapitel zu Benjamin Cohen und den geschichtsphilosophischen Bestimmungen der Tragödie in jüdischer Perspektive gibt. Schade, dass es zum Gegenwartstheater nichts zu sagen weiß.

An der Gegenwärtigkeit der Tragödie und ihrer ästhetischen Verfahren zweifelt Greiner aber nicht: Sie sei gegenwärtig, insofern die Nötigung weiter bestehe, "die Welt vom Leiden aus zu verstehen", wie Nietzsche es in einem seiner nachgelassene Fragmente formulierte. Denn noch immer werden wir mit Furchtbarem konfrontiert, das sich "logisch-vernünftiger Bewältigung" verweigert. (Dirk Pilz)

 

Bernhard Greiner:
Die Tragödie. Eine Literaturgeschichte des aufrechten Ganges.
Grundlagen und Interpretationen.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2012, 864 S., 27, 90 Euro

 

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Kommentare  
Buchhinweise August: Kniefall und Quote
Dass Behrens Stadelmaier net leiden kann, ist nicht zu übersehen. Ist ja sein gutes Recht. Aber wie immer Stadelmaier oder sonst wer das Theater von "großen Spielern unter Dieter Dorn, Peter Zadek, Claus Peymann oder Andrea Breth" nennen mag: für eine Verachtung der Regie spricht es nicht. Eher gegen die Annahme, Schauspiel- und Regiekunst müssten einander ausschließen. Und was die Haltung des Niederkniens angeht, deren Mangel man Stadelmaier in der Regel ankreidet: wenn alle, die sie einnehmen, Monarchisten sind, steht es schlecht um die Republik. Vielleicht geht es eine Nummer kleiner, indem man eine Metapher als eine Metapher nimmt. Mir sind Kritiker, die vor Künstlern - real oder bildlich - niederknien, jedenfalls lieber als all jene, die vor den Politikern auf dem Bauch liegen, monarchistisch, christlich-sozial oder sozialdemokratisch. Was die Schauspieler aus der DDR angeht: ja, das fällt auf. Aber auch die Österreicher sind nur durch Schmidinger und die Schweizer nur durch Ganz vertreten, die beide in Deutschland reüssierten. Warum stört das Behrens nicht? Eine Auswahl musste Stadelmaier treffen. Soll nun auch hier eine Quote eingeführt werden?
Buchhinweise August: der Kritiker antwortet
1. "für eine Verachtung der Regie spricht es nicht." Hat jemand davon gesprochen, dass Stadelmaier grundsätzlich die Regie verachtet? Stadelmaier verachtet das, was er "Regisseurstheater" nennt. Da können Sie ihn sicher auch selbst fragen.

2. "indem man eine Metapher als eine Metapher nimmt …": Eben. Nehmen Sie einfach eine Metapher als eine Metapher.

