Wegen der Krise

von Ute Grundmann

Weimar, 20. September 2012. Die Welt ist zu einem Zimmer geschrumpft. Zwischen Küchenzeile, Badewanne und Fernseher haben sich Papa, Mama, Tochter, Opa und dessen Pfleger gegen die Welt da draußen verbarrikadiert, die nur noch so böse Dinge wie Euro- und Schuldenkrise zu bieten hat und noch die kleinsten Lebensträume platzen lässt. So findet sich die Familie "Im Abseits" wieder, so der Titel des Stücks von Sergi Belbel, das am Deutschen Nationaltheater Weimar als deutschsprachige Erstaufführung herauskam.

Auf dem Feld der Farce

Es war eine Premiere mit Hindernissen. "Aufgrund konzeptioneller Differenzen zwischen dem Regisseur Peter Staatsmann und der Theaterleitung wurde die Inszenierung Mitte letzter Woche dem Regisseur Christian Weise übertragen, der die Produktion mit eigenem Regiekonzept und -team von Grund auf neu realisiert hat." So wurde es gestern Abend lapidar vor Beginn der Premiere in der kleinen Spielstätte "Foyer III" mitgeteilt. Und Christian Weise und sein Team haben das Stück des katalanischen Dramatikers konsequent und heftig aufs Feld der Farce, manchmal auch der Klamotte, geschoben.

im abseits 560a thomasmueller uIn der Pappküche: Uwe Fischer als Vater und Anette Straube als Mutter © Thomas Müller

Dabei schüft Belbels kurzes Stück ohnehin schon nicht allzu tief. Da ist Papa Pol, dem der Lohn um 30 Prozent gekürzt wurde und der sein Erspartes einem entlassenen Kollegen geliehen hat. Mama Anna bangt um ihre Shopping-Möglichkeiten, weiß nicht mehr, wie sie Opa Josep und dessen Pfleger Ricky bezahlen soll. Der wiederum wischt Opa Josep den Hintern, damit sein Söhnchen in der fernen Heimat Lateinamerika mal Fußballstar werden kann. Und Tochter Lisa soll, mit Einser-Abschluss und Studium in den USA, die Lebensträume vor allem der Mutter erfüllen. Das alles spielt 2009, der zweite Satz des Stückes lautet "Wegen der Krise", und Belbel lässt seine Figuren sich den Krisen- und schon länger bohrenden Lebensfrust ziemlich oberflächlich um die Ohren hauen.

Pappwelt für eine schrecklich nette Familie

Für diese seltsame Familie hat Julia Oschatz auf der kleinen Bühne eine Pappwelt aufgebaut. Die Badewanne, in der Opa haust, ist ebenso aus ungelenk gemalten Pappkacheln wie die Wände, Küchenbord, Kochtopf samt Inhalt, Kaffeekanne sind ebenso papiern wie der Fernseher, der im Mittelpunkt des Zimmers und der Krisenfamilie steht. In dem läuft vorzugsweise Fußball, sodass Thomas Büchel als Ricky (im Barcelona-Trikot und lila Trainingshose) "Venga! Venga!" rufen und Tore bejubeln oder betrauern kann. Wenn Mama Anna (Anette Straube) sich Kaffee einschenkt, kommt kein Tropfen aus der Kanne, aber Gluckern aus den Lautsprechern. Ihre Zigaretten bekommen mehr und mehr Joint-Format und wenn sie der Familienenge mal entfliehen will, schnappt sie sich vor der Tür ein Pappauto, nur "Brumm, Brumm" macht sie nicht.

im abseits 560 thomasmueller uKrise mit Karton: Rahel Weiss bleibt als Tochter auf dem Sofa unbeeindruckt © Thomas Müller

