Pik heißt Krieg

von Sarah Heppekausen

Essen, 21. September 2012. Beim Kartenspiel sitzen die Teilnehmer am besten im Kreis. Dann lässt es sich nicht so leicht ins Blatt des anderen gucken. Bei Robert Lepage gewährt die kreisrunde Bühnenform hingegen gewollte Ein- und Umblicke. Das Publikum im Salzlager der Kokerei Zollverein sitzt rund um eine Arena. Das Spielfeld ist ein Podest, bei dem sich Teile heben, senken oder drehen können. Falltüren öffnen und schließen sich. Die Bühnenmaschinerie ist ein großer Taschenspielertrick. Und die Darsteller sprießen aus dem Bühnenboden als zückte sie ein unsichtbarer Spielmacher aus seinen Taschen.

Blattgeber ist der kanadische Theatermacher Robert Lepage. Er ist als Regisseur zum ersten Mal bei der Ruhrtriennale, zeigt die Deutschlandpremiere des ersten Teils einer geplanten Kartenspiel-Tetralogie: "Playing Cards 1: Spades". Uraufgeführt wurde die Produktion im Mai in Madrid, lief dann in Toronto, jetzt in Essen. "Spades" bedeutet Pik – eine stilisierte Lanzenspitze. Also beschäftigt sich Lepage auch mit Waffen und dem Krieg. Die Niederlagen finden allerdings auf Nebenschauplätzen statt: im Hotel, beim Arzt, in der Truppenunterkunft.

Gesellschaftsspiel aus Einzelgeschichten
Das Kartenspiel ist Formgeber und Inhaltslieferant. Zu Beginn wird ein Soldat des Kartenspielens im Gottesdienst bezichtigt. Er redet sich klug heraus, die Stimme kommt vom Band: Das Kartenspiel ersetze seine Bibel, das Ass stehe für einen Gott, die Zwei für das Alte und das Neue Testament, die Zehn für die Zehn Gebote und so weiter. Dann wechselt das Licht, der stille Soldat verschwindet unter der Bühne, und ein tönendes Elvis-Double traut ein Paar in Las Vegas mit den Worten "Sprich mir nach: I love you tender". Für die nächste Szene fährt ein Hotelzimmer hoch, ein Zimmermädchen wird eingearbeitet. Dann verweisen angestrahlte Flaschen auf eine Bar, an der die Kreditkarte eines Geschäftsmanns nicht akzeptiert wird.

playingcards1 560 ErickLabbe uIn der Spiel- oder einer anderen Hölle: "Playing Cards: Spades" von Robert Lepage © Érick Labbé

Die vielen Geschichten strukturieren sich nach und nach zum Gesellschaftsspiel, Menschen und Kulturen mischen sich wie Kartenfarben. Faites vos jeux! Das Zimmermädchen ist eine illegale Immigrantin aus Mexiko, die sich ohne Papier nicht im Krankenhaus untersuchen lassen kann. Der Geschäftsmann ist spielsüchtig und hat Schulden. Die Soldaten trainieren in einem künstlichen irakischen Dorf für den Ernstfall und treffen sich abends an der Bar. Das alles passiert im und um das Spielerparadies Las Vegas. Lepage verarbeitet in seinen Produktionen immer auch Autobiografisches. 2003 sei er in Las Vegas gewesen, ist in einem Interview zu lesen, gerade als George Bush den Krieg gegen Saddam Hussein ankündigte und die US-Truppen in den Irak einmarschierten.

Fernsehshow mit echten Schicksalen
Dieses Szenario nimmt Lepage zum Anlass für die Produktion von effektvollen Ereignisfeldern, auf denen zum Beispiel der Wüstenwind weht, Saddam Hussein als Pik Ass aufleuchtet und ein Schamane Sonnenbrand und Spielsucht ausräuchert. Das frischvermählte Paar geht einen Pakt mit dem Teufel ein: Er wandelt sich im schummrigen Rotlicht zum koksenden Glücksspieler, der meint, einen neuen Quantenalgorithmus für die Liebe gefunden zu haben. Sie verbringt gleich eine ganze Nacht mit dem Teufel, der in Las Vegas selbstverständlich einen Cowboyhut trägt. Das Spielfeld wird zum seelischen Schlachtfeld, wenn Tony Guilfoyle als zynischer US-Kommandant seinen Rekruten sexuell angeht. Oder der Gedemütigte sich später von einer Prostituierten im Ritter-Rollenspiel erschießen lässt. Aber schon dreht sich die Bühne weiter, der Tote schiebt sich durch eine Falltür, die Bar blinkt, und die Las Vegas-Girls tanzen wieder. Das Spiel geht weiter!

"Playing Cards 1: Spades" lässt sich gut konsumieren – als dreistündige Fernsehshow mit echten Schicksalen, gut gemischt und proportioniert, mit passender Musik unterlegt und sogar mehrsprachig. Für eine Verzauberung reicht's aber nicht. Der Taschenspieler lässt sich allzu oft unter die Bühne und in seine Trickkiste schauen. Vielleicht ist das sogar Absicht. Aber ein Fantast, der die Künstlichkeit der Welt offen legt, beraubt sich selbst seines eindrucksvollsten Mittels: der Illusion.

Playing Cards 1: Spades
von Robert Lepage und Ex Machina
Regie: Robert Lepage, Dramaturgie: Peder Bjurman, Musik: Philippe Bachman, Bühne: Jean Hazel, Licht: Louis-Xavier Gagnon-Lebrun, Sounddesign: Jean-Sébastien Côté, Kostüme: Sébastien Dionne.
Mit: Sylvio Arriola, Carole Faisant, Nuria Garcia, Tony Guilfoyle, Martin Haberstroh, Sophie Martin, Roberto Mori.
Dauer: 3 Stunden, keine Pause

www.ruhrtriennale.de

 

Kritikenrundschau

Am Ende triumphiere die Show über den Krieg, fasst Hans-Christoph Zimmermann in der  Westdeutschen Zeitung (24.9.2012) seinen Eindruck zusammen. Denn aus seiner Sicht überstrahlen die "Kartenkünste des Regisseurs und seiner Truppe Ex Machina" das inhaltliche Anliegen deutlich. Auch die Figuren seien zu grob gestrickt, um wirklich zu ergreifen.

Von einem "Triumph der Theatertechnik" spricht Bettina Jäger in der Emsdettener Volkszeitung (24.9.2012). Doch hier ist es ein Kompliment. "Hotelzimmer fahren hinauf und herunter, Zimmertüren stellen sich wie von Geisterhand aus der Fläche auf. Im Minutentakt verwandelt sich das Rondell in Schwimmbad oder Spielkasino, Kantine oder Kaserne. Weil sich der Riesen-Teller außerdem noch dreht, können verzweifelte Spieler oder Soldaten scheinbar endlos durch die Wüste marschieren." Auch die Schausspieler erhalten von der Kritikerin das Prädikat "virtuos".

"Teuflisch gut" hat das Anliegen des Abends aus Sicht von Marion Amnicht von der Süddeutschen Zeitung (24.9.2012) funktioniert. "Denn wir gehen mit," schreibt sie. Alles, was zähle, sei das Spiel. Ob im Leben oder im Theater. Oder so.

 

 

 

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