3. "Soll nun auch hier eine Quote eingeführt werden?" Nein. Aber das komplette Fehlen der aus einer bestimmten Tradition hervorgegangenen Schauspieler ist ein starkes Indiz für das weitreichende Desinteresse Stadelmaiers an derselben. Darauf habe ich mir hinzuweisen erlaubt. Von einer spezifisch schweizerischen oder österreichischen Tradition des Theaterspiels dagegen ist mir nichts Einschlägiges zu Ohren gekommen.
Buchhinweise August: Nestroy-Tradition
1. Die Ignoranz Stadelmaiers speist sich aus einem ideologischen Gefecht, keine Frage.
2. Aber: "Von einer spezifisch schweizerischen oder österreichischen Tradition des Theaterspiels dagegen ist mir nichts Einschlägiges zu Ohren gekommen." - das ist ein Armutszeugnis für einen Kritiker! Nur ein Beispiel von Vielen: Die österreichische Nestroy-Tradition der 60er und 70er Jahre am Volkstheater zeigte sich auch in einem ganz eigenen, spezifischen Schauspielstil.
3. Es gilt eben immer wieder: Was nicht ins durchglobalisierte Bild passt, wonach ein Schauspieler in Wien genauso klingen muss wie in Zürich, Berlin oder Hamburg, wird ignoriert. Schade, dass ganze Schauspieltraditionen so verschüttet gehen ...
Buchhinweise August: österreichische Tradition
@ Wolfgang Behrens
da dürften sich jetzt aber ein paar Österreicher auf den Schlips getreten fühlen. Man kann ja viel über die Österreicher sagen, ihnen aber eine gewisse Tradition des Theaterspiels abzusprechen, ist schon eine gewagte These. Wenn Sie schon eine österreichische Tradition des Schauspiels nicht gelten lassen wollen, wie Stadelmaier ja anscheinend auch, was ist dann mit Tilla Durieux, Peter Lorre, Paula Wessely, Elisabeth Orth, Elisabeth Trissenaar, Erika Pluhar, Paulus Manker, Peter Simonischek, Peter Kern, Klaus Maria Brandauer, etc. etc. Haben die alle in Deutschland Theaterspielen gelernt? Was ist mit dem Max-Reinhardt-Seminar? Gehen da nur Deppen hin? Man kann vom Burgtheater halten was man will, aber da stehen tatsächlich hin und wieder auch Österreicher auf der Bühne, auch wenn sie öfters Deutsche spielen. Fahren Sie mal hin Herr Behrens.
Buchhinweise August: eine Art Biotop
Ja, ja, ja ... Sie haben natürlich recht, pardon! Da war eine (misslungene) Pointe zuviel. Wobei ich da noch einmal differenzieren würde: Die Nestroy-Tradition ist das eine, ob aber und wie genau Tilla Durieux, Peter Lorre, Paula Wessely, Elisabeth Orth, Elisabeth Trissenaar, Erika Pluhar, Paulus Manker, Peter Simonischek, Peter Kern, Klaus Maria Brandauer einen spezifischen Ton ausbilden, einen Burgtheater-Ton sozusagen, dem wäre noch nachzugehen. Das mischt sich mittels Schauspieler-Diffusion doch auch ziemlich mit den bundesdeutschen Tradtionen. Das DDR-Theater hingegen war über eine recht große Zeitspanne eine Art Biotop.

Und nochmals sorry! Ich bekenne hier sogar, ein großer Nestroy-Fan zu sein. Insofern unverzeihlich.
Buchhinweise August: Was wird verteidigt?
Verehrter Herr Behrens,
was also verteidigen Sie gegen Stadelmaier, Dorn, Zadek, Peymann und Breth (er nennt noch Stein und Grüber)? Er hat ja ein Buch über Schauspieler veröffentlicht, da muss Rimini Protokoll nicht vorkommen. Metapher als Metapher: ist Willy Brandts Warschauer Kniefall monarchistisch? Ist es die in Österreich (!) gebräuchliche Formel: "Zum Niederknien!" Und was die Spezifik angeht, hat man Ihnen bereits geantwortet. Ich ergänze: ist Libgart Schwarz weniger österreichisch als Harfouch DDR-spezifisch? Ist es Wolfgang Hübsch weniger als Ulrich Mühe (oder Gudzuhn, oder Dieter Mann)? Und waren Karl Paryla und Wolfgang Heinz nicht beides zugleich - Repräsentanten eines österreichischen und eines DDR-spezifischen Schauspielstils? Wie auch immer: der geballte Hass, der Stadelmaier aus der nachtkritik entgegenschlägt, scheint mir unangemessen angesichts Dutzender Kritiker, die eine Akkreditierung mit einem Befähigungsnachweis verwechseln und keine zwei deutschen Sätze in Folge formulieren können. Nur darum ging es mir.
Buchhinweise August: jenseits des einzig wahren Kunstbegriffs
Lieber Herr Rothschild,

ich hoffe, dass Sie mich nicht zu den Kritikern zählen, die keine zwei deutschen Sätze schreiben können …

Ich glaube nicht, dass aus meinen dürren Zeilen zu Stadelmaiers Buch geballter Hass spricht, einiges darin nötigt mir ja durchaus Respekt ab, und ich habe das auch so geschrieben.

