Mächtige Männer im Rock

von Wolfgang Behrens

Berlin, 31. August 2012. Gleich zu Beginn verkünden es die Zuspielstimmen zweier Kinder: "Der Chor der Ältesten geht ab und kehrt nicht wieder." Was nicht ganz stimmt, er war gar nicht erst da. Der Chor ist nämlich gestrichen. Fast. Denn der Chor als Instanz scheint noch da zu sein. Er sitzt dem unausweichlichen Schicksal gegenüber, das auf der (ansonsten leeren) Bühne von Katja Haß als nach hinten halfpipe-artig steil ansteigende Rampe ins Bild gesetzt ist, gegen die sich herrlich anrennen lässt. Wer da hinauf und das Schicksal bezwingen will, der rutscht unweigerlich wieder herab. Auf der anderen Seite der Halfpipe aber sitzt der Demos, da sitzen wir. Wir sind der Chor.

Der unsouveräne Souverän

Der Regisseur Stephan Kimmig hat sich für die Spielzeiteröffnung am Deutschen Theater der Geschichte des Labdakiden-Geschlechts angenommen und dabei den Griff ins Große gewagt. Gleich vier antike Tragödien finden sich in "Ödipus Stadt" (in der nüchternen, modernem Sprachduktus sich anschmiegenden Neuübersetzung von Gregor Schreiner) zur Trilogie zusammengespannt: Zuerst der "König Ödipus" des Sophokles, die "Sieben gegen Theben" des Aischylos und "Die Phönizierinnen" des Euripides als Mittelstück, abschließend die sophokleische "Antigone". Was nach einem Mammutprojekt klingt, präsentiert sich überraschend schlank – zweieinhalb pausenlose Stunden dauert der Antiken-Digest. Für einen Chor bleibt da keine Zeit.

oedipus1 560 arno declair hWeiblicher Kreon: Susanne Wolff  © Arno Declair

Man muss den Verlust des Chores nicht reflexartig beklagen. Doch wenn er fehlt, dann fehlt dem Spiel der Mächtigen ein Gegenüber. Im Interview mit Peter Laudenbach für das Stadtmagazin "tip" hat Kimmig die Situation im "Ödipus" folgendermaßen charakterisiert: "'Ödipus' fängt damit an, dass die Pest in Theben wütet, da sterben Hunderte von Leuten. Der Handlungsdruck für die Politik ist enorm. Und dieser Druck bleibt die ganze Zeit über bestehen." Doch eben von diesem Handlungsdruck ist in "Ödipus Stadt" nichts zu spüren: Die dringliche, die mahnende, die kontrollierende Stimme der Öffentlichkeit ist eliminiert. Wir sind der Chor, und wir schweigen.

Ohne den Resonanzraum des Chores bleiben die Mächtigen unter sich. Das indes führt wohl zu der eigentlichen Intention des Abends: Er versucht sich gewissermaßen an einer pathologischen Symptomatik der Macht und der Mächtigen. Ulrich Matthes als Ödipus etwa: Im Wechselbad von Jähzornanfällen und lauernder Panik bangt er um seine Autorität. Dem im Appell an das Publikum mit großem Aplomb behaupteten Herrschaftsanspruch steht dabei die latente, immer wieder hervorbrechende Unbeherrschtheit des Charakters gegenüber: Der Souverän agiert nicht souverän.

Wimmernde Bündel, stylishes Gegenlicht

Matthes führt das in seinem Spiel mit wünschenswerter Deutlichkeit vor – schmerzlich berührt dabei indes, dass dieser großartige Ausnahmedarsteller hier mitunter auf der Kippe zur Manier steht: die weit aufgerissenen Augen, der schreckensstarr geöffnete Mund drohen ins chargenhaft Penetrante abzudriften. Groß ist Matthes dann wieder im Zusammenbruch, wenn seinem Ödipus alle Verstrickungen offenbar geworden sind und sich sein Jähzorn gegen sich selbst wendet – übrig bleibt ein irre wimmerndes Bündel.

Fast läppisch mutet der sich anschließende Bruderkrieg der Ödipus-Söhne um die Königswürde an. Elias Arens als Eteokles darf minutenlang im stylishen Scheinwerfer-Gegenlicht die große Trommel rühren und Kriegsstimmung verbreiten: Er macht das wirklich virtuos, ein Stomp-Engagement wäre ihm sicher – hier aber wirkt es nur wie ein wohlfeiler Showeffekt. Das Rededuell mit seinem Bruder Polyneikes (Moritz Grove) um Krieg und Frieden, Macht und Tod hat dann etwa die Dringlichkeit eines Streits um einen Radiergummi.

