Frau Badeärztin wird radikal

Von Simone Kaempf

Berlin, 28. September 2012. Das ist doch mal eine wirklich überraschende Ibsen'sche Frauenfigur: eine gut situierte Ärztin, Frau Doktor Stockmann, die Mann und Kinder ernährt, den Umweltskandal der hiesigen Badeanstalt aufdeckt und, wichtiger noch, die nicht ein Produkt der Männerwelt ist, aus der sie auszubrechen versucht, sondern als Zentrum einer kleinen Wohn-Community alle Interessen auf sich zieht.

Ein übertrieben großes Sofa, Küchenecke und ein DJ-Pult sind ganz vorne auf der Bühne in die Breite gezogen. An den Herdplatten kocht ihr Mann das Mittagessen, trinkt grünen Tee, und wie es bei solchen Aufgabenverteilungen eben ist: nun wartet der Ehemann zu Hause darauf, dass das Kind aus der Schule und die Frau von der Arbeit kommt. Eine der vielen Verschiebungen, die Regisseurin Jorinde Dröse im Maxim Gorki Theater ziemlich geschickt vornimmt.

Vor der Pause: Partystimmung

Dass der Badearzt Thomas Stockmann zur Badeärztin wird, gespielt von Sabine Waibel, ist der offensichtlichste Rollenwechsel der Inszenierung. Doch dient er nicht der Analyse der Gender-Untiefen, sondern hilft bei einer Milieustudie, die, ähnlich wie Thomas Ostermeiers Ein Volksfeind, der vor drei Wochen an der Schaubühne seine Berlin-Premiere hatte, eine verbürgerlichte halb-linke Großstadtschicht zeigt, nur etwas poppig bunter. Ein DJ mit Rastafrisur mischt sich hier wie selbstverständlich mit dem Journalisten Hovstad in Anzug und Turnschuhen.

High Life bei Frau Badeärztin: Matti Krause, Sabine Waibel, Gunnar Teuber. © Bettina StößIn diesem Setting gibt es immer etwas zu feiern und einen Grund sich zu freuen: Wenn sich Ärztin Stockmann und ihr Bruder treffen, knuffen und umarmen sich beide. Trifft der Brief ein, der belegt, dass das Wasser des Kurheilbades verunreinigt ist, wird Musik aufgelegt und auf dem Sofa gesprungen. Beschließt die Ärztin zusammen mit den Redakteuren Hovstadt und Billing die Veröffentlichung des Artikels, herrscht Partystimmung.

Hier blitzt eine im Grunde fröhliche Welt auf, die die Konsequenzen ihres Handelns wenig mitdenkt. Das ist einerseits sympathisch, andererseits auch gefährlich, denn wenn die Interessenkonflikte offenbar werden, knickt man umso schneller ein.

Nach der Pause brennt die Stadt

In diesem Ambiente spielt sich Ibsens Stück hervorragend, in dem es um die Widersprüche und Macht-gelenkten Interessen geht und das davon erzählt, wie nach der kollektiven ersten Empörung über den Umweltskandal schnell wieder das Interesse des Einzelnen siegt. Badeärztin Stockmanns Haltung aber erzählt Dröse als einen Weg der politischen Radikalisierung. In der Pause ziehen die Schauspieler mit Mikrofonen durchs Foyer und streiten über den Charakter dessen, was fürs Volk getan werden muss, bis Sabine Waibel eine Brandrede für einen aus Hass gespeisten Aufstand hält, der unter anderem aus Texten von Gudrun Ensslin besteht. Und so wie es für Ensslin keinen Weg zurück gab, kehren die Figuren bei Dröse nicht zurück an Herd und Sofa.

hp2volksfeind529 280 bettina stoess uSabine Waibel als Badeärztin. © Bettina StößDie Bühne ist nun leergeräumt und düster in Nebel getaucht. Dass mit der Abstrafung der Badeärztin zur Volksfeindin die alte Ordnung wiederhergestellt sein soll, wie Ibsen es vorsieht, da geht Dröse nicht mit. Aber am Ende eine Stimmung zu verbreiten als würde die Stadt brennen, funktioniert auch nicht und wirkt eher wie ein Riss, der nicht durch die Gesellschaft, aber durch die Inszenierung geht. Schade.