Was aber stimmt: Ich bin sehr skeptisch gegenüber dem engen, sagen wir nicht: Theater-, sondern: Kunstbegriff Stadelmaiers. Der geballte Hass, mit dem er mitunter auf das nicht seinem Begriff Entsprechende losgeht, ist mir nicht angenehm. Wenn Sie's individualhistorisch aus meiner Psychologie begründet haben wollen: Einige Texte, die Stadelmaier zu Schleef verfasst hat, empfand ich als entwürdigend (in einer Glosse hat er beispielsweise konsequent von "das Schleef" geschrieben und Schleef so gewissermaßen zu neutrumisieren/neutralisieren und zu vertieren versucht). Diese Art der Vernichtungskritik ist Stadelmaier bis heute nicht fremd. Die ästhetischen Bedingungen, unter denen bestimmte Künstler antreten, nimmt er dabei absichtsvoll nicht zur Kenntnis, sondern beharrt auf seinem als dem einzig wahren Kunstbegriff. Ich habe darüber schon einmal etwas gesagt: http://www.nachtkritik.de/index.php?option=com_content&view=article&id=4578&catid=315&Itemid=105

Was den Monarchisten betrifft: Ich unterstelle Stadelmaier natürlich nicht, dass er den alten Kaiser Wilhelm wiederhaben will. Ich wende nur seine eigenen Metaphern an: Er schreibt ja von den Schauspielern als Königinnen und Königen, und er spricht süffisant von der "demokratisierten Größe – also die Größe, die in der Demokratie, in der Republik gleichgewichtsempfindlicher Gemüter (und das sind wir alle) einzig gilt: Keine Extraluftwürste!"

Und, ja, ich vermute stark, dass Mühe, Gudzuhn, Mann in einer DDR-spezifischen Tradition stehen (ersterer vielleicht am wenigsten), die spezifischer ist als die österreichische der Libgart Schwarz. Ich habe Libgart Schwarz vor allem an der Schaubühne erlebt: Von der Sprachfärbung abgesehen, habe ich da wirklich nichts sonderlich Österreichisches erkannt. Bei den DDR-Spielern hingegen gibt es - jetzt wird's natürlich sehr vage und angreifbar! – eine Tradition des zeigenden und verfremdenden Spiels, die sich m.E. schon von dem Spiel der westdeutschen Schauspielerkönige unterscheidet. Zadek hat das in seiner Autobiographie sehr schön beschrieben.

Paryla, Heinz: Die stehen an der Wiege der DDR-Tradition und haben sie mitgebildet. Es wäre wahrlich nicht klug zu behaupten, der DDR-Stil sei voraussetzungslos entstanden. Aber er hat in den Jahren der Teilung und Isolation etwas Eigenes hervorgebracht. Und ist es nicht schade, dass Stadelmaier das nicht anhand z.B. von Inge Keller oder Jutta Hoffmann beschrieben hat?
Buchhinweise August: nicht ernst zu nehmender Monarchie-Begriff
Was den Monarchie-Begriff anbelangt: Stadelmaier kommt einmal zu einer etwas bizarren Einschätzung des Wiener Burgtheaters.
"Und (Gert Voss) war seitdem ein Liebling und Held in der kakanisch monarchistischen Theaterrepublik Österreich." (S.79)
Allerdings würde ich die Formulierung nicht allzu ernst nehmen. Der Kritiker hat sich ein wenig von seinem Gedankenstrom hinreißen lassen.
Buchhinweise August: mehr Sprach- als Gedankenstrom
@8
Mich stört eher, dass es mir oft scheint, als sei es mehr der Sprachstrom, als der Gedankenstrom, der Stadelmaier hinreisst. Seine ellenlangen Komposita haben oft etwas Gewundenes, gesucht Kerr-Epigonales. Er ist ein Sprachspieler, der sich spreizt, kein Gedankenspieler. Und dazu nicht einmal ein Sprachspieler von Gottes Gnaden, sondern einer, dessen Sätze schwitzen und sich verrenken.

