Freiheitstänzer

von Charles Linsmayer

Altdorf, 18. August 2012. 2008 hat Volker Hesse mit Urner Laien im Altdorfer Tellspielhaus aus Schillers "Wilhelm Tell" ein eindrückliches Agitprop-Drama gemacht: auf einer den Zuschauerraum der Länge nach überspannenden Holzbühne, mit eindrücklichen Massenszenen und einem Konzept, das die Frauen in den Vordergrund stellte, die Männer zu ohnmächtigen Versagern stempelte und nach Gesslers Ermordung die tollwütigen Weiber über den Toten herfallen und den Tyrannenmörder hechelnd ins Abseits treiben ließ, weil ja bekanntlich die Revolution ihre Kinder frisst.

2012 hat Hesse es nochmals wissen wollen, und bis zur Premiere vom Samstagnachmittag war die Spannung groß, ob es ihm im Rahmen der zuletzt alle vier Jahre stattfindenden Festspiele gelingen würde, am gleichen Ort, mit dem gleichen Stück und mit dem gleichen, allerdings um etliche jüngere Neuzugänge ergänzten hundertköpfigen Laienensemble eine ganz neue Aufführung zu erarbeiten.

tell-altdorf5 280 judith schlosser hNur immer scheen de Wände na: Die Altdorfer Tell-Spieler © Judith Schlosser

Volksauflauf zwischen Stahlwänden

Schon die ersten 15 Minuten zeigen, dass Hesse anders an das Stück herangegangen ist als 2008. Die Bühne wird von zwei riesigen gebogenen, leicht rostigen Stahlwänden dominiert, die etwas Bedrohliches und Gewalttätiges signalisieren. Aus der nach hinten sich verengenden Öffnung zwischen den zwei runden Wänden treten einzeln oder in Gruppen die Protagonisten hervor, blicken einen Moment ins Publikum, um sich dann links und rechts den Wänden entlang rückwärts zu tasten. Ein eindrücklicher Auftakt, der nebst aller Tragik auch mit dem beliebten Urner Volkslied "Zoge am Boge" spielen dürfte, dessen Refrain lautet: "Nur immer scheen de Wände na".

Auf einmal aber bricht ein halbnackter Mann in die Szene, kämpft sich, wiederholt an die Wände geschleudert, in den Vordergrund und bittet die Anwesenden, die sich inzwischen zu einem Volksauflauf formiert haben, kniend, ihn über den See zu setzen. Es ist Baumgarten, der den Landvogt erschlagen hat und schließlich von Tell in Sicherheit gebracht wird. Längst aber sind seine Verfolger über das Dorf hergefallen und haben unter den Bewohnern ein Blutbad angerichtet – sodass das dritte Bild, als Gertrud Stauffacher ihren Mann dazu auffordert, der Gewalt ein Ende zu setzen, inmitten einer mit Opfern übersäten Szenerie stattfindet.

Häupter voll Blut und Wunden

Es sind diese Massenszenen, die, wie 2008 choreographiert von Graham Smith, der Aufführung ihre Wucht geben: wenn die Urner die ihnen auferlegte Fronarbeit zu einer rhythmisch machtvoll gesteigerten Ballettszene machen, wenn die Männer sich nächtlich in ihren weißen Kapuzen auf dem Rütli versammeln, wenn die Altdorfer Mädchen tanzend und singend in den Ausgang gehen und von den Besatzungssoldaten vergewaltigt werden, wenn das Volk beim Apfelschuss nur mühsam in Schach gehalten werden kann, wenn die Frauen den toten Gessler mit lasziven Bauchtanzbewegungen verhöhnen und die Bevölkerung am Ende tanzend in Siegesstimmung verfällt.

Jürg Kienberger hat dem Ganzen den Choral "Oh Haupt voll Blut und Wunden" unterlegt, setzt an manchen Stellen ein Xylophon ein. Den hämmernden und bedrohlichen Rhythmus, der die Aufführung prägt, lässt er von zwei Musikern mit Holzgriffen auf den donnernden und hallenden Eisenwänden erzeugen.