Sorge um die Verhältnisse

Dennoch ist dieser "Volksfeind" schlüssiger als jene, die man in den vergangenen Monaten sah. Daran hat Sabine Waibel einen schönen Anteil, die die Wendung zur verkappten Terroristin absolut überzeugend verkörpert, und nicht nur im Beharren auf eine Wahrheit handelt, wie viele männliche Stockmann-Darsteller, man nimmt ihr die Sorge um die Verhältnisse viel besser ab. Das ist subtil gesetzt und hält sich die Waage, so wie die Geschlechterrollen auch erst dann zum Thema werden, wenn es zum Streit um die Messergebnisse kommt.

Der Generationenkonflikt wird angetickt, es ist nun die Tochter, die sich weigert den Text eines französischen Philosophen zu übersetzen, der aufruft, sich zu empören, aufs Land zu ziehen und noch komischere andere Dinge zu tun. Julischka Eichel spielt das in einer klasse Szene, bei der die Belustigung der Spätgeborenen mitschwingt. Und man kann das auch als kleine Persiflage auf Lukas Langhoffs zum Theatertreffen eingeladenen Bonner Volksfeind lesen, in dem diese Tochter voller Überzeugung das Brecht-Eisler'sche Einheitsfrontlied vortrug.

Ihren Schabernack treibt die Inszenierung aber auch mit Ostermeiers Pendant an der Schaubühne. Beide Arbeiten ergänzen sich hervorragend: der pädagogische Ernst der Schaubühne fehlt Dröse am Maxim Gorki Theater, aber dafür tragen die Figuren hier die Ambivalenz in sich, die ihnen dort fehlte. Und während an der Schaubühne die Schauspieler in einem Zwischenspiel mit Farbbeuteln ins Publikum zielen, sozusagen das System draußen ins Visier genommen wird, darf hier das Publikum das System vorne in Beschuss nehmen – alles eine Frage der Sichtweise, welche Seite zum Sündenbock erklärt wird. So machen sich beide Inszenierungen gegenseitig keine Konkurrenz, man muss sie beide sehen, um zu begreifen, wie vertrackt unsere Lage wirklich ist.

 

Ein Volksfeind
von Henrik Ibsen
Regie: Jorinde Dröse, Bühne: Annette Riedel, Kostüme: Almut Eppinger, Musik: Philipp Haagen, Dramaturgie: Sibylle Dudek.
Mit: Sabine Waibel, Julischka Eichel, Cornelius Schwalm, Ronald Kukulies, Andreas Leupold, Albrecht Abraham Schuch, Matti Krause, Philipp Haagen, Gunnar Teuber.
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause.

www.gorki.de

 

Mehr zu den Ibsens Volksfeind, den es in den letzten zwei Jahren auch auf nachtkritik.de in Hülle und Fülle gab: Im November 2010 inszenierte Bettina Bruinier am Münchner Volkstheater, in Solothurn legte Katharina Rupp im Januar 2011 einen Volksfeind in der Mediengesellschaft vor. Im Juni 2011 kam "Ein Volksfeind" von Robert Schuster in Bremen heraus, in Basel inszenierte Simon Solberg gewohnt unterhalsam im September 2011, der Bonner Volksfeind von Lukas Langhoff wurde gar zum Theatertreffen 2011 geladen und zuletzt nutzte Thomas Ostermeier im Sommer 2012 zuerst in Avignon, danach an der Berliner Schaubühne den Stoff zu einer Befragung der Herrschaftsform Demokratie.

 

Kritikenrundschau

Der Abend wähle immer wieder die Groteske, um der Verzweiflung im Stück Herr zu werden, findet Tobi Müller im Deutschlandradio Kultur (28.9.2012). Bei Dröse seien "die Frauenstoffe immer auch Männerstoffe". Die Hysterie von Waibels Ärztin Stockmann, die typisch sei für Dröse, heiße: "ein Symptom der Männerwelt darstellen, die die Frau umgibt. Die Hysterikerin ist jene Figur, die die Anforderungen der Männerwelt viel ernster nimmt als die Männer selbst, sie übertreibt jeweils bis zum Zerrbild." Obwohl Müller lobt, dass es jetzt zwei "Volksfeinde" in Berlin gebe, "grotesk und schrill im Maxim Gorki Theater, etwas zarter und genauer in der Schaubühne", fragt er: "Ist die Öffentlichkeit, wie sie Ibsen beschreibt, wirklich noch unsere?"

