Spiel's nochmal, Jonny

von Martin Krumbholz

Düsseldorf, 20. September 2012. Als der englische Neurologe John Langdon-Down im 19. Jahrhundert Menschen mit der angeborenen Gehirnkrankheit, die man heute das "Down-Syndrom" nennt, "mongoloid" taufte, also "mongolenähnlich", wollte er, wer weiß, vielleicht einen Scherz machen. Mediziner haben manchmal einen grimmigen Humor. Jedenfalls hat jene Bezeichnung sich bis weit ins 20. Jahrhundert hinein erhalten, bevor sie durch den offiziellen Begriff "Down-Syndrom" ersetzt wurde.

Fremde Welten im 19. Jahrhundert

Die Gießener Performer Monster Truck verbinden in ihrer Produktion "Dschingis Khan" das eine mit dem anderen – die hochmütige Benennung mit dem historischen Phänomen, und das ist auch schon die ganze ironische Pointe der Show, die in der Exposition als "gute Unterhaltung" präsentiert wird. Drei Menschen mit Down-Syndrom, eine Frau und zwei Männer vom Berliner Behindertentheater "Thikwa" (das ist hebräisch und heißt Hoffnung), spielen in zotteligen Mongolenpelzen mit Riesenkapuzen eine sogenannte "Völkerschau", was nichts anderes ist als eine lose Folge von Abziehbildern, also von Klischees, die wie das Wort "Mongoloismus" ins 19. Jahrhundert und dessen kolonialistische Denkgepflogenheiten gehören. Man sieht die drei Mongolen also bei traditionellen Schießübungen, beim Zubereiten und übermäßigen Trinken von gegorener Schafsmilch, beim Töten und Verzehren ihrer Feinde und so fort. Die einzelnen Episoden werden von Übertiteln kommentiert ("Das traurige Schicksal ihrer Feinde").

dschingiskhan 560a foto oliver paul uJonny Chambilla und Oliver Rincke.  © Oliver Paul

Schädel als Wurfgeschosse

Da nun die drei Performer keine längeren Abläufe selbstständig reproduzieren können, wird ihr Spiel vom Bühnenrand aus durch eine Monster-Truck-Performerin kontrolliert und angeleitet. Der Tonfall dieser Anleitungen ist konsequent pädagogisch ("Schön, Jonny, ja, wunderbar, versuch's noch mal" und so weiter). Wenn die Melone, die den Körper des Feindes darstellt, nicht auf Anhieb zerplatzt, wird der Wurf wiederholt ("und jetzt essen"). Für die letzte Viertelstunde (von 90 Minuten) gehen die Monster-Truck-Leute schließlich ab und überlassen das Feld (scheinbar) den Thikwa-Leuten, die nun die Musikregler aufdrehen, tanzen und am Ende mittels einer riesigen Wurfgeschossmaschine Schädel ins Publikum schießen. Inwieweit das Ganze tatsächlich auf spontanen Eingebungen beruht, lässt sich kaum ergründen – vermutlich ist alles gut geübt.

Der Abend wirft Fragen auf, insbesondere solche nach Authentizität und Autonomie. Man wird Monster Truck keinen Zynismus vorwerfen mögen, das Ganze ist sicher furchtbar gut gemeint, politisch korrekt und pädagogisch wertvoll. Und doch bleibt ein nicht geringes Unbehagen zurück. Denn die drei Hauptdarsteller des Abends sind keine Subjekte, die künstlerisch autonome Entscheidungen treffen können. Es wird sie auch niemand wirklich gefragt haben, ob sie in einer hirnrissigen Mongolenshow mitwirken und etwa als Kannibalen auftreten wollen. Mit anderen Worten: Die Drei werden benutzt. Der furchtbar gute Zweck – nämlich mit Klischees aufzuräumen und Behinderte auch noch kreativ werden zu lassen – verschleiert diesen Zusammenhang nur.

dschingiskhan 560 foto oliver paul uSabrina Braemer. © Oliver Paul 

Ernst, Kunst oder Meta-Kunst?

Dass das Unbehagen nicht allein auf den Zuschauer übergreift, wird am Schluss deutlich. Da kehrt einer der Monster-Truck-Leute, seinerseits körperbehindert, auf die Bühne zurück und macht eine unbeholfene Ansage des Inhalts, dies alles – und die Entscheidung, dies alles "mit Mongos" zu spielen (er drückt es so aus) – sei nicht seine Idee, sondern die einer Kollegin gewesen; im Übrigen sei es keineswegs eine tolle Sache, behindert zu sein, sondern einfach "doof". Dann geht er verlegen ab. Wie auch an anderen Stellen des Abends weiß man nicht recht, ist das nun Show oder Ernst, Kunst oder Meta-Kunst gewesen? Dass das hier artikulierte Unbehagen authentisch ist, mag man gern glauben. Dennoch verschlimmert dieser missglückte Auftritt alles noch mehr. Haben denn im Vorfeld der Produktion keine Diskussionen stattgefunden? Soll man annehmen, eine übermächtige Performerin habe die Regie an sich gerissen, allen berechtigten Skrupeln und Einwänden zum Trotz? Bitte nachdenken.


