Abgründiger Traum-Schaum

von Wolfgang Behrens

Kassel, 21. September 2012. Es ist schon ein Kreuz mit diesem Stück! Im "Kaufmann von Venedig" hat Shakespeare die Konflikte gleich klafterweise auf die Rücken seiner beiden Protagonisten geladen: Da ist das Drama des Melancholikers Antonio, der vor lauter Schwermut leichtfertig sein Leben für einen Geliebten aufs Spiel setzt; da ist das Duell zweier Wirtschaftsprinzipien: der realwirtschaftlich agierende Kaufmann Antonio tritt gegen den rein finanzwirtschaftlich ausgerichteten Verleiher Shylock an; und da ist die Tragödie zweier gesellschaftlicher Außenseiter, des Homosexuellen Antonio und des Juden Shylock. Zuletzt ist da aber auch immer dieses vermaledeite Happy End, das nur über die maximale Demütigung Shylocks funktioniert: Der hier offensichtlich wirksame Antisemitismus (der in Shakespeares England seltsam anlass- und anschauungslos war, da Juden dort seit 1290 Ansiedlungsverbot hatten) ist nicht mal eben wegzuleugnen.

Über schlammigem Untergrund

Dass sich der Kasseler Oberspielleiter Patrick Schlösser in seiner Inszenierung des "Kaufmanns" sonderlich für die meisten der genannten Konflikte interessiert hätte, kann man nicht gerade behaupten. Sein Antonio Thomas Meczele geriert sich als latent aggressiver Finsterling, dessen Liebes- und Wirtschaftsnöte kaum einmal angedeutet, nie aber ausgespielt werden. Lässig choreografiert, in kaltes Licht getaucht und sprachlich über weite Strecken regelrecht tiefgekühlt geht das Drama über die Bretter, die hier – auf der Bühne von Daniel Roskamp – wie Planken auf einer Baustelle über schlammigen Untergrund gelegt sind.

kaufmann3 560 DominikKetz xLässige Choreografien auf den Planken © Dominik Ketz


Das schnurrt so ab. Doch dann ist da Shylock, und wenn man Alexander Weise in dieser Rolle sieht, dann kann einem angst und bange werden. Dieser Shylock ist aalglatt, wendig, schnell und von schneidender Intelligenz, er lächelt süffisant und artikuliert mit ostentativer Kontrolliertheit. Alexander Weises brillantes Spiel und die ambivalente Weise, wie er die klischeehafte, den Juden zugeschriebene selbstgefällige Gewieftheit und grienende Verschlagenheit ausspielt, werfen aber sofort Fragen auf: Wie nah darf man Shylock an antisemitisch motivierte Stereotype heranrücken, selbst wenn man sie reflektieren will? Wie werden Figuren wie Shylock überhaupt zu Projektionsflächen dafür? Entstehen die Klischees nicht erst in unserem Blick?

In die Tragödie träumt sich eine Komödie

Harter Schnitt! Patrick Schlösser hat ja nicht einfach den "Kaufmann von Venedig" inszeniert. Der Abend heißt vollständig "Der Kaufmann von Venedig und sein Traum von Was ihr wollt". Und das geht so: Kaum setzt Shylock in der entscheidenden Szene das Messer an, um seinen Schuldschein einzulösen und Antonio ein Pfund Fleisch nächst dem Herzen herauszuschneiden, macht dieser eine Art Nahtoderfahrung und träumt sich in die Shakespeare-Komödie "Was ihr wollt" hinein. Auf einmal verkehrt sich alles. Während stetig vom Schnürboden Traum-Schaum auf die Schlammbühne rieselt und sich zu einem stattlichen Hügel auftürmt, ist das Unterkühlte des "Kaufmanns" nun wie weggeblasen. "Humor, wenn es dich wirklich gibt, bring' mich in Stimmung", sinniert der von Peter Elter herrlich pierrothaft verkörperte Narr, und los geht's mit prallster Komödie.

Das Eigenartige ist: Die im "Kaufmann" nur beiläufig gestreiften Motive werden nun plötzlich auf verrückte Art greifbar. Antonios Homosexualität wird im Traum zu einer wilden Transgender-Fantasie: Christoph Förster, der im ersten Teil Bassanio, der Geliebte des Kaufmanns, war, spielt nun Viola, das Mädchen, das als Junge verkleidet in die Dienste des schwermütigen Herzogs Orsino (konsequenterweise wieder Thomas Meczele) tritt. Förster gelingt das Kunststück, diese Viola in einem androgynen, niemals tuntigen, nur manchmal zart angeschwulten Zwischenreich anzusiedeln – die Geschlechterverwirrung, mit der Shakespeare ohnehin fortwährend spielt, wird so auf die Spitze getrieben.