Einerseits wirke die Theaterwelt mit ihren läppischen Querverweisen an diesem Abend besonders klein. Andererseits trumpfe die dritte "Volksfeind"-Inszenierung in Berlin innerhalb weniger Monate mit einem Clou auf: Bei Jorinde Dröse ist Stockmann eine Frau, schreibt Andreas Schäfer im Tagesspiegel (1.10.2012). "Und die Konstellationen, die sich aus dieser Verschiebung ergeben, führen tatsächlich zu einer handvoll witziger Szenen und schön beobachteter Miniaturen über die Gegenwart." Ähnlich wie Thomas Ostermeier beziehe auch Jorinde Dröse Ibsens Kleinstadtbevölkerung auf die empörten Narzissten von heute. "Nur geraten ihre Figuren nicht so holzschnittartig, schlüpfen spielerischer in Klischees rein und wieder raus." Die famose Sabine Weibel als rabiate Badeärztin treffe die Nuancen der Selbstgerechtigkeit mit staunenswerter Präzision. "Die Sollbruchstelle jeder 'Volksfeind'-Inszenierung markiert ohnehin die revolutionäre Rede des Badearztes vor der Stadtgesellschaft – und hier scheitert Dröse genauso wie Ostermeier."

"Der Zeigefingerhammer kommt spät an diesem Abend, aber er kommt. Unten im Foyer des Gorki-Theaters, nach der Pause", so Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (1.10.2012). Die Volksfeindin brandrede dann Passagen aus Gudrun Ensslins Gefängnisbriefen. Wenn Jorinde Dröse diesen Stockmann von Sabine Waibel spielen lasse, "die ihren Weg von der aufrechten Streiterin für die gute Sache zur schäumenden Richterin über die schlechte Gesellschaft in schöner Geradlinigkeit durchmarschiert", ist der Revolutionsdrops dennoch schnell gelutscht. Fazit: "Ostermeiers Abend pendelt – vorsichtig zwar, aber vernehmlich – eher Richtung Barrikaden. Dröse hält es dagegen mit einem Supersofa, auf dem sich hervorragend von Rebellion dampfplaudern lässt."

Jorinde Dröses "Volksfeind" ist einer, der versucht, die großen Worte auf ihre konkrete Bedeutung abzuklopfen, bilanziert Katrin Bettina Müller in der taz (1.10.2012) die Inszenierung, in der sie sehr viel Gutes gesehen hat. "Im Regiestil von Jorinde Dröse erhält vieles Sichtbarkeit, ohne deshalb banal zu wirken." Das komme der Beweglichkeit des Denkens zugute. "Dröse hält die großen Spannungsbögen und legt am Ende sogar noch mal an Tempo zu. Geschickt sind die Wechsel in der Erzählperspektive." Und: "Katharinas Radikalisierung, als sich ihr Beharren auf der Vernunft in Hass auf alle verkehrt, die ihre Einsicht nicht teilen, erleben die Zuschauer hautnah in der Pause. Mit dem Mikrofon, das ihr die anderen Schauspieler ständig wegnehmen wollen, rennt Sabine Waibel im Foyer zwischen den Zuschauern umher, klettert auf Bänke und Tresen, kämpft als Katharina um das Wort, kämpft aber auch als Sabine Waibel um jeden Gedanken, um mit ihm uns, das Publikum, zu packen."

 

Kommentare  
Volksfeind, MTG Berlin: macht mehr Spaß
Jorinde Dröse macht einiges besser als Lukas Langhoff und Thomas Ostermeier in ihren Volksfeind-Inszenierungen - einen wirklichen Zugang findet sie auch nicht. Der Abend funktioniert ganz gut, solange er sich auf seine satirische Seite konzentriert. Auch die Ambivalenz der Stockmannschen Radikalisierung wird zumindest angedeutet, aber die Hysterie der Titelfigur, das zwanghaft-überdrehte Spiel und der hektische Aktionismus der Inszenierung verbergen die ernsteren und nachdenkenswerteren Aspekte immer wieder. Dröses Volksfeind macht erheblich mehr Spaß als Ostermeiers, aber sollte er das eigentlich?