Brillant choreographierte Gruppenauftritte

Hesse hat weit mehr Text als 2008 gestrichen und erzählt die Geschichte im Grunde weit eindrücklicher mittels Körpersprache – der Körpersprache einzelner, aber auch der Körpersprache von brillant choreographierten Gruppenauftritten – als mit den Dialogen, die nicht besser sein können, als es mit Laien zu erreichen ist, die aber immerhin von allem Pathos und aller gekünstelten Theatralik frei sind und bis auf die von einem Deutschen besetzte Rolle des Landvogts die schweizerische Herkunft der Beteiligten verraten.

tell-altdorf1 560 judith schlosser hKörper in Bewegung: Choreographien von Graham Smith © Judith Schlosser

Gertrud Stauffacher, Hedwig Tell und Berta von Bruneck sind, obwohl die Frauen auch diesmal dominieren, längst nicht mehr so aggressiv-männerfeindlich wie 2008, und bei den Männern imponieren die Darsteller des Stauffacher, des Walter Fürst und des greisen, am Ende dem Wahnsinn verfallenden Attinghausen weit mehr als der etwas farblose, wenig revolutionär wirkende Tell.

Anklänge an den Arabischen Frühling

Die Überraschung des Abends ist im Übrigen nicht die Apfelschussszene, die gut noch etwas mehr konkrete Anschaulichkeit hätte vertragen können, sondern die Ermordung Gesslers in der Hohlen Gasse. Da kommt der Landvogt zur Gaudi des Publikums nämlich tatsächlich hoch beritten zu Pferd daher und fällt, nachdem er die um das Leben ihres Mannes bettelnde Frau und ihre zwei Kinder abgewimmelt hat, tot aus dem Sattel, während das Pferd zufrieden hinter die Blechwand zurücktrottet. In diesem Moment erinnert eine gespenstische Einlage an den Arabischen Frühling, der ansonsten, anders als angekündigt, bis auf ein paar Kopftücher und die erwähnte Bauchtanzeinlage nicht konkret thematisiert ist, aber natürlich in den Köpfen des Publikums präsent sein dürfte.

Was nach fast drei Stunden in dem heißen Festspielsaal in Erinnerung bleibt, ist eine Inszenierung von einmaliger Verve und Wucht, eine Laienaufführung, wie sie in dieser Professionalität und Stimmigkeit, in dieser Leidenschaftlichkeit und rhythmischen Kraft, in dieser choreographischen Präzision und bildlichen Homogenität zur Zeit wohl niemand außer Volker Hesse zustande bringt.

Wilhelm Tell
von Friedrich Schiller
Tellspiele Altdorf 2012
Inszenierung: Volker Hesse, Choreographie: Graham Smith, Bühne: Stephan Mannteuffel, Kostüme: Diana Güven, Musik: Jürg Kienberger, Licht: Rolf Derrer, Regieassistenz: Rita Kälin
Mit: über 100 Laiendarstellern aus Altdorf und Umgebung

www.tellspiele-altdorf.ch



Hier entlang zur Nachtkritik von Volker Hesses 2008er Wilhelm Tell in Altdorf.


Kritikenrundschau

Volker Hesses Bezugnahmen auf den Arabischen Frühling seien "nicht bloß verblüffend, sondern auch stringent und nur selten des Guten zu viel", schreibt Andreas Klaeui für die Neue Zürcher Zeitung (20.8.2012). "Die Übertragung in einen orientalisierenden (teilweise auch judaisierenden) Bildraum" erlaube Hesse "deutliche Zeichen zu setzen bei Einsichten, die im Bekannten vielleicht weniger klar zu erkennen wären." So schildere die Inszenierung sehr genau und mit Gespür für Ambivalenzen, "dass ein Freiheitskampf mit Opfern verbunden ist und kein Trachtenfest ist". Hesse finde "starke, beklemmende Bilder für Repression und Willkür". Dass mancher im Ensemble etwas sehr "schauspielert", ist für den Kritiker leicht zu verschmerzen. Es werde allemal mit "Herzblut" gespielt. Fazit: "In dieser Unmittelbarkeit, der körperlichen Wucht der Massenszenen, der Ambivalenz ihrer Deutung gelingen den Altdorfern zweieinhalb eindringliche Theaterstunden und sogar – was auch im Berufstheater nicht zum Alltag gehört – Momente tiefster, echter Berührung."

 

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