Der helle Wahnsinn

von Ralph Gambihler

Weimar, 22. September 2012. In alten Shakespeare-Ausgaben findet man "Das Wintermärchen" stets unter den "Romanzen" eingeordnet, womit vor allem der wundersamen Wendung der Handlung vom Tragischen zum Guten und Versöhnlichen Rechnung getragen wird. Diese Genrebezeichnung war eigentlich immer ein kleiner Schwindel, aber wenn man nun Lisa Nielebocks glänzende Weimarer Inszenierung gesehen hat, kann man sie ganz vergessen – trotz eines ausnehmend versöhnlichen Schlusses, der kaum weniger rührselig ist als triefender Liebesschmonz aus Hollywood.

Nielebock erzählt ein Stück über den Wahn, wie es schärfer und schmerzlicher kaum sein könnte. Der sichtbare Aufwand, den sie und ihr Ausstatter Sache Gross dafür treiben, ist minimal und erinnert von Ferne an Jürgen Goschs legendäre Onkel Wanja-Inszenierung am Deutschen Theater. Gespielt wird in einem grauen, leergefegten, nach oben offenen Kasten, dessen einzige Auffälligkeit der umlaufende Vorsprung ist, auf dem die dauerpräsenten Darsteller sitzen, stehen oder liegen, wenn sie gerade nicht dran sind. Der Raum wirkt wie ein Brennglas für die offenen und unterschwelligen Konflikte. Er verzeiht keine Fehler und belohnt genaue Arbeit mit flirrender Intensität.

Die Paranoia der Macht
Vom Wahn befallen wird Leontes, der König von Sizilien. Sein Wahn ist im Grunde nichts anderes als rasende Eifersucht, die allerdings vom eigenen Herrschaftsanspruch unheilvoll durchdrungen ist und alles ins Krankhafte steigert. Man greift sich da wirklich an den Kopf! Wie kann aus dem Klima des Verdachts und des Misstrauens, das sich auf der Bühne binnen weniger Minuten ausbreitet, ein solches Bestiarium menschlicher Verheerungen werden? Aber so verrückt die Sache auch sein mag: sie wird für alle Beteiligten zur grausamen Realität. Und paradox: Selbst das wundersame Happy End (an dem sich Generationen von Regisseuren abgearbeitet haben) erscheint bei Lisa Nielebock wie eine Fortsetzung dieses Wahns mit anderen Vorzeichen.

wintermaerchen1 560 ThomasAurin uDas Weimarer "Wintermärchen" © Thomas Aurin

König Leontes also ist eifersüchtig. Er hat seinen Freund Polixenes, den König von Böhmen, neun Monate als Gast bei sich beherbergt, die Stimmung muss ausgelassen und prächtig gewesen sein. Aber auf einmal, kurz vor dem nahen Abschied, fühlt sich Leontes betrogen. Polixenes habe etwas mit seiner Frau Hermione – so behauptet der Gastgeber. Damit beginnt das Stück. Beweise gibt es nicht. Alle versuchen, den Eifersüchtigen von der Unhaltbarkeit seiner Behauptung zu überzeugen. Doch der lächelt weiter sein gefährlich gefrorenes Lächeln, beharrt, glaubt sich von Lüge und Infamie umzingelt und in seiner Herrschaft angefochten. Seine Eifersucht hat paranoide Züge. Sie ist auch eine Frage der Macht.

Garantiert spektakelbefreit
Bei Richard Wagner ist der Wahn ein süßes Gift, aufgelöst in immer neue Variationen chromatischer Verzückung. Er bleibt unfasslich und dunkel. Hier, im Shakespeare-Konzentrat von Lisa Nielebock, tritt er einem mit der Klarheit und Konsistenz eines Gegenstands entgegen. Man kann ihn von allen Seiten betrachten, quasi unter Laborbedingungen. Und die Glanzleistung des Abends besteht nun eben darin, wie plastisch und unaufgeregt das Ensemble den Wahn, wo er mit Macht zusammenfällt, als Ursache einer radikal veränderten Wirklichkeit zeigt. Im Schatten eines derart hoch angesiedelten, in diesem Fall königlichen Wahns wird es sehr, sehr dunkel. Wir aber sehen alles in hellem Licht.

