Heiles Leben zwischen Markise und Brustkrebs

 von Hartmut Krug

Heidelberg, 24. November 2007. Albert, Werbefilmregisseur, sichtet mit Kostümbildnerin Franziska Arbeitsdias. Das ganze: ein banales Arbeitsgespräch, das in in einen lockeren Anmachversuch des Manns und eine lockende Abwehrreaktion der Frau mündet. Doch wie Anne Rathsfeld und Victor Calero das spielen, wie sie sich hier gegenüber stehen, während sie sich eigentlich umkreisen, wie sie sich hinter Gleichgültigkeit zu verstecken suchen, während sie doch auf der Suche sind, wie die Körper mehr sagen als die Worte, das treibt die Grundsituation von Volker Schmidts Stück in die Sichtbarkeit.

Hinter Pointen stecken Probleme
Der Autor liefert mit "Die Mountainbiker" ein well made play, das den Zuschauer mit seinen scharf ziselierten, pointensatten Dialogen anfangs in falscher Sicherheit wiegt. Weil man die aufgereihten Beziehungsklischees aus Fernsehfilmen zu kennen glaubt: ein Kopfnicker-Stück also? Das sicher nicht. Denn unter der Lockerheit liegt eine Spannung, hinter Pointen lauern Probleme, und unter aller Sicherheit gähnt der Abgrund tieferer Bedeutung.

Also doch wieder Klischee? Ja, schon. Aber dann auch wieder nicht. Weil Schmidt die Sehnsucht der Menschen nach einem anderen Leben jenseits des gleichförmig erfolgreichen zwar verdeutlicht, indem er zwei Lebensprinzipien gegeneinander stellt, die der Autor aus den Bakchen zu kennen scheint, doch mit denen er weder geheimnisvoll tief gründelt noch allzu sehr erklär- und lösungsbedürftig umgeht.

Materiell rundum erfüllte Welt
Schmidt kann eben nicht nur Dialoge schreiben, sondern auch Spannungsbögen bauen, kann Figuren und ihre Abgründe entwickeln, sie offen legen, ohne alles aufzudecken. Nur kurz wiegt sich der Zuschauer deshalb in falscher Sicherheit, auch wenn es viel zu lachen gibt. Und der Schluss ist so offen wie überzeugend, er verlangt wie das gesamte Stück vom Publikum ein Weiterdenken. Die Dialoge: harmlos. Die Situationen: alltäglich. Die Zeit: "unbedingt heute." Der Ort: "Wo Natur auf Stadt trifft."

Menschen einer vorstädtischen Wohlfühl- und Wohlstandsschicht, in sozial und familiär scheinbar gesicherten Verhältnissen lebend, werden in Zweierszenen vor- und in Konfliktdialogen gegeneinander gestellt. Manfred, Frauenarzt (Alexander Peutz stellt ihn mit auftrumpfender Selbstsicherheit aus), streitet mit seiner Frau Anna, einer Innenarchitektin, die immer mehr Auftraggeber wegen ihres Stils einer radikalen Leere verliert (ein Mensch hat alles und will deshalb nur noch die Leere!). Wenn über die Farbe der neuen, vollautomatischen Markise gestritten wird, schreit die individuelle wie grundsätzliche Sinnkrise aus jedem Wort der Frau.

Worüber soll man nachdenken?
Tochter Nina (mit wunderbar fester Sehnsuchts-Nüchternheit: Maria Prüstel) trifft bei den Mülltonnen Thomas, den fünfzehnjährigen Sohn der Kostümbildnerin Franziska. Im lakonischen Pingpong der Lebenssinn-Worte eines Gesprächs über Mülltrennung und individuelle Verantwortlichkeit lernt man sich kennen. Nina sucht die Hyperaktivität ihres Vaters mit Nichtstun auszugleichen: "Ich kann gar nichts anderes, als im Moment zu leben. Ich wüsste gar nicht, worüber ich nachdenken kann."

Thomas, der sich mit Rentenberechnungen und dem Zeichnen von Toten beschäftigt, empfindet seine "Jugendlichkeit als Belastung." Paul Brill, unterm bubihaften Pony ein altklug ängstliches Grinsen, treibt den hochintelligenten Thomas mit hängenden Schultern in eine körperliche Verklemmtheit, die in schönem Kontrast zu seinen coolen Sprüchen steht. Wenn er sich mit Ninas Mutter Anna in sexuelle und blutige Selbsterfahrungsrituale begibt, entwickelt sich das Ganze aus einer urkomischen "Mr. Robinson"-Szene zu selbstverständlichem Existentialismus. Wie der Autor hier jeden mit jedem in Beziehung oder Konflikt bringt, ist nicht virtuos, sondern souverän. Und Regisseur Orazio Zambelletti zeigt das richtige Gespür für Rhythmus und Spannungsaufbau, führt die Zweierszenen in eine prägnante Bedeutungs-Lockerheit.

