Übertechnifiziert

von Katrin Ullmann

Hamburg, 22. September 2012. Der Anfang ist klug. Ist schlicht und ergreifend. In einem rosaroten Patchworkoutfit (Kostüme: Inga Timm) steht Birte Schnöink als Eve vor dem Eisernen Vorhang und erzählt, was und wie ihr geschah. Sie erzählt vom Dorfrichter Adam, der ihr einen Deal angeboten, der sie erpresst hat. Um ihren Verlobten Ruprecht vom vermeintlich fernöstlichen Fronteinsatz freizustellen, könne er ihr für diesen ein Attest besorgen, Beziehungen habe der Richter genug. Eine kleine "Liebenswürdigkeit" wäre doch sicherlich möglich?

Gleich zu Beginn kein Zweifel

Und so erzählt Eve, dass Richter Adam sie deshalb nachts um elf aufgesucht hat, ihr in die Kammer folgte, ihre Hände umfasste und so weiter, bis er bei seinem hektischem Aufbruch einen wertvollen Krug zerbrach und seine Perücke verlor. Schüchtern, naiv und gleichsam bang eine Mitschuld vermutend schildert Birte Schnöink die Ereignisse der Tatnacht.

Ganz ruhig steht sie vor dem Eisernen Vorhang und bewegt durch nichts als durch ihre zarte Stimme und ihre Geschichte. In Kleists "Der zerbrochene Krug" ist es ihre Aussage vor Gericht, ihr Schlussmonolog – Bastian Kraft hat Eves Aussage zusammengeschnitten und seiner Inszenierung vorangestellt. So lässt gleich zu Beginn keinen Zweifel aufkommen, wie es hier in Sachen Schuld / Unschuld, Recht / Unrecht bestellt ist. Der Anfang ist klug. Ist klar und konzentriert.

Videoduell

Doch dann hebt sich der Eiserne Vorhang, und ein wildes Bühnenspektakel nimmt seinen Lauf. Tatsächlich ist es zunächst ein Videofilmspektakel (Bühne & Video: Peter Baur), in dem sich Dorfrichter Adam (Philipp Hochmair) und sein Gerichtsschreiber Licht (Tilo Werner) mithilfe einer Videokamera gegenseitig duellieren. Ihre Gesichter erscheinen abwechselnd bühnengroß, Schnitt, Gegenschnitt ist das Erzählverfahren, später folgen alptraumhafte Überblendungen. Unüberhörbar gesellen sich dazu singuläre Klavieranschläge und die lauthalsen Ergebnisse ambitionierter Frickel-Elektronik; Arthur Fussys Klänge lassen zerberstendes Porzellan assoziieren.

Dorfrichter Adam natürlich ist verletzt, verbunden und verpflastert. Ein Gerichtsrat hat seinen Besuch angekündigt. Vor diesem Revisor – bei Bastian Kraft als Frauenrolle angelegt – muss er nun Gerichtstag halten. Dass der Dorfrichter dabei über eine Tat Gericht sitzt, die er selbst begangen hat, ist in Kleists Lustspiel von 1808 Kern der Geschichte und mitunter Anlass zum Amüsement.

Krug1 hoch KrafftAngerer h"Der Zerbrochne Krug": Aufbewahrungssystem für Schauspieler. © Krafft Angerer

Ins Dekolleté geworfen

Bastian Kraft, der am Thalia in der Gaußstraße erfolgreich Amerika, Axolotl Roadkill und zuletzt Orlando inszenierte, zeigt mit dem "Zerbrochenen Krug" seine erste Arbeit auf der großen Bühne. Dafür hat durchweg erstklassige Schauspieler: Sabine Orléans als Gerichtsrätin etwa, die herrlich souverän über den "Kruuug" hinweggurrt, wenn Sandra Flubacher als Marthe Rull diesen in ungemein beharrlicher und leidenschaftlicher Ausführlichkeit beschreibt. Tilo Werner, der für sein Gerichtsprotokoll einem quietschenden Edding seine Stimme leiht und so einen winselnden und kontinuierlichen witzigen Kommentar erstellt. Julian Greis, der als unschuldsblonder Ruprecht nervös stockend seine Version der Geschichte wiedergibt und natürlich Philipp Hochmair, der sich spontan so manches Gesetz ausdenkt, sich voller Erregung in Stimme und Stimmung zu überschlagen droht, der klettert und kokettiert und sich auch mal in das raumgreifende Dekolleté der Gerichtsrätin wirft – als letzte verzweifelte Charmeoffensive.

