Im drogeninduzierten Tiefschlaf

von Dennis Baranski

Mannheim, 21. September 2012. Es scheint, als habe das Mannheimer Theaterpublikum endgültig seinen Frieden mit Calixto Bieito geschlossen. Mag es nun an der unbestrittenen Handwerkskunst des – freilich nur noch andernorts – gefürchteten "Skandal-Regisseurs" liegen oder eher an einer gewissen Gewöhnung – man hat sich aufeinander eingestellt. Zum Spielzeitauftakt am Mannheimer Nationaltheater musste darum auch niemand übermäßige Enttäuschungen verkraften. Mit Pedro Calderón de la Barcas "Das Leben ein Traum" (1635) lieferte der Katalane erwartungsgemäß.

Erhaben aus dem Dreck erheben

Denn die Koproduktion mit dem Barcelona Internacional Teatre und dem Teatre Romea Barcelona bietet vor allem eines: grandioses Sprechtheater. Wenn sich Michaela Klamminger wälzend aus kreisrund den Bühnenboden bedeckendem Dreck erhebt und fordernd zum Bühnenrand schreitet, als wolle sie zeigen, was die Sommerpause missen ließ, können schwierige Stilmittel – Spucken etwa oder unverhohlene Onanie – billigend in Kauf genommen werden. Kess-burschikos gibt sie Rosaura, die von Herzog Astolfo befleckte und verstoßene Braut, deren Schande ihre Gier nach Vergeltung nährt. Bieitos wohltuend zurückhaltende Einheitsbühnenbild-Manege aber gilt vornehmlich Clarin. Dem Tragikkomischen in Calderóns Text Rechnung tragend, erweist sich Thorsten Danner in der trottelig-clownesk überspitzten Rolle als Idealbesetzung und avanciert prompt zum Publikumsliebling. Doch Albernheiten vermögen der Unglücksseeligen keinen Trost zu spenden – dafür bedarf es eines weit schlimmeren Schicksals. Das des verstoßenen Prinzen.lebentraum2 560 HansJoergMichel hTöten ohne Reue: Das Leben ein (Alp-)traum?  © Hans Jörg Michel

Sterne kündeten König Basilio einst vom unrühmlichen Werdegang seines einzigen Sprösslings Sigismund. Zum tyrannischen Fürsten würde er verkommen, Polen in einen Bürgerkrieg stützen und letztlich gar den Vater unterwerfen. Derlei Strapazen wollte Ernst Alischs besonnener Monarch weder sich noch dem geliebten Vaterland zumuten, und so verbannte er den Prinzen unmittelbar nach dessen Geburt besser gleich in die Berge – erst im Alter mehren sich Zweifel.

Das ist alles nur geträumt

Während Astolfo und Estrella bereits als künftiges Herrscherpaar stolz die einschlägigen Posen üben, tut Basilio sein sorgsam ersonnenes Experiment kund: Einen Tag lang möge man dem Verstoßenen die Königswürde antragen, ihn gewissenhaft auf Tauglichkeit prüfen. Wird er dem Amt gerecht, sei die Thronfolge geklärt. Übt er Frevel, nehmen Estrella (Sabine Fürst) und Astolfo (Michael Fuchs) machtbewusst zweckverpartnert nur allzu gerne die Krone entgegen. Zurück unter Wächter Clotaldos (Jaques Malan) Kontrolle, würde Sigismund eingeredet, er habe alles nur geträumt. Zu stimmungsvoll-folkloristischen Klängen der stets präsenten Musiker Juan Granados und Josè M. Llorach tritt eben dieser Fall in Kraft. Kaum im teuren Tuch aus drogeninduziertem Tiefschlaf erwacht, weiß sich Martin Aselmann nach allen Regeln der Kunst daneben zu benehmen. Roh ist sein Sigismund, nicht Mensch, nicht Tier, dafür reich an unbändiger Energie – er tötet und vergewaltigt ohne Reue.

Doch nicht allein die Würde, auch das vorgelegte, hohe Tempo des präzise und nah am Text in Szene gesetzten Versmaßes verliert sich irgendwo hier. Zwischen der Wiederkehr des verdrängten Unholds, dessen gewaltsamer Machtübernahme und großen republikanischen Gesten zum vergifteten Happy-End – der Vater wird begnadigt, Rosauras Ehre durch Vermählung wieder hergestellt – scheint der so spannend begonnene Abend leerzulaufen.

