Erlösung im Dorf der Schmerzen

von Andreas Wilink

Bochum, 7. September 2012. Das Wappentier der Aufführung sitzt vorn links an der Rampe zu Füßen des Regisseurs: ein großer Stoffhund. Er gibt dem Ort, dem anonym bleibenden Dorf, arm und abgelegen im Irgendwo, doch einen Namen: Dogville. Der Vergleich ist gewünscht. Jan Lauwers inszeniert mit seiner Needcompany in "Marketplace 76" eine Gegenansicht zu "Dogville" des Lars von Trier. Das Negativbild einer Gemeinschaft wird ins Positive gewendet. Eine Allegorie. Ein Manifest. Eine Prüfung von biblischem Gewicht – das gilt für beide Modellfälle. Und beide sind auch eindeutig: Spiel. "Only theatre", wie Lauwers ansagt.

marketplace 280h wongebergmann u© Wonge Bergmann/RuhrtriennaleWir erinnern uns: In "Dogville" (2003) markieren Kreidestriche den Ort, die Straßen, die Grundrisse der Häuser. Ein amerikanisches Idyll, getaucht in Studiolicht. Alles ist Kulisse und als solche kenntlich gemacht. Brechtisch. Episch. Anti-illusionistisch. Zum Denken einladend. Der Mensch in dieser Geschichte hat kein Mitleid. In Dogville geht er vor die Hunde. Wie auch die Hauptfigur Grace, die gnadenlos wie Brechts Seeräuberjenny Gerichtstag halten wird. Ein Film zum Gotterbarmen.

Marktplatz des Leid-Wesens

Bei Lauwers in der Bochumer Jahrhunderthalle hingegen ist es eine Art himmelschreiendes Vergnügen. Auch der belgische Performance-Künstler, unterwegs als homo ludens, Gaukler und Vagant, konstruiert eine soziale Versuchsanordnung. Es braucht einige Zeit, um das Personal zu sortieren.

Wohl geht es auf dem Marktplatz dieses Schmerz-Dorfes mit seinen Leid-Wesen munter zu, dass es einem zu bunt werden könnte, aber gleichzeitig arg heftig, nachdem vor einem Jahr eine Gasexplosion 24 Tote, darunter viele Kinder, hinterließ. Zum Jahrestag findet auf dem Platz mit Brunnen, als "Fons Amoris" der Venus geweiht, eine Gedenkfeier statt: Trauerarbeit. Auch um den Erinnerungsmüll zu beseitigen, wie es die unsentimentale Drama-Queen Tracy in einem furiosen Song tut. Doch die Katastrophen nehmen kein Ende: Inzest, Kindesmissbrauch, Tötung, Selbstmord, aktive Sterbehilfe.

Versuchsanordnung in Orange

Signalhaft breitet sich auf der Bühne saftiges buddhistisches Orange aus. In diese Farbe gekleidet sind die Straßenkehrer, die den Zivilisationsrest wegfegen. Zumeist Immigranten, Illegale, Ausländer oder sonst zu kurz Gekommene, gelten sie Lauwers als neue Sklavenklasse. Der Sweeper bekommt einen Kollegen, der aus den Wolken fällt, aber wohl doch eher im Schlauchboot, füllig dekoriert mit aufblasbaren Plastikfischen, strandet. Einer von den Boatpeople. Ein Neger, Schwarzes Schaf und Sündenbock. Mit seiner Stigmatisierung entweicht Druck aus der Gemeinschaft.

marketplace1 560 maarten vanden abeele© Maarten van den Abeele

Das Monster aber lauert in einem anderen: Klempner Alfred, der das Mädchen Pauline verschleppt, sich an ihr vergeht, 76 Tage lang. Später wird er auf allen Vieren das Untier markieren, danach wird er ertränkt, von einer Möwe angeschissen und am Beleuchtungsgalgen aufgehängt, noch später kehrt er zurück. Denn die Toten tanzen mit und singen ihre Lieder, wie in einem mexikanischem Ritual die Knochenmänner.