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2012/10/20/sofa-in-den-terror/
Volksfeind, Gorki Berlin: viel Food for Thought
Eine wirklich gelungene Inzenierung und eine Freude das Zusammenspiel - vor allem von Julischka Eichel und Sabine Waibel - zu erleben. Zwanghaft überdrehtes konnte ich nicht erkennen. Vielmehr eine frische und lebendige Herangehensweise und viel food for thought. Diese Vorstellung macht Appetit auf mehr. Freue mich schon auf die Fortsetzung der "Volksfeindfestspiele" bei Ostermeier und im Hans-Otto.
Volksfeind, Gorki Berlin: das Smartphone, der Supergau (1)
Berlin, den 06.02.2013
Volksfeind I
Maxim Gorki Theater, Regie: Jorinde Dröse, gesehen am 30.01.2013
Wenn man an einem Wochentag mitten in der Theater-Saison ins Gorki-Theater geht, kommt es einem so vor, als hätte sich eine S-Bahn ins Foyer verirrt. Immer sind ein paar Schulklassen dabei. Und wie im nahen Bahnhof Friedrichstraße drängelt sich der S-Bahn-Inhalt die Treppe hinauf. Oben angekommen lassen sich Großstadt-Passanten in Ermangelung eines Ausgangs erst einmal in die Sitze plumpsen. Die Gorki-Truppe macht es sich nun zur Aufgabe, dieses scheinbare Zufallspublikum für 2 bis 3 Stunden zu halten und hat offenbar einen Heiden-Respekt davor: We have to entertain you. Der Supergau wäre, wenn nach 10 Minuten immer mehr Gelangweilte ihre Smartphones zückten und simsten, surften, telefonierten oder Musik hörten. Oder gleich ganz wieder hinausgingen: Hey, Alter ist das hier uncool. Als Fingerzeig für ihren Unterhaltungsauftrag scheint der Gorki-Truppe eine soziologische Binsenweisheit zu dienen: Dass die Mehrheit der S-Bahn-Fahrer - und die Mehrheit der Schüler sowieso - gern grob geklotzte Talkshows, gefakte Gerichtsverhandlungen, Dschungelcamp, Bachelor und sonstwas gucken. Also legt man sich in einer Art Privatfernseh-Mimikry ins Zeug. Das funktioniert in Jan Bosses Der zerbrochene Krug sehr gut und auch bei Jorinde Dröse.
In einer fast DDR-mäßigen Subversivität lässt Jorinde Dröse hinter dem Spektakel ihre Subgeschichte vom Volksfeind mäandern. Wobei Mäandern angesichts der ziemlich geradlinig erzählten Story übertrieben erscheint. Die erste Kurve hat man als interessierter Theaterbesucher schon vorweggenommen: Man weiss bereits vorher, dass die Inszenierung aus dem Badearzt Thomas die Badeärztin Katarina Stockmann macht. Die Badeärztin Katarina tritt auf als Alpha-Frau, die im 1. Akt vor allem ihren Mann und ihre Tochter Petra herumkommandiert, aber auch den Respekt der Zeitungsleute Hovstadt und Billing genießt, während sie sich mit ihrem Bruder, dem Bürgermeister Peter Stockmann, auf Augenhöhe glaubt. Eine für mich erste überraschende Wendung nimmt die Inszenierung, als Katarina ausrastet, weil Tochter Petra – werkgetreu - den ersehnten Brief von der Universität mit den Ergebnissen der Analyse des Badewassers beiläufig und verspätet übergibt. Aus der hysterischen Reaktion von Katarina ist abzulesen, dass es gar nicht um heiß ersehnte wissenschaftliche Befunde, sondern um die soziale Führungsrolle geht. Diese Befunde der Badewasser-Verseuchung werden dann auch entsprechend klein gehalten. Das ist keine Schlüsselerkenntnis eines einsamen Wahrheitssuchers, der sich die Gesellschaft zum eigenen Nachteil verweigert. Die Badewasser-Verseuchung ist bei Jorinde Dröse so etwas wie die Atomkraft, wo mehr oder weniger jeder alle Argumente kennen kann und die Mehrheit mal dafür, dann wieder dagegen, dann wieder dafür und schließlich doch dagegen ist.
Katarina Stockmann ist eine Alpha-Frau, aber keine Einzelkämpferin. Sie muss von einer Bewegung getragen werden, der sie Stimme und Emphase verleiht. Und die Zeitungsleute Hovstadt und Billing sind die kümmerlich-wacklige Basis ihrer Bewegung. Diese Basis wird zunächst gefestigt durch den Buckdrucker und Vorsitzenden des Vereins der Hausbesitzer Aslaksen, der nie einen Hehl daraus macht, dass er von ökonomischen Erwägungen geleitet wird und keinesfalls einer revolutionären Bewegung angehören will. Durch den vorprogrammierten Entzug der Unterstützung Aslaksens bricht die Bewegung in sich zusammen., was erwartungsgemäß die 2. große Kurve der Inszenierung darstellt. Während Matti Krause als Billing angehalten ist, diese Kurve ganz locker zu nehmen, muss Albrecht Schuch die Mühen und körperlichen Qualen der 180-Grad-Gesinnungsdrehung intensivst vorexerzieren, während Sabine Waibel als Katarina Stockmann gar nicht mitbekommt, dass da eine Kurve ist. Mit der Folge, dass sie aus der Kurve fliegt, aus dem Spiel ist. Ohne Bewegung ist Katarina Stockamnn nichts, nur noch leichte Beute für Aslaksen und den Bürgermeister. Der Revolutionsdrops ist schnell gelutscht, befand Dirk Pilz in der Berliner Zeitung. Und das noch vor der Pause. Und genau mit dieser Überzeugung bin ich in die Pause gegangen.
Volksfeind, Gorki Berlin: kathartisches Erlebnis (2)
Volksfeind II