Verhallende Fragen nach Freiheit

Am fesselnd erzählenden, in Bestform auftretenden Ensemble liegt das gewiss nicht. Es verhallen die Fragen nach Freiheit, versanden Überlegungen zur Nichtigkeit allen irdischen Glücks in einer überfrachteten Verweisstruktur. Spaniern und Deutschen gemeine Erfahrungen mit einem totalitären Regime werden wenig originell durch Uniformen aufgezeigt (Kostüm: Mercé Paloma), Spielzeugschaukelpferde sollen wohl an vergangene Inszenierungen erinnern, beleuchtete Ränge, verteilte Clownsnasen oder über Zuschauer stolpernde Schauspieler verfehlen grandios ihr Ziel – die emotionale Bindung ist dahin. Daran kann selbst das (von Stefan Herheims Bayreuther "Parsifal" inspirierte?) Schlussbild, ein frontal den hell erleuchteten Zuschauerraum reflektierender Spiegel, nichts ändern. Ebenso wenig Sigismunds bemüht zum "Macht kaputt, was euch kaputt macht"-Feldzug stilisierten Triumph über die Obrigkeit, bei dem er mit dem Rücken zum Publikum selbiges ungefragt für seine Sache instrumentalisiert. Im Mannheimer Schauspielhaus will der revolutionäre Funke letztlich nicht überspringen.

 

Das Leben ein Traum
von Pedro Calderón de la Barca, übersetzt von Georg Holzer
Regie und Bühne: Calixto Bieito, Kostüme: Mercè Paloma, Mitarbeit Kostüme: Kathrin Younes, Dramaturgie: Ingoh Brux.
Mit: Ernst Alisch, Martin Asselmann, Peter Brownbill, Thorsten Danner, Michael Fuchs, Sabine Fürst, Michaela Klamminger, Jaques Malan und Sascha Tuxhorn.
Dauer: zwei Stunden ohne Pause.

www.nationaltheater-mannheim.de

 

Kritikenrundschau

Christian Gampert schreibt auf der Webseite des Deutschlandfunks (22.9.2012): Calixto Bieitos "Revier" sei das "derbe Ausagieren sexueller Fantasien und kruder Metaphern", mit "Sprache und Psychologie" im Sprechtheater könne er nichts anfangen. "Das Leben ein Traum" lasse er über weite Strecken wie ein "intrigantes Shakespeare-Verwechslungsmärchen aufsagen", Schauspieler "mit 50er-Jahre-Gestus" deklamierten "langatmig" an der Rampe, dazwischen werde "gebrüllt und gewütet und die Hose ausgezogen". Welch "hilfloser, spießiger kleiner Stadttheaterregisseur" der "angeblich so verflixte Bieito" doch sein könne. Bieito übersetze das Stück ins Spanien des Bürgerkriegs, er könne so etwas zwar sehen, aber nicht inszenieren. "Einzig" die Rosaura der Michaela Klamminger bringe die "notwendige Ernsthaftigkeit" in diesen "ständig auf Overdrive gestellten Menschenzoo und Hysteriker-Zirkus". Erst am Ende, wenn Sigismund den Thron besteige, falsch heirate und ein "absolut angepasster King" werde, sei dieser Abend groß.

Obwohl Bieito "mit nur wenigen direkten Aktualisierungen eine Szenerie des Daseins voller Verwechslungen, Verstrickungen und Fallstricke entwarf, aus der kein roter Faden führt, so verwies er doch zugleich auf die irritierenden Unübersichtlichkeiten und verschmelzenden Parallelwelten unserer Gegenwart", schreibt Heribert Vogt in der Rhein-Neckar-Zeitung (24.9.2012). Bieito habe "auf der von ihm gestalteten Bühne jede Eindeutigkeit" gesprengt. Allerdings werde das "Desorientierungspotenzial" des Spiegelkabinetts "zum Ende des Abends hin – vielleicht vom Regisseur selbstironisch auch gewollt – mit langem monologischen Sprechen wohl etwas überstrapaziert."

Obwohl Calderóns Stück in Polen spiele, blende Bieito "immer wieder Zitate
ein, die an Spanien erinnern", erläutert Alfred Huber im Mannheimer Morgen (24.9.2012). "Schöne Einfälle, die zunächst auch atmosphärisch unterstützen, was auf
sandigem Boden fremd und unheimlich beginnt." Doch bald schon verliere sich die Inszenierung in "einem von Pathos und Geschrei begleiteten theatralischen
Überdruck". Besser wird es laut Huber nicht: "Kaum psychologische Feinarbeit, fast nur dominante Sprache, häufig frontal an Volk und Publikum gerichtet. Das ermüdet."

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