Kruditäten und Kalamitäten

Einen Moment lang gewinnt die Inszenierung Dichte und Dringlichkeit, wenn auf einem Monitor in der Höhle und Hölle das Opfer Pauline und ihr dem belgischen Marc Dutroux nachempfundene Peiniger im quälenden Clinch liegen. Das indirekte Bild, das Abbild, vielleicht das medial reproduzierte (Fernseh-)Bild packt uns mehr als unmittelbare Anschauung.
Der Klempner hat auch eine Frau, die als seine Mitwisserin zur Buße verurteilt wird. Zugleich bringt sie als erotische Befreierin der Dorf-Männer Heil und Segen und löst den sexuellen Stau. Eine Muttergottheit eben: eine koreanische namens Kim-Ho.

marketplace2 560 maarten vanden abeele© Maarten van den Abeele

Das seine zweieinhalb Stunden ziemlich strapazierende Spektakel ist rührend naiv, inbrünstig wie ein Gospel, auch ein bisschen parodistisch, manchmal etwas unartig und doch ganz brav im Ausbuchstabieren seines Avantgarde-Vokabulars, meistens putzig und lustig, selbst noch in den dargebotenen Kalamitäten und Kruditäten: wie ein Puppenspiel von Kasperle und Company.

Bei Lars von Trier, dem das Dogma eines neuen Stils gelingt, der sich adäquat zu seiner Moral verhält und Form und Inhalt zur Synthese bringt, ist das Ordnungssystem Teil des Unmenschlichen. Bei der Needcompany führt gerade das Unordentliche, Passagere und Konfuse zur humanen, emotional sich gebärdenden Aussöhnung. Im Epilog gebiert die große Mutter ein Riesenbaby mit kollektiver Vaterschaft. Was macht es schon, dass es ausschaut wie ein bombastischer Bonbon-Lutscher. Unser Dorf ist schöner geworden, fruchtbar, kommunikativ, psychisch befreit und sauber. Aber seine Sauberkeit musste durch den Dreck gehen.

 

Marketplace 76
von Needcompany
in englischer und französischer Sprache (mit deutscher Übertitelung)
Regie, Bühne und Text: Jan Lauwers, Komposition: Rombout Willems, Maarten Seghers, Hans Petter Dahl, Kostüme: Lot Lemm, Choreografische Mitarbeit: Misha Downey.
Mit: Grace Ellen Barkey, Anneke Bonnema, Hans Petter Dahl, Julien Faure, Yumiko Funaya, Benoît Gob, Sung-Im Her, Romy Louise Lauwers, Maarten Seghers, Emmanuel Schwartz, Catherine Travelletti, Jan Lauwers, Elke Janssens.

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

Jan Lauwers und seine "Needcompany" erzählten eine düstere Geschichte mit allen erdenklichen Mitteln der darstellenden Kunst, sagt Ulrike Gondorf im Deutschlandradio Fazit (7.9.2012). Und dieses vielfältige Spektrum der Mittel führe zu einer ebenso großen Bandbreite der Effekte auf den Zuschauer. "Emotionale Bewegung, analytische Beobachtung, Spaß am Wortwitz und der theatralischen Ironie, Gelächter - Jan Lauwers und die unglaublich vielseitigen Mitglieder der Needcompany beweisen, dass das alles in einem Stück und beinah im selben Moment Platz hat." Über zwei Drittel des Abends sehe man fantastisches Theater – der letzte Teil sei schwächer und überzeuge in der Schlusslösung nicht recht. "Gruppenarbeiten wie diese sind meist 'work in progress' und vielleicht bei der Uraufführung noch nicht ganz fertig." Der innovativen Kraft dieser Produktion tue das keinen Abbruch.