Dieser Widerwillen und die leichte Langeweile, dem absehbaren Gang der Geschichte zu folgen, entpuppen sich als weiterer subversiver Akt Dröses. Man fühlt sich in der Pause im Foyer wieder als anonymer Teil einer S-Bahn-Füllung, der sich den Zudringlichkeiten einer Schaustellerin erwehren muss, ist bemüht, nicht hinzuhören und keine Aufmerksamkeit zu wecken. Und während man sich nach dem Klingelzeichen fast erleichtert wieder die Treppe hochschiebt, bekommt man noch mit, wie die weiter laut polemisierende Katarina Stockmann - immerhin auch durch den eigenen Ehemann und die eigene Tochter - durch eine Seitentür hinausgeschoben wird und hofft insgeheim, dass es gelingen wird, die Badeärztin mundtot gemacht wird, egal wie. Oben angekommen, versichert der Rest des Stücks, dass es gelungen ist, Katarina Stockmann mundtot zu machen.
Im Nachhinein habe ich mir eingeredet, dass das nur ein Stück, eine mit Figuren gespielte Geschichte war. Aber hätte ich anders gehandelt, als mich dumpf mit der Menge die Treppe nach oben zu schieben, auch wenn dies der Bahnhof Friedrichstraße gewesen wäre und eine anstrengende politische Aktivistin dort irgendwie mundtot gemacht worden wäre?
Jorinde Dröse hat bei mir ein kathartisches Erlebnis ausgelöst, das als Grundlage der moralischen Erziehung gilt. Allerdings bin ich im Zweifel, ob der Besuch dieser Vorstellung allein ausreichende Kraft entfaltet, mein Handeln zu verändern.
Ein Volksfeind, Gorki, Berlin: Lob
@claus günther:
tolle kritik
Volksfeind, Gorki, Berlin: ohne Dialektik?
@ Claus Günther: Es geht im "Volksfeind" also thematisch darum, Menschen "mundtot zu machen"? Ohne Dialektik? Und das nennen Sie "moralische Erziehung"? Verstehe ich nicht. Könnten Sie das bitte noch ein wenig genauer erläutern?
2 x Volksfeind, Berlin: mehr Achtsamkeit
Hallo Inga,
obwohl ich schon ziemlich viel geschrieben habe, hole ich gern noch etwas aus. Ich freue mich, dass hier eine Diskussion entsteht. Die Volksfeind-Inszenierung von Jorinde Dröse verdient genauso viel Aufmerksamkeit wie die von Thomas Ostermeier, auch bei Nachtkritik. (Zur Schaubühnen-Inszenierung gab es schon 44 Gastbeiträge, die meisten wohl von Dir, Inga, aber auch von mir ist ein Zweiteiler dabei.) Dröse und Ostermeier haben unterschiedliche Sichtweisen, die aber ganz gut miteinander korrespondieren.
„Mundtot machen“ hat sich mir im Schlussteil von Jorinde Dröses Inszenierung geradezu aufgedrängt und ich finde tatsächlich, dass es gut passt. Bei Ostermeier habe ich wahrgenommen, dass die „kompakte Majorität“ einen eigenbrötlerischen Wahrheitssucher „zerbricht“.
Thomas Stockmann ist bei Ostermeier bis zuletzt für die Mächtigen, insbesondere den Bruder Peter und Aslaksen, gefährlich, bei Dröse wirkt Katarina Stockmann in der Volksversammlung vor allem anstrengend, lästig.
Und obwohl Ingo Hülsmann den Bürgermeister in der Schaubühne hervorragend gibt, hat er ihn doch so gespielt, dass ich auf Distanz geblieben bin, während der Peter Stockmann von Ronald Kukulies mich „herumgekriegt“ hat, indem er etwas schnoddrig wurde, sich dem Publikum und mir zur Beschimpfung angeboten hat. Er und der nüchterne Kalkulierer Aslaksen von Gunnar Teuber haben mir ihre Sichtweise übergestülpt.
Gutes Theater ist für mich ein Labor, wo mit Haltungen und Gefühlen experimentiert werden kann. Ich habe erfahren, dass auch ich manipulierbar bin. Deshalb habe ich mir für das „richtige Leben“ mehr Achtsamkeit vorgenommen. Denn natürlich dürfen auch anstrengende Menschen, denen ich selbst keine Aufmerksamkeit entgegenbringen möchte, nicht „irgendwie mundtot“ gemacht werden, schon gar nicht mit meinem stillschweigenden Einverständnis.
2 x Volksfeind, Berlin: Im Real Life
@ Claus Günther: Und ich füge hinzu: Hoffenlich die Art von Labor, welches durch die Geschichte hindurch immer wieder aufgeworfene, politisch dringliche Fragen und Widersprüche zwischen Individuum und Gesellschaft im Theaterraum durchspielt und offen hält, nicht ein für alle Mal im Ergebnis abschließt. Im real life dagegen können solche Experimente das Leben von Menschen empfindlich negativ beeinflussen und/oder sogar tödlich enden. Und das wollen "wir" doch nicht, nicht wahr?
2 x Volksfeind, Berlin: 3 x Volksfeind
meine lieben volksfeindbegeisterte,
möchte dem ganzen austausch noch eine dritte inszenierung hinzufügen.wie ich finde gibt es auch in potsdam eine sehr sehenswerte inszenierung des volksfeindes zu sehen..habe alle drei gesehen und bin fasziniert von den sehr sehr unterschiedlichen interpretationsweisen und herangehensweisen.absolut empfehlenswert.
Volksfeind, Gorki Berlin: höchste Zeit
Ich korrigiere meinen Kommentar Nr. 8.: Wenn dieses Experiment im Verbalen verbleibt, wie hier geschehen, dann bin ich vollkommen d'accord. Wenn Menschen dabei körperlich angegriffen werden - wie u.a. auch an der Entwicklung der RAF und Gudrun Ensslins zu beobachten ist -, dann wäre diese Haltung für mich eher weniger überzeugend.

