Sperrmüll der Geschichte

von Esther Slevogt

Berlin, 9. September 2012. Drei Frauen aus drei Generationen: Großmutter, Mutter und Enkeltochter. In neunzig Minuten verhandeln sie Fragen von Nähe und Ferne, Flucht vor- oder zueinander. Und wie beides manchmal ineinander fallen kann. Sie reden darüber, wie der traumatische Fallout der Geschichte des 20. Jahrhunderts auch die Biografien derer immer noch prägt, die heute jung sind. Sie beleuchten, was es heißt, als Jüdin in Deutschland zu leben. "Muttersprache Mameloschn" hat die 1985 im damals noch sowjetischen Wolgograd geborene und in Deutschland aufgewachsene Dramatikerin Marianna Salzmann ihr Stück genannt, das nun von Brit Bartkowiak in der Box des Deutschen Theaters uraufgeführt wurde.

Möbel wie Gebirgsmassive

Die Bühne ist mit lauter alten Möbeln zugestellt. Lampen, Tische, Sofas, Stühle oder Schränke. Zwischen dem sperrmüllreifen Gut begegnet man mit Gabriele Heinz, Anita Vulesica und Natalia Belitski drei höchst gegenwärtigen Frauen, die sich und ihre Figuren hier gegen das Sperrgut der Geschichte zu behaupten versuchen. Manchmal erstarren sie dabei. Mutter Clara (Anita Vulesica) zum Beispiel, wenn sie plötzlich zum Teil einer Stehlampe wird, unter deren Schirm sie eben noch Schutz gesucht hat. Zwischen den Szenen liegen die Frauen manchmal bäuchlings auf dem Tisch, wie Schlachtgut, denkt man kurz.

mameloschn2 560 arno declair hDrei Generationen: Gabriele Heinz als Lin und Natalia Belitski als Rahel im Vordergrund. Hinten rechts: Anita Vulesica als Clara © Arno Declair

Aber manchmal, da lassen sich diese Möbel auch im Überschwang erklimmen wie Gebirgsmassive, auf denen man dann in Form eines Liedes oder einer flammenden Rede sein Gipfelkreuz errichten kann. Oder Kommodenschubladen werden zu Klaviaturen für pianobegleitete Konzerte: in einer Szene, in der Anita Vulesica in einem großen Befreiungsversuch das Gerümpel beiseite zu räumen beginnt, um am Ende einen Schrank zu besteigen, in dem sonst ihre Mutter Lin Tonbänder mit Lebenserinnerungen (und manchmal auch sich selbst) verwahrt.

Jüdische Kultur in der DDR

Der folkloristische Titel ist Programm. "Mameloschn", so nennt die jiddische Sprache sich selbst und übersetzt heißt es eben nicht mehr und nicht weniger als "Muttersprache". Hier nun ist die Sprache der Mütter auch die Sprache, die man nicht versteht. Oder die sich jede Generation selbst erobern muss. Lange und zunehmende verkitscht stand das Jiddische für die vernichtete Kultur der osteuropäischen Juden.

Jiddische Lieder wurden stets mit raunendem Pathos vorgetragen. Oder dem Repertoire des proletarischen Kampf- und Arbeiterliedes zugeschlagen. Von der großen Jiddisch-Sängerin der DDR, Lin Jaldati, beispielsweise, die Marianna Salzmann ganz offensichtlich zur Großmutterfigur Lin in ihrem Stück inspirierte: Auschwitzüberlebende und Kommunistin, die bewusst in die DDR gegangen war, in der Hoffnung, hier würde ein antifaschistischer Staat entstehen. Eine Hoffnung, die spätestens 1953 zerbrach, als es im Zuge des in Prag inszenierten Schauprozesses gegen Rudolf Slánsky und andere jüdische Parteifunktionäre (die am Ende zum Tode verurteilt wurden) auch in der DDR zur Verfolgung so genannter zionistischer Agenten in der SED gekommen war.

Seitdem war Jüdisch-Sein in der DDR zum Spießrutenlauf geworden. Davon erzählt auch Marianna Salzmann in ihrem Stück, die Lin immer wieder bittere Erinnerungsfetzen offenbaren lässt, während sie zugleich ihre kommunistische Biografie gegen Tochter Clara verteidigen muss und will. Clara ist mit dieser Übermacht der mütterlichen Biografie selber nie ganz zu ihrem Recht gekommen. Ersatz für das Ungelebte ihrer eigenen Existenz suchte sie in den Kindern, die dann ihrerseits nichts anderes als die Flucht ergreifen konnten.