Die Wonnen der Abseits-Regel

Das alles wirkt sehr aufgesetzt, gewollt komisch und klischeehaft. Den undankbarsten Part hat Rahel Weiss als Lisa: Die Einser-Absolventin, natürlich mit Brille, hockt vorzugsweise stumm auf dem Sofa, stiert in den Fernseher, um das Tohuwabohu um sie herum nicht zu sehen. Doch plötzlich macht sie einen Mini-Aufstand: Kein Studium in den USA mehr (das Stipendium wurde wegen zu guter finanzieller Verhältnisse abgelehnt), zu Hause bei Mama und Papa bleiben. Da kann sie sich dann langsam an Ricky ranrobben, redet tapfer von Sex und lässt sich von ihm dann doch lieber die Abseits-Regel erklären, ein Uralt-Gag. Zu dumm nur, dass Ricky sich zwischendrin immer wieder in seine ferne Gattin Melinda (mit Perücke und Kleidchen) verwandelt. Doch Lisa weiß sich auf verschlungenen Wegen ihr kleines Stückchen Glück zu sichern.

Das werden ihre Eltern wohl nicht mehr schaffen, die weiter in kurzen Dialogen und langen Tiraden ihr Leben beklagen. Und wenn bei Mama Anna Mordlust in Blicken und Taten gegen den lästigen und teuren Opa aufflammt, wird die Szenerie ins fahle Licht des Papp-Fernsehers getaucht: Achtung, wir tun ja nur so! Respekt vor der Leistung der Schauspieler und des Regie-Teams, diese Premiere überhaupt realisiert zu haben, aber wirklich Überzeugendes ist dabei nicht herausgekommen.


Im Abseits (Deutschsprachige Erstaufführung)
von Sergi Belbel
Regie: Christian Weise, Bühne: Julia Oschatz, Kostüme: Andrea Wöllner, Musik: Sebastián Arranz, Jens Dohle, Dramaturgie: Elisa Liepsch.
Mit: Anette Straube, Rahel Weiss, Uwe Fischer, Bernd Lange, Thomas Büchel.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-weimar.de


Mehr überzeugen konnte Regisseur Christian Weise jüngst in Schwerin, wo er die Saisonauftaktpremiere Der ideale Mann von Oscar Wilde (Fassung: Elfriede Jelinek) inszenierte.

 

Kritikenrundschau

Der "klamottigen" Inszenierung falle das Stück zum Opfer, stellt Hartmut Krug in der Sendung "Kultur Heute" vom Deutschlandfunk (21.9.2912) fest. Der katalanische Dramatiker Sergi Belbel zeige "auf nur scheinbar einfache, in Wirklichkeit aber raffinierte und subtile Weise, wie Menschen brutal werden, weil sie von ihren Mitmenschen erwarten, dass sie "funktionieren". Er zeigt das in filmschnittartiger Dramaturgie und in oftmals grotesken, ja surrealen Szenen. Da wechseln Binnen- und Außensicht der Menschen, die gelegentlich in Parallelwelten schlüpfen, um ihre verzweifelten Gewaltfantasien aus zu agieren." Christian Weises Regie reduziere das Stück auf die Klamotte und schlages es dabei "mit der Unterhaltungspatsche platt. So sei der Abend ein Trauerspiel. "Auch wenn ich zugeben muss, wie das Publikum, gelacht zu haben. Gelegentlich."

Natürlich müsse man immer die kurze Probenzeit nach dem Regisseurswechsel mitdenken, mahnt Henryk Goldberg in der Thüringischen Allgemeinen (22.9.2012) an. "Es ist aber auch ein schlechtes Stück, oberflächlich die sozialen Fragen beplaudernd." Weise versuche, die Situation des Mittelstandes zu beschreiben, indem er diese mittelständische Familie dazu verurteile, sich im Privatfernsehen zu verdingen. "Nichts und niemand ist hier wirklich ernst." Oschatz' Fazit: "Natürlich, man kann sich diese anderthalb Stunden anschauen. Man kann es aber auch lassen."