Doch eines ist klar, die Haltung, welche die Badeärztin Frau Doktor Stockmann hier an den Tag legt, ist nicht einfach zu ignorieren. Gut und gekonnt platziert, ihre Rede in der Pause, wo der gemeine Theaterbesucher lieber konsumieren und/oder "sich erholen" möchte, anstatt weiter über die Inszenierung nachzudenken. Und da platzt Frau Doktor Stockmann (Sabine Waibel) herein und stört. Nervt. Stellt die passive Konsumhaltung in Frage. Stellt die selbstzufriedene Haltung des Theaterbesuchers und seines unreflektierten bürgerlichen Mittelschichtslebens in Frage. Stellt in Frage, ob Macht = Mann ist bzw. bleibt. Stellt in Frage, ob wir so weitermachen können wie bisher, wenn wir uns und alles weitere Leben auf unserem Planeten retten wollen. Stellt in Frage, ob wir nicht dumm gemacht werden, wenn wir glauben, dass guter Journalismus für die Mehrheit spricht, denn wahrscheinlich spricht er eher für die Minderheit derjenigen, welche sich nicht für dumm verkaufen lassen und Information mit Selbsterkenntnis verbinden.

Und was soll uns das Ende sagen? Mir sagte dieses Countdown-mäßige Herunterzählen, dass es höchste Zeit ist, die Notbremse zu ziehen, bevor unsere Gesellschaft gegen die Wand fährt. Alle Opportunisten fallen hier nacheinander um und lassen sich über das Geld korrumpieren. Doch wer sich vom Geld korrumpieren bzw. umstimmen lässt, den frage ich: Und was machst du, wenn das Geld alle ist? Und was machst du, wenn du an die Zukunft der nächsten Generation denkst? Und was machst du, wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist? Dann kannst du dir mit deinem Geld auch nichts mehr kaufen.
Volksfeind, Potsdam: Dernierenkritik I
Berlin, den 13.04.2013
Ein Volksfeind
Hans Otto Theater, Potsdam, Regie: Markus Dietz, gesehen am 09.04.2013
Für Berliner ist der Besuch einer Vorstellung im Hans Otto Theater nicht einfach eine Abendunterhaltung, sondern ein Ausflug. Die Stimmung dazu entsteht bereits bei der Anfahrt auf der Königstraße von Wannsee über die Glienicker Brücke nach Babelsberg. Ausflugsziele brummen an sonnig-warmen Wochenenden, dann würde man gern mit dem Fahrrad entlang der Havel kommen und wäre vorher schon einmal an der Pfaueninsel, in Nikolskoe oder der Moorlake eingekehrt. An einem Wochentagabend Anfang April herrscht in Ausflugszielen immer eine etwas gähnende Leere. Trotzdem ist der Blick durch die Glasfront des Hans Otto Theaters auf den Tiefen See, die Havel und den Park Babelsberg herrlich, während einen drinnen die eher nüchterne Atmosphäre eines Versammlungsraumes erwartet, was ja bei Ibsens Volksfeind gut passt, wo der ganze vierte Akt eine Volksversammlung ist. Wie gesagt kommt aber das Berliner Volk an trüben nachösterlichen Aprilabenden nicht auf die Idee, sich im Hans Otto Theater zu versammeln, und auch die Potsdamer mümmeln lieber zu Hause ihr Abendbrot oder lassen sich bereits vom Fern/seher beflimmern und bedudeln. Selbst Schulklassen fehlen. Gekommen sind einige mittelalte bis ältere Herrschaften sowie einige mehr oder weniger hippe jüngere Leute, drei Viertel des Zuschauerraumes bleiben leer.