Stadelmaiers jüngste "Homburg"-Kritik zur Salzburger Breth-Inszenierung fand ich besonders problematisch: gut beobachtet und beschrieben des Prinzen leichtfertiges Spiel mit dem Tod der anderen; bedenklich aber das Lob des Kurfürsten, das auf ein Lob der Unterwerfung hinausläuft. Bedenklich und bezeichnend in einer Zeit, wo der starke Staat, die zunehmende Verstaatlichung vieler Lebensbereiche (bei komplementärer Entmündigung der Landeskinder - dies ist eine bewußt gewählte Metapher) wieder zur großen Sehnsucht des Zeitgeistes wird. Dazu passt in der Wirklichkeit, dass über 20 % der Jugendlichen DDR und Drittes Reich positiv beurteilen; in Stadelmaiers Kritik, dass er das Lob des Kurfürsten als etwas völlig Neues in der Rezeptionsgeschichte des Stückes hinstellt und unterschlägt, dass dies die gängige Interpretation in Diktaturen war. Wäre er da ehrlich gewesen, wäre sein ganzer Text ein Ding der Unmöglichkeit gewesen.

Schließlich: die Spiralblock-Affäre in Frankfurt vor einigen Jahren. Ich fand es damals unmoralisch, dass die ganze Theaterkritiken lesende Nation in den Zeugenstand zitiert wurde, nur weil einem Theaterkritiker in einer Theateraufführung sein Spiralblock entrissen wurde. Was ist denn der Gegenstand einer Theaterkritik: die Aufführung oder der Kritiker?
Und es war nicht einmal der Umstand, dass der Kritiker sich selbst zum Gegenstand der Beschreibung macht, den ich als unseriös und unprofessionell empfand, sondern der Ton, den er wählte: den Ton einer justiziablen Anklageschrift laesae maiestatis. Vom Stück war in dieser "Kritik" nicht mehr die Rede.
Buchhinweise August: funktionstüchtiges Archiv
@Guttenberg:
Politisch radikal ist Stadelmaier nicht, da kann ich Sie beruhigen. Der schwäbische Kritiker ist ein Anhänger vom ehemaligen BaWü-Ministerpräsidenten Erwin Teufel. Vor etwa einem halben Jahr stand eine Hommage auf Teufel in der FAZ, geschrieben vom hochentzückten Stadelmaier, der wegen dieser schlichten Person sein sprachliches Virtuosentum voll ausschöpfte.
Ich glaube nicht, dass sich Stadelmaier in seiner Darstellung der Spiralblock-Affäre als Majestät betrachtete. Thomas Lawinky hat damals seinen ruppigen Charme ausgelebt und sein Celebrity-Reservoir entdeckt. Nun, Stadelmaier kann das Mitmachtheater nicht ausstehen – ebenso wenig wie das sogenannte Regisseurstheater Castorfscher Provenienz, dessen Wurzeln Stadelmaier im Osten ausmacht. Das mag auch ein Grund sein, warum in seinen „Liebeserklärungen“ keine Ost-Schauspieler zu finden sind. Vielleicht sind nach Stadelmaiers Ansicht alle ostdeutschen Schauspieler immer noch vom DDR-Regietheater infiziert. Guttenberg, lesen Sie am besten den Beitrag von Esther Slevogt über Stadelmaiers Vortrag im Schloss Neuhardenberg von 2010. Nachtkritik hat ja ein recht funktionstüchtiges Archiv.
Buchhinweise August: Intellektuelle und die Macht
Lieber Flohbär,
ob Stadelmaier politisch radikal ist oder nicht, ist mir herzlich egal. Las damals übrigens auch das Panegyrikon auf Teufel und war schon damals not amused, wie sich die Intellektuellen wieder mal an die Macht ranranzen.
Nein: was mich anwidert, ist der Zeitgeist, der wieder mal mit der Option des starken Mannes oder Staates flirtet und es gleichzeitig für richtig hält, liberale Grundwerte zu schmähen (noch mit dem Präfix "neo" getarnt). "In Deutschland ist es wieder mal soweit" dichtete, glaube ich, Walter Mehring 1932.
Es gibt nichts Widerlicheres als Intellektuelle, die die Macht adorieren.
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