 

Kommentare  
Im Abseits, Weimar: mitten drin in den Schmerzen
Liebe Frau Ute Grundmann,
dem Urteil, dass das Stück von Sergi Belbel kurz sei und nicht ‚tief schürfe’, kann ich mich nicht anschließen. Man muss sich länger mit dem Text beschäftigen, er gibt seine ‚Geheimnisse’ nicht so schnell preis. Belbel ist Dramatiker, aber auch ein versierter und erfahrener Theatermann, er inszeniert selbst und er weiß ganz offensichtlich, wo Theater sein Potential entfalten kann. Deshalb sind seine dramatischen Lösungen szenisch und verlangen beim Lesen geduldiges ‚Ausphantasieren’.
„Im Abseits“ ist ein klug konstruiertes Stück, das gute und glaubhafte Figuren besitzt, mit realistischen Sprechtexten, denen wir bald in ihren Emotionen nachfolgen und in die wir hineingezogen werden. Aber das ist nicht alles: Das Stück besitzt überdies Szenen, die wie ‚Subjektiven’ im Film funktionieren, in denen wir alles aus der Perspektive einer Figur sehen, und es besitzt phantastische und überschäumende ‚Filmzitatszenen’, die das Reden einer Figur in eine intermediale Collage übergehen lassen. Die äußeren und inneren Handlungsstränge sind äußerst kunstvoll miteinander verwoben, der Zuschauer taucht in die Figuren voll ein und wirbelt gleichzeitig durch einen amüsanten Kosmos wilder Phantasien und innerer Bilder. Alles gipfelt in einer anarchisch komischen Szene, in der der tyrannische Großvater in ganz unterschiedlichen Filmstilen und Filmgenres umgebracht wird, und das verzweifelte Paar aus der gehobenen Mittelschicht sich ausmalt, wie die viertausend Euro monatlich für das Studium der hochbegabten Tochter in Amerika trotz akutem Geldmangel auf diese Weise aufzutreiben wären. Doch wenn die Farce am tumultuösesten ist und die Komik uns fast schon von den Schmerzen der Wirklichkeit erlösen könnte, steuert Belbel seine Tragikomödie mit meisterhafter Sicherheit zurück ins Tragische: die Tochter, die sämtliche Höchstleistungen gebracht hat, die wir heute unseren Kindern abverlangen und die dabei seelisch nicht mitgewachsen ist, kollabiert in einen schrecklichen Angstanfall, der enthüllt, was der Preis für unser Mithalten in einem globalisierten Neoliberalismus ist. Psychotische Not bricht sich Bahn und die Satire wird bitter und schwarz – und wir Zuschauer sind inmitten der Schmerzen, weil wir an den Figuren dran sind.
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Im Abseits, Weimar: mitten drin in den Schmerzen II
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„Im Abseits“ ist eine grandiose und beißend ätzende Tragikomödie, die an Koltès denken lässt und auch an Molière, und mit 46 Seiten ein eher langes Stück, dessen Spieldauer schnell auf zwei Stunden kommt. Es ist intelligente Gegenwartsdramatik, der es gelingt, einige verhängnisvolle und schwer zu verstehende Mechanismen im psychischen Haushalt des heutigen westlichen Menschen zu behandeln. Die dramatische Kunst Belbels geht immer von psychorealistischen Figuren aus, die differenziert und feinmaschig ausgearbeitet sind. Das Sprechen dieser Figuren ist – wie bei Tschechow – das alltägliche Sprechen von heutigen Menschen. Die Begegnung mit den wirklichkeitshaltigen Figuren ist Voraussetzung für die Entfaltung seines Theaters des phantastischen oder poetischen Realismus. Unverzichtbar dafür ist die Erarbeitung von Figuren, die der Schauspieler als seine eigene Wirklichkeit erzählt und die er mit seiner eigenen Erfahrung in Verbindung bringen und ernst nehmen muss. Der Zuschauer rückt dann an sie heran, schlüpft schließlich sogar in sie hinein, weil sie ‚wahr’ und vom Schauspieler ‚beglaubigt’ sind. Aber Belbel geht noch weiter. Er führt die Figuren, mit denen wir uns identifizieren und deren Gefühle wir genau nachvollziehen, in überbordende und turbulente – komische – Verstrickungen. Von der Grundlage eines ‚realistischen’ Dramas stößt er sich ab und versetzt die Menschen in die schwarze und tragische Farce. Wenn wir jetzt lachen, dann nicht ohne Schmerzen, denn die Wirklichkeit der Figuren und damit unsere eigene läuft immer mit.
Anders würde ein Stück über Menschen aus der gehobenen Mittelschicht auch gar keinen Sinn machen. Als Karikaturen aus dem verstaubten Kabinett von Klischeefiguren eines allgemeinen und abstrakten Antikapitalismus interessieren (und unterhalten) sie keine zwanzig Minuten. Ganz anders, wenn es sich um ‚wirkliche’ Menschen handelt, die (lächerlich) verzweifelt versuchen, sich selbst und ihr Kind in einer erodierenden Gesellschaftssituation in Sicherheit zu bringen – wie wir dies schließlich alle versuchen. Ihnen folgen wir und geraten mit ihnen in die quälenden Verstrickungen der grotesk sich zuspitzenden Lage, in der der zynische und abgründige Kern unseres Unbewussten zutage tritt – nämlich, dass wir inzwischen zu fast jeder Schandtat bereit sind, wenn es darum geht, auf der ‚Siegerseite’ zu bleiben: auch die eigene Tochter als Geisel des Traums vom großen Aufstieg zu nehmen. Eine Inszenierung, die sich auf die Figuren einlässt, kann es mit diesem Stück schaffen, die recht vertrackten psychischen Mechanismen sichtbar zu machen, denen wir momentan bei unserem Bemühen zu ‚überleben’ unterliegen.