So nimmt das Schauspiel hier - zum letzten Mal - seinen Lauf. Im Unterschied zu den Berliner Inszenierungen, die auf den Ibsen-Text der Rede des Badearztes Thomas Stockmann im vierten Akt verzichten, gestaltet Markus Dietz das Stück genau aus dieser fast originalgetreuen Rede heraus. Auch das geht gut. Und er verlegt das Ganze gleich ins Flachwasser des Seebades. Am Anfang lässt es sich die Familie des Badearztes dort gut gehen mit Champagner und Grillwürsten: „So lebte ich hier in glücklicher Blindheit.“ Nach ausgelassenen Sprüngen ins Nass bleiben schwarze Flecken und Ränder auf der Haut zurück. Da muss jedem Zuschauenden klar sein, dass es nichts Gutes bedeutet, wenn die Brühe im hinteren Bühnenteil zum aufblühenden Wohlstand der Küstenstadt als Heilwasser in Flaschen abgefüllt wird. Aber es bedarf eines Briefes, der hier nicht von der Universität sondern von Gott zur Erleuchtung des Blinden gesandt scheint, damit Thomas Stockmann (in den sich Rene Schwittay allmählich hineinspielt, um dann im vierten Akt zur Hochform aufzulaufen) das so Offensichtliche erkennt: „Das Bad ist eine einzige gut getarnte Giftgrube.“ Auch das Wasser, mit dem sich Stockmann anschließend nackt einer gründlichen Reinigung unterzieht, scheint geradezu aus dem Himmel zu kommen, um seinem rituellen Zweck gerecht zu werden. Das himmlische Wasser reinigt Stockmann nicht nur vom „Sumpf von Lug und Trug“, auf dem die „gesamte kompakte Majorität“ gewissenlos die Zukunft aufbaut, es macht ihn auch wie das Bad Siegfrieds unverwundbar, vor allem gegen Anfechtungen und Zweifel. Lediglich seine Familie, seine Kinder bleiben als verwundbare Stelle.
Volksfeind, Potsdam: Dernierenkritik II
Der erleuchtete und nunmehr reine Thomas Stockmann nimmt jedoch nicht wie Christus die Sünde der Menschen auf sich, sondern er wird zum Racheengel im alttestamentarischen Sinn, der seine Stadt wie Sodom der Vernichtung preisgibt: „Was liegt mir am Ruin einer verlogenen Bürgerschaft! Ich sage, macht sie dem Erdboden gleich! Rottet sie aus wie Ungeziefer, alle, die in der Lüge leben.“ Er selbst reisst die aus leeren Wasserkisten bestehende Rückwand der Bühne, Verheißung des künftigen Wohlstandes, ein, und baut sich daraus einen wackligen „vorgeschobenen Posten“, den er erklimmt, um für Wahrheiten zu kämpfen, „die so neu sind für das Bewusstein, dass sie gar keine Mehrheit haben können“. Allerdings bleibt es auch bei derart vagen Andeutungen. Schlussendlich macht Stockmann auf seinem wackligen Olymp die große Entdeckung: „Der stärkste Mann der Welt ist der, der ganz allein steht.“ Nach dieser Entdeckung droht der noch Stehende die Balance zu verlieren und duckt sich weg. Das Spiel ist aus. Das spärliche Publikum spendet freundlichen Applaus.
Während die Gewalt und Intensität menschlicher Beziehungen oft auf der Bühne so viel stärker erscheinen als im wirklichen Leben, lässt sich die Einsamkeit, wenn man denn ein so starker Mann ist wie Thomas Stockmann, in der Bundesrepublik heute durchaus leben, wenn es sein muss auch „abharzen“ (der Ausdruck wird im Stück tatsächlich von Frau Stockmann verwendet), sie hat aber kaum Bühnenbestand. Denn im Theater ist Einsamkeit nicht vorgesehen, es braucht – aus verschiedensten, auch existenziellen Gründen – Publikum. Insofern war diese letzte Vorstellung mit dem vor großteils leeren Rängen fast einsamen, aber trotzdem starken Volksfeind Stockmann ein Gesamtkunstwerk.
Volksfeind, Berlin/Potsdam: ex negativo
@ Claus Günther: Und warum schreiben Sie Ihre Kritik dann nicht direkt unter die Rezension der Potsdamer Aufführung?