Grandiose Typen, harter Stoff

Der eigentliche Kunstgriff Schlössers aber besteht darin, die Rollen von Shylock und Malvolio ineinanderfallen zu lassen. Malvolio, der sittenstrenge puritanische Diener aus "Was ihr wollt", ist ein Außenseiter wie Shylock, nur weitaus naiver. Und folgerichtig wird er zum Opfer einer wahrlich infamen Intrige seiner Mitmenschen. Alexander Weise darf hier zwar als treuherzig gelackmeierter Snob den begnadeten Komödianten geben, doch er findet auch herzzerreißende Töne für die Abgründe, die sich Malvolio in seiner brutalen Demütigung offenbaren.

Wenn des Kaufmanns "Was ihr wollt"-Traum zum Ende kommt, ist Shylock durch Malvolio hindurch ein anderer geworden. Es scheint, als habe Shylock, um sich die Demütigung Malvolios vom Leib zu halten, die Rolle des Judenklischees bewusst auf sich genommen: Lieber bewusst der Außenseiter sein als zu einem gestempelt werden. Die überaus bittere Pointe von Patrick Schlössers Inszenierung ist, dass seinem Shylock die letzte Entwürdigung trotzdem nicht erspart bleibt. In Abweichung zu Shakespeare wird Shylock hier nicht dazu verurteilt, Christ zu werden, sondern man lässt ihn die antisemitisch vorcodierte Rolle des Juden weiterspielen und in ihr hässlichstes Extrem treiben. "Meine Rolle muss weitergehen", sagt Alexander Weise und verwandelt sich in die Karikatur eines osteuropäischen Juden, wie sie der "Stürmer" abscheulicher nicht hätte erdenken können.

Bei all dem grandiosen Typen-Spaß, den der "Was ihr wollt"-Teil aufbietet: Dieser "Kaufmann"-Schluss ist harter Stoff.

 

Der Kaufmann von Venedig und sein Traum von Was ihr wollt
von William Shakespeare
Deutsch von Erich Fried und Thomas Brasch
Regie: Patrick Schlösser, Bühne: Daniel Roskamp, Kostüme: Katja Wetzel, Musik: Wolfgang Siuda, Dramaturgie: Thomaspeter Goergen, Choreinstudierung: Alexander Weise.
Mit: Thomas Meczele, Christoph Förster, Alina Rank, Nora Dörries, Björn Bonn, Alexander Weise, Eva Maria Sommersberg, Franz Josef Strohmeier, Thomas Sprekelsen, Dieter Bach, Peter Elter, Peter Bauche, Jens Brömer, Alfred Daniels, Stefano DeBortoli, Fritz Kutzer, Dankwart Pankow-Horstmann.
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause

www.staatstheater-kassel.de

 

Mehr über den Kaufmann von Venedig? In Hamburg inszenierte Mitte September 2012 Dominique Schnizer die Uraufführung von Albert Ostermaiers Variation des Stoffes Ein Pfund Fleisch. Anfang Januar 2012 legte Barrie Kosky am Schauspiel Frankfurt eine radikale Lesart des Shakespeare-Originalstückes vor.

 

Kritikenrundschau

Es gebe "diese Wackelbilder, auf denen man etwas anderes erkennt, je nachdem, wie man das Bild kippt", schreibt Bettina Fraschke in der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen (24.9.2012). "In zweidreiviertel intensiven Theaterstunden" entlarve Regisseur Patrick Schlösser "unsere gesellschaftlichen Zuschreibungen als solche Wackelbilder". Wenn die "Was ihr wollt"-Handlung bei Schlösser wieder zum "Kaufmann" zurückkhert, seien "die Identitäten unschärfer geworden. Wie bei einem Kamerafokus, den man weiter aufgedreht hat. Das Theater-Experiment funktioniert, Übersichtlichkeits-Fanatiker werden es damit aber nicht leicht haben." Der "großartige" Alexander Weise zeige "am überzeugendsten, wie sich die beiden Wackelbild-Figuren gegenseitig verstärken können." Sein "malvolio-isierter Shylock" wisse: "Es ist die Gesellschaft, die ihre Außenseiter erschafft, und er bedient ihre Erwartungen in tiefster Bitterkeit."

 

Kommentare  
Kaufmann von Venedig, Kassel: geringer Erkenntniswert
Gestern hatten wir die Gelegenheit, die Aufführung "Der Kaufmann von Venedig und sein Traum von Was ihr wollt" am Staatstheater Kassel zu besuchen. Leider konnten wir diesen knapp drei Stunden nichts außer Langeweile abgewinnen. Für das Marketing und das Feuilleton ist es natürlich eine tolle Sache, die zwei Stücke zu Verbinden - warum sonst sollte Nachtkritik diese Premiere besprechen. Aber der Erkenntniswert dieser Kombination hält sich am Ende doch sehr, sehr in Grenzen. Bei den Schauspielern hatte man das Gefühl, als seien sie mit ihren Figuren von der Regie alleine gelassen worden. Schade.
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