Mit lakonischer Poesie

Doch um die konkrete Historie geht es eigentlich nur am Rande. Manchmal sprengen diese konkreten Details das als Traumspiel konzipierte, kleine konzentrierte Drama sogar, in dem sich die Figuren nur selten real begegnen, und in Briefen, Mails und Monologen eher aneinander vorbeikommunizieren: die drei Frauen und ein abwesender Sohn. Weil sie Fragen nach Ort und Zeit aufwerfen, die das Stück dann nicht beantworten kann.

Brit Bartkowiak hat die skizzenhafte Geschichte der drei Frauen mit lakonischer Poesie und vor allem drei starken Schauspielerinnen inszeniert: Da ist Gabriele Heinz als Großmutter Lin, die mit herber Verzweiflung ihre kommunistisch-jüdische Biografie gegen Tochter Clara verteidigt. Anita Vulesica spielt diese Clara selbstironisch und höchst nuanciert als Frau am Rande des Nervenzusammenbruchs (die so auch gut in ein Yasmina-Reza-Stück passen würde).

Und dann ist da noch die junge Natalia Belitski als Rahel, Claras lesbische Tochter, die vor der matriachalischen Hölle ins ferne New York geflohen ist. Sanft lächelnd und mit flirrender, manchmal ins Melancholische kippenden Trockenheit rechtet sie mit Mutter und Großmutter, schildert ihre eigene Sicht auf das Leben und wirft als kleine philosophische Geschmacksverstärker jüdische Witze ins Publikum. Das alles ist sehr angenehm klischeefrei und selbstverständlich als heutiges Familienbild in Szene gesetzt und gut ausbalanciert zwischen Tiefgang, Poesie und Boulevard.

 

Muttersprache Mameloschn (UA)
von Marianna Salzmann
Regie: Brit Bartkowiak, Bühne: Nikolaus Frinke, Kostüme: Caroline Schogs, Musik & Tongestaltung: Thies Mynther, Dramaturgie: Ulrich Beck.
Mit: Gabriele Heinz, Anita Vulesica, Natalia Belitski.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 


Kritikenrundschau

Das Inszenierungskonzept von Brit Bartkowiak diene auf das Zwecklichste dem Stück von Marianna Salzmann, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (11.9.2012). Salzmann schlage einen großen Bogen: "Der Holocaust, die Hoffnung auf den Neuen Menschen, die antisemitischen Säuberungen der Partei in den Fünfzigern, der tabuisierte Antisemitismus in der DDR, die klassenkämpferische Verbrämung der Geschichte, die Anti-Israel-Politik, die Wende mit ihrem DDR-Delegitimationsfuror, die Orientierungslosigkeit und das mit irgendwelchen Zugehörigkeitssehnsüchten und Weltverbesserungswünschen zu stopfende Beliebigkeitsvakuum." All dies werde ohne störende Alarmschlagworte aufgerufen und eingestreut, nicht in die Tiefe verfolgt und nicht bis ins Detail aufgelöst. Dass alle drei Figuren recht hätten, sei Salzmanns Leistung, "dass sie auch noch sympathisch sind, liegt natürlich an den Schauspielerinnen, die herrlich untragisch und geistesgegenwärtig an die Sache herangehen."

Mit "geschickter Einfachheit" entfalte die Dramatikerin Marianna Salzmann ihre Geschichte, schreibt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (11.9.2012). "Die Witz-Ebene ermöglicht es der jungen Dramatikerin, mit jüdischen Stereotypen und folkloristischen Elementen zu spielen – Mameloschn heißt Muttersprache –, um gleichzeitig in collagenhaften Splittern von der Not dreier Leben und den unterschwelligen Prägungen zu erzählen, die von Generation zu Generation weitergegeben werden oder auch mal eine überspringen." Brit Barkowiak pflege bei der Uraufführung des Stückes eine "zurückhaltende Regie" und "hält die glückliche Balance zwischen Traum- und Erinnerungssequenzen und komödiantisch knallenden Konflikten."

Ein "opulentes Kompendium komplexer Themen" packe Salzmann an, das für mehrere Stücke reiche, findet Reinhard Wengierek in der Welt (12.9.2012). Feinfühlig entfessele Regisseurin Bartkowiak "eine packende Redeschlacht, in der sich Egomanie, Hass und Schuldgefühle, Schmerz, Liebe und Hingabe sowie die Sehnsüchte nach dem frischen Wind der Freiheit und der wohligen Wärme von Tradition, Einbindung, Geborgenheit wie meschugge mischen im signifikanten Bühnenbild von Nikolaus Frinke."

 

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