Für mich verweisen letztlich alle Inszenierungen des "Volksfeinds", ob nun mit oder ohne eingeschobenem Fremdtext, auf eine Schlussfolgerung ex negativo: In einer Gesellschaftsform wie der des bürgerlich-liberalen Kapitalismus darf es einfach nicht stimmen, dass der/die stärkste Mann/Frau der Welt der/die ist, der/die ganz allein steht. Vielmehr benötigt diese/r Mitstreiter/innen für ein von unten, von der Mehrheit der Bevölkerung, ausgehendes qualitatives Umdenken, welches auf alle politische Ebenen übergehen und ausstrahlen muss, soll sich an der Verfasstheit der demokratischen Gemeinschaft, welche aktuell ganz offensichtlich nur noch vom Geldinteresse her bestimmt und geleitet wird, grundlegend etwas ändern. Das entspricht der ursprünglichen Definition der Demokratie und/oder des demokratischen Sozialismus, das wäre eine Herrschaft, die wirklich vom Volk ausgeht.

Und in diesem Sinne ist der Text Ibsens für mich auch nur ein Übergangstext zu anderen Texten, welche nicht ex negativo, sondern vielmehr kritisch-utopisch formuliert und von der positiven Überzeugung getragen sind, dass es so tatsächlich nicht weitergehen kann, die Strukturen des aktuellen Theatersystems selbst mit eingeschlossen.

Zum Beispiel Volker Braun: "Die Revolution kann nicht als Diktatur zum Ziel kommen. Wenn wir uns nicht selbst befreien, bleibt es für uns ohne Folgen. Für vergangenes Unrecht gibt es keinen Ausgleich." ("Die Übergangsgesellschaft")

(Anm. der Red.: Liebe Inga, Claus Günther konnte seine Kritik nicht direkt unter die Rezension der Potsdamer Aufführung posten, da diese, was ja mal vorkommen kann, bei uns nicht besprochen wurde. wb)
Volksfeind Berlin/Potsdam: Fragen bleiben
@ Redaktion und damit Claus Günther: Gut. In dem Fall geht es dann wohl nicht anders. Aber meine Fragen bleiben trotzdem.
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