Der letzte Herrscher dieser Aufführung freilich, der hat es in sich. Susanne Wolff ist Kreon (dass durch die Bank alle Darsteller in Unterhemd und Rock agieren, ist ein hübscher Einfall, durch den diese gegengeschlechtliche Besetzung ganz unaufdringlich zu einer Selbstverständlichkeit wird). Wie Susanne Wolff aber die Entwicklung Kreons vom Ratgeber zum Tyrannen Gestalt werden lässt, das sollte man sich anschauen.

Die Macht und ihr Zerrbild

Als Gegenspieler und Mahner des Ödipus ist sie, äußerlich nahezu unbewegt, von einer schneidenden und apodiktisch klaren Festigkeit, in die allenfalls die Ungeduld der Vernunft einige grimmigere Töne hineinmischt. Angesichts der Schicksalsschläge, die Kreon im zweiten Teil hinnehmen muss, zeigt Susanne Wolff dann anrührend verletzliche Seiten des Staatsmannes, ehe sie im Moment der Machtaneignung ostentativ ins Grobschlächtige wechselt. Susanne Wolffs Kreon muss sich gleichsam ein hartes, ja, fast prolliges Gebaren (bis in die Aussprache hinein: "nischt" und "Könisch") überstülpen, um die Herrscherrolle auszufüllen. Sie trainiert sich gleichsam in Überheblichkeit, gefällt sich in den Posen der Macht, die sie während der Ausübung zugleich parodiert. Die Macht und ihr Zerrbild fallen in ihrer Darstellung in eins, werden ununterscheidbar – eine zynische Pointe.

Da Susanne Wolff in der aufrecht-zornigen Antigone Katrin Wichmanns (der das Kunststück gelingt, auf gänzlich pathos- und ironiefreie Weise mit ihren Sätzen identisch zu sein) eine Widersacherin auf Augenhöhe findet, ist der letzte Teil von Kimmigs Theben-Trilogie tatsächlich von enormer Spannung getragen. In den Teilen zuvor hat man sie noch sehnsüchtig vermisst.

Macht, Gewalt und Demokratie sollen zentrale Themen der neuen Spielzeit am Deutschen Theater sein. Über Demokratie war in "Ödipus Stadt" nicht viel zu lernen, da hätte es wohl doch des Chores bedurft. Ein mittlerweile zum Allgemeinplatz gewordenes Diktum des bedeutenden Kulturhistorikers Jacob Burckhardt aber, das nimmt man von diesem Abend schon mit: "Und nun ist die Macht an sich böse, gleichviel wer sie ausübe."

 

Ödipus Stadt. Die Theben Trilogie
nach "König Ödipus" von Sophokles, "Sieben gegen Theben" von Aischylos,"Die Phönizierinnen" von Euripides, "Antigone" von Sophokles
Übersetzt von Gregor Schreiner
Regie: Stephan Kimmig, Bühne: Katja Haß, Kostüme: Johanna Pfau, Musik: Michael Verhovec, Licht: Matthias Vogel, Dramaturgie: John von Düffel.
Mit: Ulrich Matthes, Susanne Wolff, Barbara Schnitzler, Sven Lehmann, Elias Arens, Moritz Grove, Katrin Wichmann, Felicitas Madl, Thorsten Hierse. Kinderstimmen: Selma-Lou Haß, Tilly Barnes.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Das ist die Generation Stéphane Hessel, also zwischen 24 und 94, zweieinhalbtausend Jahre jung", schreibt Peter von Becker im Berliner Tagesspiegel (2.9.2012). Das Ensemble des Deutschen Theaters und Stephan Kimmigs Inszenierung entdecken aus Sicht dieses Kritikers in der Ödipus-Geschichte von Anfang an die zugrundeliegende Kinder-Tragödie. "Das Unheil beginnt früh und pflanzt sich fort. Auch Katrin Wichmann als Ödipus' Tochter Antigone, anfangs fast ein blondes Girlie von heute, zeigt die Rebellin als trotziges Kind (...) unbelehrbar, unbeirrbar." Die Besetzung von König Kreon mit der Schauspielerin Susanne Wolff sei schlicht "ingeniös" in der Emotionalität der Wirkung. Und der "Matthes'sche Ödip'" erst: "halb tragischer Rumpelstilz, halb Schmerzensmann". Von Becker zufolge voller "Pathos, nicht Pathetik". John von Düffel habe für Kimmig aus den drei, dem Abend zur Grunde liegenden Tragödien habe eine schnell packende, dicht verbundene Trilogie gesponnen. Die Tragödie des Ödipus verbinde sich hier in drei pausenlosen Akten und kaum zweieinhalb Spielstunden zur Gesamttragödie des Mannes Ö. "Es ist ein Familienfluchdrama wie das der Atriden, ein Inzestkrimi, ein Kriegsstück und am Ende der Diskurs über Staatsraison, Religion, Kinderglaube (...) – auch über Recht und Freiheit, Schuld und Sühne." Und nichts komme, so der Kritiker, zu kurz, trotz aller Kürzungen in den Texten. Das macht für ihn die Intelligenz dieses Abends aus.