Emotionale Überdrucksituationen
Im Zwinger, auf der leeren Breitwand-Raumbühne von Miriam Grimm, findet die Suche nach Lebenssinn direkt vor dem Publikum statt. Als überzeugendes Schauspieler-Theater. Es gibt viele schöne Szenen in dieser Inszenierung. Wenn sich die Männer innerlich wie körperlich stretchen nach dem üblichen Ausbruch, nach dem Risiko-Ritt mit den Mountainbikes. Wenn Nina und Mike sich nach dem Tod des Vaters des Mädchens (beim Biken durch den regennassen Wald) zum hoffnungsvollen Schluss der schlimmen Geschichte neben dem Sarg über eine mögliche gemeinsame Beziehung verständigen: "Könntest du dir vorstellen, mich zu lieben? – Ja. – Gut."

Oder wenn Albert mit Nina auf Franziska wartet, weil er in der Beziehung "Verantwortung" übernehmen will, und dabei klar wird, welch leeres Wort "Verantwortung“"in dieser Gesellschaft eigentlich ist. "Alle sind nervös", meint Nina, weil "alle Angst haben". Auf Alberts Frage "Wovor" kommt die Antwort: "Was fragst du mich. Du bist doch viel älter."

Alles überzeugend
Und Anna, als Vertreterin der emotionalen Sinnsucherin gegen die (männliche, selbstsichere) Rationalität gesetzt, muss ihre Haltung, nach etlichen Übertretungen bürgerlicher (moralischer) Regeln, schließlich in einem längeren Monolog deutlich aussprechen. Doch selbst diesen zu bedeutsamen, zu langen, zu erklärenden Monolog meistert Antonia Mohr, wie alle die anderen emotionalen Überdrucksituationen der Anna, mit souverän zwischen Haltung und Bedeutung austariertem Spiel. In Heidelberg ist eine bemerkenswerte Uraufführung eines überzeugenden Stücks zu bewundern.


Die Mountainbiker (UA)
von Volker Schmidt
Regie: Orazio Zambelletti, Bühne und Kostüme: Miriam Grimm. Mit: Maria Prüstel, Alexander Peutz, Paul Brill, Antonia Mohr, Anne Rathsfeld, Victor Calero.

www.theaterheidelberg.de


Kritikenrundschau

"Exakte Dialoge" schreibe Volker Schmidt in den "Mountainbikern", und seine Anna sei eine "packende Figur", meint Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (26.11.2007). Orazio Zambelletti verordne den Akteuren jedoch Posen und lasse sie "sinnlos über den Text hetzen", seine Regie kaschiere "Feigheit vor dem Text mit Geschwindigkeit". Erst am Ende, wenn aus dem "gehobenen Boulevard ... ein Oberschichtendrama" werde, könne auch Zambelletti nicht anders, "als auf den Text zu hören und Geschwindigkeit aus seiner Inszenierung zu nehmen".

Schmidt sei ein Name, den man sich merken müsse, ulkt Martin Halter in der Frankfurter Allgemeinen (26.11.2007). Volker Schmidts Stück sei "ein Text mit Tempo, Witz und Geist, mit pointierten Dialogen und einer fein abgestimmten Balance zwischen weiblicher Tragik und männlicher Komik". Der Autor habe "das wild wuchernde Beziehungschaos seiner 'Mountainbiker' klug beschnitten und perfekt getrimmt". Alles sei "so gut geölt und perfekt abgestimmt wie die Präzisionsschaltung eines schlammverkrusteten Luxusmountainbikes". Regisseur Zambelletti aber lasse "die Schauspieler im Affenzahn über Baumwurzeln und Abgründe heizen; so wird jede Erschütterung gedämpft, jeder Stolperstein weggedrückt."

Im Mannheimer Morgen (26.11. 2007) schreibt Eckhard Britsch: Bei der Uraufführung seines Stückes werde "die spielerische Eleganz deutlich, mit der Schmidt sein Thema anpackt". In "lakonischen Dialogen" zerfleddere der Autor "unsere heile Welt, indem er deren kleidsame Formeln und sinnentleerten Worthülsen zu einem pointierten Panorama sich selbst zerstörender Bürgerlichkeit" zusammenfüge. Orazio Zambelletti löse in seiner Inszenierung dazu passend "die Figuren Stück für Stück aus ihrer Verpuppung" und rücke sie "dann immer intensiver aneinander". Schmidt imaginiere "ein magisches Beziehungsgeflecht", in dem "Hülle um Hülle der Selbsttäuschung fällt". 

In den Badischen Neuesten Nachrichten (27.11. 2007) aus Karlsruhe schreibt Andreas Jüttner: Ähnlich wie bei Yasmina Reza gelinge es Volker Schmidt, Bühnenpersonal und Zuschauer-Zielgruppe gleichzusetzen: "Hier darf sich die Mittelschicht selbst beim Scheitern betrachten." Aus zunächst "im besten Sinne fernsehtauglichen Sätzen" entwickele Schmidt ein "dichtes Drama existenzieller Einsamkeit", das vielleicht nur zu perfekt abschnurre. Die Inszenierung indes schütte leider mit dem "Bad der inszenatorischen Dreingaben auch das Kind der szenischen Auslotung" aus. Die Situierung des Dramas zwischen Stadt und Natur werde unterschlagen und die Figurencharaktere durch "flottes Dialogabsolvieren" vorschnell festgezurrt. "Nachspielen erwünscht."

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