Dschingis Khan. Eine musikalische Völkerschau
von Monster Truck und Theater Thikwa
Von und mit: Sabrina Braemer, Jonny Chambilla, Manuel Gerst, Sahar Rahimi, Oliver Rincke, Mark Schröppel, Ina Vera.
Dramaturgie: Marcel Bugiel, Musik: Mark Schröppel. Produktionsleitung: ehrliche arbeit – freies Kulturbüro. Produktionsassistenz: Alisa Hecke. Künstlerische Mitarbeit: Matthias Meppelink. Produktion: Monster Truck. Koproduktion: FFT Düsseldorf, Sophiensaele Berlin, Pumpenhaus Münster und Ringlokschuppen Mülheim.
Gefördert durch den Regierenden Bürgermeister von Berlin – Senatskanzlei – Kulturelle Angelegenheiten, die Kunststiftung NRW, das Kultursekretariat NRW, die Rudolf Augstein Stiftung, die LAG Soziokultureller Zentren NW und das Ministerium für Familie, Kinder, Jugend, Kultur und Sport des Landes Nordrhein-Westfalen und den Fonds Darstellende Künste
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.forum-freies-theater.de

Mehr zum Konzept von Monster Truck? Manuel Gerst und Sahar Rahimi stellen sich in einem Videointerview von Matthias Weigel der Diskussion. Mehr zum inklusiven Theater? Georg Kasch hat den Status Quo zusammengefasst.


Kritikenrundschau

Von "abgründigem Diskurstheater" und mehrfach gebrochem, oft überraschendem "fröhlichen Happening", spricht Stefan Keim in der Sendung "Fazit" vom Deutschlandradio Kultur (20.9. 2012). Ständig stehe die Aufführung auf der Kippe, jede These finde sofort einen Widerspruch. "Die bissig-bittere Satire auf das immer stärker werdende Inklusionstheater stößt auf die unleugbare Tatsache, dass die Thikwa-Darsteller richtig Freude haben. Ist es dann trotzdem verwerflich, sie auszustellen und vorzuführen? Sie lassen sich nämlich nicht zu Objekten des Voyeurismus machen, sondern ziehen ihr eigenes Ding durch." Zunächst klinge das ganze Projekt eher wie eine politisch unkorrekten Schnapsidee statt nach einem Theaterabend. "Doch 'Monster Truck' schafft es, die Blicke der Zuschauer immer wieder zu brechen und jede Erwartungshaltung zu unterwandern."

Aus dem verpönten Begriff der Mongoloiden machten Monster Truck einen "langen bitteren Witz", schreibt Melanie Suchy in der Rheinischen Post (22.9.2012). Ein "durchschaubarer Effekt" bringe die Wende von der Mongolen-Show zur Irritation: "Langsam versteht man, dass dieses Stück nicht von Inklusionsgesetz oder Frühdiagnostik handelt, sondern vom Gefühl der Ohnmacht."

Genüsslich ließen die drei Schauspieler des Theater Thikwa das Arrangement von Monster Truck über sich ergehen, schreibt Doris Meierhenrich anlässlich des Berlin-Gastspiels der Produktion in den Sophiensaelen in der Berliner Zeitung (23.11.2012). "Nur geht hier keiner auf in seiner Rolle, vielmehr unterlaufen die drei die ihnen angelegten Rüstungen eigensinnig, komödiantisch souverän." Großer, zynischer Jahrmarktbudenzauber sei das, der dennoch tief und erhellend in die Giftkiste des Theaters greife – speziell des Theaters mit Behinderten. Denn er offenbare, wie die unabweisliche Stärke dieser Spieler – ihre Eigensinnigkeit und Unverbiegbarkeit − zugleich Potenzial ihrer Diskriminierung sei. "Dürfen, können sie eigentlich jemals wirklich 'spielen' oder sollen sie immer nur 'sie selbst' sein und damit den Popanz des vermeintlich 'Echten' abgeben?" Dass diese "Echtheit" immer mindestens so falsch sei wie die lächerliche Mongolen-Geschichtsshow, die sie nachstellen, werde hier schön Parodie. "Aber hat es umgekehrt Sinn, sich selbst zu minimieren und in Kunst aufzugehen?" Zwar gebe Monster Truck keine Antworten, "aber sie hauen hinein in die brennende Lücke zwischen Schein und Sein und zeigen, wo es schmerzt."

 

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