"Je beliebiger die szenischen Mittel, desto aufgekratzter und effektverliebter werden sie vorgeturnt", resümiert Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (3.9.2012) und unterstellt Kimmig und seinem Dramaturgen John von Düffel "Desinteresse an der spezifischen Form der antiken Tragödie zugunsten der zügigen Plot-Abwicklung". Wie eine gegenwärtige Erzählung des antiken Stoffes aussehen kann, führe allerdings Ulrich Matthes als unschuldig schuldig gewordener König Ödipus "atemberaubend" vor. Wir folgten ihm bei "seiner Denk- und Erkenntnisbewegung in den Abgrund". Wenn Matthes als Ödipus seine Frau Iokaste "eher grob und heftig" küsse oder wenn er im "Nachgenuss des Triumphes" mit "aufblitzenden Augen" erzähle, wie er einst einen Reisenden erschlagen habe, wolle man "beim Zusehen vor Faszination und Beklemmung die Zeit anhalten". Matthes spiele das "unsentimental, genau, auch hart, ohne jede vorgeführte Ergriffenheit". Wie er langsam verstehe, sich "Wort für Wort, Gedanken für Gedanken in die Erkenntnis seiner Verbrechen vorarbeitet", ohne seine Figur "alltagspsychologisierend zu verkleinern", wie er auch diesen Sturz in den Abgrund mit "größter Nüchternheit" vornehme, bis es "völlig selbstverständlich" erscheine, dass er gar nicht anders könne, als sich die Augen auszustechen - "das ist so dicht, klar und in jedem Moment erschütternd, dass man unmittelbar versteht, wofür die Griechen das Theater erfunden haben."

Für Irene Bazinger von der FAZ (3.9.2012) lebt Kimmigs Inszenierung von der Demut gegenüber den antiken Stoffen und einem eindrucksvollen Ensemble, von dem sie besonders Susanne Wolff als Kreon, Ulrich Matthes in der Rolle des Ödipus, Barbara Schnitzler als zerrissene Iokaste, Sven Lehmann als wohlfrisierter Teiresias hervorhebt. "Als hätte Kimmig an den dem Heraklit zugeschriebenen Satz gedacht, dass alles fließt, hält er die Handlung in dauernder Bewegung, wofür er individuelle Reflexionen und allgemeine Erwägungen durchweg gelöscht hat. Einerseits trivialisiert diese reine Konzentration auf den dramatischen Lauf die Aufführung ein wenig, andererseits verdichtet sie die inhaltlich kontroversen Positionen der Protagonisten."

"Antike hautnah", schreibt Hans Dieter Schütt im Neuen Deutschland (3.9.2012). Das sei die "bittere, bohrende Nachricht" dieses Abends: keiner möge reden von "geschichtlicher Aufwärtsbewegung" - Geschichte sei "ein Blutsturz, ist quasi die Duschkabine", in der sich die "regierenden Psychopathen aller Jahrhunderte und Ideologien" rot einschlammten für die "Hitze ihrer Massen-, Klassen-, Rassenkämpfe". Schütt ruft dem Leser zu: "Also, Mensch: bleib draußen, bleib einsam, bleib frei", ... "träum und denk nicht dauernd ferne Menschheit...: sieh und fühl die Nahen, die wirklich erreichbar sind". Das fasse Kimmig in eine "packende, rhythmisch stimmige" Inszenierung ohne "Ausschmückungen", in eine "Statuarik, die aber nie zur Pose erstarrt". Die Aufführung trommele, brülle, renne, hechele, sie spiele auch mal den "spillrigen Komiker"; vor allem aber richte sie immer wieder "ihre Blicke" ins Publikum, wo "wir Thebaner sitzen, Schweigende, Hörende, seit Jahrtausenden alles Wissende, doch nichts wirklich Begreifende, verstrickt noch immer in den Krieg, der begann und nie aufhörte."