Einen "sehr menschenfreundlichen und unterhaltsamen Theaterabend" hat Karin Fischer für den Deutschlandfunk (8.9.2012) gesehen. Die dunkle Handlung komme keineswegs schwermütig, sondern nachgerade bunt und leicht daher. "Die kreisförmige Struktur des Stücks, das nach Jahreszeiten abläuft und in dem jeder mal zum Außenseiter wird, beinhaltet auch Längen, das Verhältnis von Songs und Theatertext wirkt in der Mitte des Stückes noch unausgewogen." Aber insgesamt sei das ein Abend, der auf irritierende Art verstörend und zugleich versöhnlich wirkt. "Weil er so scheinbar naiv Gewalt und Liebe zusammenführt."

Ähnlich argumentiert Max Forian Kühlem in der Rheinischen Post (10.9.2012): Mit der Mischung von Momenten "brutalster Härte mit kindlichem Witz", musicalartigem Singsang und Tanz gelinge "eine Aktualisierung von Brechts epischem Theater, die garantiert niemanden kalt lässt". So könne die Dorfgesellschaft "für eine globalisierte Gesellschaft stehen".

"Befremdlich" findet hingegen Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (10.9.2012) den Humor Lauwers. Auch, wenn er den "archaischen kathartischen Witz alter Moritaten und des Grand Guignol" entdeckt, kann er sich nicht recht für die Herangehensweise des Teams ans Thema erwärmen: Das Stück vereinfache. "Aber wie das Ensemble komplexe Fragen von Schuld und Sühne erkennbar macht, das zeugt von vitaler Kraft seiner Bühnenkunst."

"Anders als in früheren Stücken der Needcompany sind die narrativen Knoten des Plots diesmal ziemlich dicht geknüpft", schreibt Hans-Christoph Zimmermann in der Neuen Zürcher Zeitung (11.9.2012). Die immer neuen Wendungen und Facetten der Figuren erschwerten eindeutige moralische Urteile. Zudem lasse die Ästhetik der Needcompany mit (wenig signifikanten) Tanzeinlagen, Liedern zwischen Folklore, Chorsatz und Rocksong, Puppenspiel, aber auch ironischen Brechungen tragische Konsequenz nur in homöopathischen Dosen zu. Am Ende gehe Jan Lauwers "die alte 68er Schindmähre durch". Da werde die Liebe und Vergebung als Lösung der gesellschaftlichen Konflikte gefeiert, wenn die Witwe des Klempners als glückliche heilige Hure ein Luftballon-Riesenbaby als gemeinsames Dorfbalg zur Welt bringe – "dass das nicht funktioniert, dazu muss man nicht einmal die Toten befragen."

"Die dreizehnköpfige Needcompany zieht spiel- und sangeslustig in der Bochumer Jahrhunderthalle Bochum zwischen Tanz und Travestie, Musical und Maskerade, Popsongs und Puppenspiel viele Register: Kirmes der Katastrophen", schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.9.2012). Doch in den Handlungsfäden und dem Cross-over der Mittel verheddere sich die englisch- und manchmal französischsprachige Aufführung auch. "Dass 'Marketplace 76', wie vorab bekundet, auch eine Metapher auf Europa darstellen soll, dem es an Gemeinsamkeit und Solidarität mangele, vermittelt sich nur andeutungsweise." Die Ruhrtriennale mische das Stadttheater, das sie doch hinter sich lassen möchte, hier nur frech und fröhlich auf.

"Jan Lauwers und seine Needcompany zeigen in 'Marketplace 76' zwar ihre gut geübten Tricks, aber oft ohne Magie", so Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (14.9.2012). Die Uraufführung gerate zu einem faulen Déjà-vu. "Nicht nur, dass es im Kern erwartbar um dunkle Sehnsüchte geht", nein, der Hautgout des Selbstgefälligen entstehe durch jene über Jahrzehnte trainierte Devise: "Don"t imagine it - this is only theatre!" Doch diese einst avantgardistische Anti-Illusions-Ansage, zu Beginn wieder stolz ausgerufen, ist längst Konsens beim Publikum. Auf ausgestellte Leidensszenen könne man nur so reagieren kann, "dass man entweder mitfühlt, aber dadurch erklärtermaßen auf sie hereinfällt; oder dass man sie als 'gemacht' abtut. Mit dieser Crux dribbelt Lauwers dramaturgisch ins Leere."

 

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