Fokus verloren
Auch wenn der ein oder andere Darsteller mehr Eigendynamik als Regieidee verkörpert: Das Ensemble ist durchweg großartig, keine Frage. Krafts eigentliche Überforderung an diesem Abend scheint Peter Baurs Bühnenbild zu sein. Auf ein schlichtes Vorspiel lässt Baur großformatige Projektionen folgen, anschließend eine Hängeboxensammlung über zwei Etagen, in dem die acht Darsteller einzeln verstaut sind, bevor auch diese wieder abgebaut wird – offener Umbau! –, um einer stählernen Riesenwippe (wohin balanciert die Rechtssprechung?!) Platz zu machen. Dahinter und dazwischen spielt er immer wieder Projektionen ein, mal schattenhafte Scherenschnitte, mal überdimensionale Fratzen. Überwachung, Täuschung, Lügen, Intrigen, Macht, Ausweglosigkeit und auch ein wackeligen (Rechts)system: Baur will viel bebildern, baut auf Technik statt auf theatrale Behauptung. Den inhaltlichen Fokus haben Baur und Kraft alsbald aus den Augen verloren – sobald sich der Eiserne Vorhang hebt.

 

Der zerbrochne Krug
von Heinrich von Kleist
Regie: Bastian Kraft, Bühne & Video: Peter Baur, Kostüme: Inga Timm, Musik: Arthur Fussy.
Mit: Sabine Orléans, Philipp Hochmair, Tilo Werner, Sandra Flubacher, Birte Schnöink, Axel Olsson, Julian Greis, Marina Wandruszka.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.thalia-theater.de

 

Kritikenrundschau

Bastian Kraft erteile "dem Slapstick eine Absage und zeigt ein System, in dem es niemanden um die Wahrheit geht", meint Alexander Kohlmann auf Deutschlandradio Kultur (24.9.2012). "Man muss nicht erst im Programmheft Verweise auf die Affären Gutenberg und Wulff lesen, um das fatale Duo aus Gerichtsrätin Wagner und ihrem Richter Adam in Verbindung mit den letzten Affären des politischen Berlins zu bringen. Alleine, dass Bastian Kraft auf die platte Aktualisierung zugunsten einer absolut überzeugenden Systemanalyse verzichtet, kann dieser Inszenierung gar nicht hoch genug angerechnet werden."

So toll es für den Moment sei, "den mit Verbänden und Wunden versehenen Adam im Kamerakampf mit seinem ehrgeizigen Adlatus Licht in Überlebensgröße zu sehen, so ermüdend ist es auf Dauer", schreibt Monika Nellissen in der Welt (24.9.2012). Viel schöner sei es, "den beiden dabei zuzuhören, wie sie Kleist und dessen herrlicher Sprache florettscharf gerecht werden." Schwer symbolträchtig seien auch "die acht in zwei Etagen übereinander aufgehängten käfigartigen Zellen", und auch hier seien die Schauspieler "vernetzt und verkabelt. Doch beobachten wir sie mit dem größten Vergnügen, wie sie im Sinne Kleists ihre Sicht und ihre Interessen vertreten."

Auch Klaus Witzeling vom Hamburger Abendblatt (24.9.2012) hat den Schauspielern gerne zugesehen. Und lässt sich vom Gesamtkonzept überzeugen: Bastian Kraft hole "die Kleist-Komödie aus der miefigen Milieustudie eines niederländischen Provinznests heraus." Er statuiere "auf der Text-Basis ein doppelbödiges Exempel über die Machtstrukturen in der Sprache, im sozialen System und in den individuellen Beziehungen." Krafts "spiellustige, mit Schattenspiel und klirrendem Soundtrack auftrumpfende Inszenierung" lasse "sich als illusionslose Parabel auf heutige Zustände lesen: In einer zerrissenen Zeit liegt das Gesetz in Scherben. Die einzelnen Trümmer dienen lediglich den jeweiligen Interessengruppen in Politik und Wirtschaft zur Auslegung in ihrem Interesse".

Im Kern ist "Der zerbrochne Krug" ein launiger Schwank, der zum Chargieren einlädt, so Till Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (28.9.2012). "Bastian Kraft wollte nun im großen Haus zeigen, dass man dem Spaß-Klassiker und seinen Schauspielern das Leben echt schwer machen kann." Zum Beispiel, indem er den Gerichtstermin um den Richter, der der Täter ist, in eine Art Videokonferenz verwandle. "Dass aus der Käfighaltung (Bühne und Video Peter Baur) doch noch eine Komödie wird, verdankt Kraft den komischen Künsten der Akteure. Philipp Hochmair macht sich artistisch zum Affen und verwandelt den Richter in einen Klassenclown. Tilo Werner als Schreiber quietscht in den Gaudipausen, als schriebe er mit Filzstift auf Glas. Und der Gerichtsrat Walter ist mal wieder eine Frau, die bei Sabine Orléans zur grantigen Kiez-Wirtin wird."

 

Kommentare  
Krug, Hamburg: aber dadurch genial
Ich meine den inhaltlichen Fokus sehr wohl offen gesehen zu haben, nur eben nicht in einer direkten
Klassischen Form, sondern indirekt durch optische Assoziationen.
Die acht Boxen sind miteinander verbunden, sodass jede Regung an einer stelle
Auswirkungen auf alle anderen hat.
Trotzdem agiert jeder auch für sich allein, jeder verfolgt andere Ziele.
Die Videoprojektionen verstärken die persönliche Ansprache.
Von daher mein Resümee: eigenwillig, anspruchsvoll, aber dadurch genial...
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