"Ist das plump und plakativ?" fragt angesichts des Aufrufs zur Revolte am Ende Dirk Pilz im Feuilleton der Dumont-Blätter Berliner Zeitung/Fankfurter Rundschau (3.9.2012), und findet: "Auch". Vor allem aber ist dieser Schluss aus seiner Sicht eine totalitäre Geste. Denn mühsam buchstabiere Kimmig zunächst "die verwickelte Dialektik aus Gewalt und Gerechtigkeit durch". Um dann in diesem Totalaufruf zu münden? Der Kritiker führt das schließlich auf jene Wand zurück, gegen die an diesem Abend alle Akteure anzurennen hätten. "Sie ist, überdeutlich, das Symbol eines Schicksals, das als unveränderlich, auf Merkeldeutsch: alternativlos genommen wird. Deshalb ist an diesem Abend der Chor gestrichen: Die distanznehmende, die den antiken Vorlagen eingeschriebene tragödienkritische Stimme ist eliminiert, weil das Handlungs- und Denkfeld nur noch zwei Richtungen kennen soll: Schicksalergebenheit oder Rebellion. Gewalt oder Gerechtigkeit. Macht oder Ohnmacht. Die antike Tragödie ist das Dokument der Durchbrechung solcher propagandistischer Dualismen, das kritische Plädoyer für die Einübung in Demokratie. Das also wurde gestrichen? So gesehen ist diese Inszenierung ein Rückschritt: zurück ins Vordemokratische. Um die Demokratie noch einmal neu zu erfinden? Oder als Abgesang?"

Matthias Heine schreibt in der Welt (4.9.2012) eigentlich müsse der Abend "Kreon" heißen, denn dieser sei der einzige von der ersten bis zur letzten Szene "nahezu Daueranwesende". Susanne Wolff sei die "wahre Hauptdarstellerin dieses Abends". Es tue wohl, den von ihr gespielten Kreon "mal wieder" als "Tragödiengestalt statt als Witzfigur" zu sehen. Sven Lehmanns Seher Teiresias wachse zur zweiten Hauptfigur. Er fluche "den Hass des alten thebanischen Wutbürgers gegen den dekadenten Emporkömmlingsclan des Ödipus" heraus. Eine "Rechtfertigung aller Grantler und Online-Trolls": Schlechte Laune sei manchmal die "einzige angemessene Antwort auf ein aus den Fugen geratenes Staatswesen". Ulrich Matthes stelle Ödipus ohne den "geringsten Beeindruckungsverlust" dar. Manche Figuren kämen bei der Kurzfassung der vier Dramen naturgemäß zu kurz. Die Antigone der Katrin Wichmann bleibe eine "beeindruckende Nebenfigur", an der sich erweise, dass die Figuren viel aktueller wirkten, wenn man sie nicht aktualisiere.

Barbara Behrendt schreibt in der tageszeitung (4.9.2012): Beziehe man "Ödipus Stadt" auf heute, laute das Fazit: Das Volk habe nichts zu melden, denn der Chor sei abgeschafft. Die Kurzfassung habe Nachteile. "Den Fall des Ödipus" in 50 Minuten zu erzählen, schaffe selbst ein "phänomenaler Schauspieler wie Ulrich Matthes" nicht. Er greife deshalb zu "Bildern" "nah an der manierierten Pose". Obwohl oft an der Rampe deklamiert werde, hätten Kimmig und von Düffel den Fluch der Labdakiden zum "packenden Thriller" verdichtet. Kreons "psychologische Entwicklung" stehe im Zentrum. Susanne Wolff gelinge diese Rolle "eindrücklich". Wenn sie allein die Rede ans Volk probe, stehe da ein Mensch, "der die Macht gewaltvoll am Zügel hält, weil er sich so sehr davor fürchtet, sie zu verlieren". Katrin Wichmann als Antigone stehe Wolff in nichts nach: "Stur, trotzig, unbelehrbar wie ein Teenager" biete sie Kreon die Stirn.

"'Ödipus Stadt' kommt einer Einführung in das antike Theater nahe", schreibt Peter Kümmel in der Zeit (6.9.2012), der Regisseur gehe mit jenen radikalen Raffungen und Kürzungen zu Werke, die Drehbuchautoren als das "Später rein, früher raus"-Verfahren bezeichneten: "Die Kontur der Figuren wird dem flutschenden Schwung der 'Story' unterworfen." Dass die Sache funktioniere, sei Ulrich Matthes zu verdanken, der mit seinem Spiel den Abend zusammenhalte. Matthes' Spiel sei ein Triumph des Spiels über das bloße Erzählen, leider auch über den Rest der Inszenierung, die Krieg als hohl drehenden Erschöpfungstanz zeige und darin eine "beklemmende Trockenheit und Übersichtlichkeit" zeige.

 

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