Peter Staatsmann
Im Abseits, Weimar: Bedürfnis nach Nostalgie
Es zeigt sich an der von Frau Grundmann besprochenen Inszenierung eine weitere Weimarer Besonderheit, auf die ich folgend kurz eingehen möchte:

Die Theater in Deutschland werden über den Bühnenverband in Kategorien von 1 bis 5 eingeteilt. Das Schauspielhaus Hamburg, das Deutsche Theater Berlin, die Volksbühne usw. sind Häuser der Kategorie 1. Das Theater Weimar ist ein Haus der Kategorie 5. Die Kategorien ergeben sich nicht nur aus betriebswirtschaftlich evaluierbaren Faktoren wie beispielsweise der Anzahl der verkauften Karten, sondern auch aus der Wirkung der Theaterarbeit, der Diskurskraft, die ein Haus erbringt

In der Kritik heißt es, es habe eine Inszenierung mit Hindernissen gegeben. Benannt wird der Regisseur Staatsmann, der kurz vor der Premiere ausgewechselt, eingetauscht wurde. Als Begründung liefert die Theaterleitung "konzeptionelle Differenzen". Ganz offensichtlich gab es also schon vor den Proben eine klare Vorstellung, wie die Inszenierung auszusehen hat. Es ging also nicht darum auszuprobieren, zu finden und erfinden, sondern lediglich darum auszuführen

Geleitet wird das Theater Weimar nicht von einem Intendanten, sondern von einem Geschäftsführer. Dieser Geschäftsführer heißt Thomas Schmidt. So wie ein Intendant ein künstlerischer Leiter ist, so ist Thomas Schidt ein Kaufmann. Über sich selbst schreibt er, dass er nicht nur Kaufmann sei, sondern auch ordentlicher Professor in Frankfurt am Main, Buchautor und Mitglied in verschiedenen Gremien. Mit seiner Geschäftigkeit folgt Thomas Schmidt einer Weimarer Tradition, der Tradition viele Dinge gleichzeitig zu machen. Als bekanntester Vertreter dieser Tradition sei stellvertretend Göthe erwähnt, der nicht nur Straßenbaumeister und Amtsmann war, sondern eben auch Autor, Naturwissenschaftler und Kunstmaler

Das Theater Weimar ist ein Haus der Tradition, woraus klar wird, in welche Richtung die Arbeit an einem solchen Haus zu erfolgen hat. Nicht das Risiko, der Mut zur Unruhe und zur Bewegung, sondern die Pflege des so genannten Erbes stehen im Mittelpunkt aller Bemühungen. Befriedigt wird das Bedürfnis nach Nostalgie, möglicherweise im Wissen darüber, dass sowohl während der Romantik als auch in der Zeit der Weimarer Klassik die Mehrzahl der Menschen bis zum Hals in der Scheiße standen.
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