Eine große Redeschlacht ist der Abend ohnehin, ein zartes wuchtiges Ding, 110 knackige Minuten kurz, garantiert spektakelbefreit und manchmal mit einem Hauch von Poesie. Die Kleider und Gesten sind von heute, die Sätze von gestern (man spielt die griffige Übersetzung von Peter Zadek und Corinna Brocher). Die Darsteller spielen famos und brillieren als Ensemble. Johannes Schmidt zeigt einen grimmig entschlossenen Leontes, Markus Fennert einen mit Umsicht gefassten Polixenes. Caroline Dietrich nimmt man die anfängliche Unbekümmertheit der vermeintlichen "Hure" gerne ab. Wunderbar auch Nico Delpy als genervter und gewitzter Camillo. Aber gut waren sie eigentlich alle. Theater kann beglückend sein.

Das Wintermärchen
von William Shakespeare
Deutsch von Peter Zadek und Corinna Brocher
Regie: Lisa Nielebock, Ausstattung: Sascha Gross, Licht: Alexander Gandl, Dramaturgie: Jürgen Otten.
Mit: Johannes Schmidt, Caroline Dietrich, Michael Wächter, Jeanne Devos, Markus Fennert, Hagen Ritschel, Nico Delpy, Mirjam Smejkal.
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

 

 

Kritikenschau

Nielebock erzähle keine schöne Romanze, "sie zeigt eine pathologische Studie", schreibt Henryk Goldberg in der Thüringischen Allgemeinen (24.9.2012). Neben einer "traumschönen", Regen-Szene, "die allein den Abend lohnt", preist die Kritik vor allem Johannes Schmidt: "Dieser Schauspieler ist hier ganz bei sich. Die Pathologie eines Unheilbaren, der so ist, weil er so ist. Wie sein Gesicht zerfließt in greinender Selbstgewissheit, wie er lächelt in angemaßter Überlegenheit. (...) Wie er die Hände spielen lässt auf der Klaviatur der kranken Seele, mit kranker Eleganz." Fazit: ein "Abend, der die Saison auf der großen Bühne hoffnungsvoll eröffnet".

Nielebock reduziere Shakespeare "auf seinen psychologischen Kern" und hole das "Wintermärchen" von der sizilianischen und "böhmischen" Küste an einen anderen, viel exotischeren Ort: der Psychiatrie, fasst Frank Quilitzsch die Inszenierungsidee in der Thüringischen Landeszeitung (24.9.2012) zusammen. Sie "verfährt sehr frei mit der Vorlage, streicht zusammen, stellt um und montiert gegenwärtiges Alltagsdeutsch mit hinein."  Obwohl der zweite Teil des Abends "nicht die Intensität des nuancenreich ausgespielten Eifersuchtsdramas vom Beginn" erreiche und "es dem textunkundigen Zuschauer nicht gerade leichtgemacht wird, sich im familiären Psycho-Pool zurechtzufinden", gibt es offensichtlich doch viele grandiose Ideen, und so endet die Kritik denn auch im Jubel: "Herrje, was mach ich bloß mit all diesen Wundern? mag Nielebock bei der Shakespeare-Lektüre hin und wieder geseufzt haben. Sie packt sie in eine große Tüte, aus der Hagen Ritschel am Ende verbal das Publikum beschenkt. Wahnsinn!"

Der Abend zerbreche in zwei Teile, findet auch Michael Plote in der Südthüringischen Zeitung (24.9.2012). "Den ersten Teil des Märchens, die tragische Geschichte, erzählt Regisseurin Lisa Nielebock ausführlich und in vielen Facetten, lässt uns in menschliche Abgründe schauen, das Böse lauert überall, Intriganten treiben angeblich ihr Spiel, der Hof in Sizilien ist eine Welt in Auflösung. Das ist berührend, verstörend und packend inszeniert." Die Wendung ins Heitere nach der großen Sintflut komme jedoch "abrupt, unvermittelt und überzeugt nicht, zumal in diesem Tempo, im Gegensatz zum ausführlich erzählten ersten Teil."

 

 

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