Spiel mir das Lied vom Cowboy-Kapitalismus

von Kai Bremer

Zürich, 29. September 2012. Auf dem planen Vorhang im Schauspielhaus Zürich sind schattenhaft Gestalten abgebildet, die im roten Gegenlicht herumzulungern scheinen. Wohl ein erster Hinweis auf Arbeitslose und Wirtschaftskrise. Schließlich wird Brechts "Heilige Johanna" gegeben.

Links vor der Bühne setzt sich Jean-Paul Brodbeck hinters Klavier und beginnt zu spielen – einen Jazz der 20er Jahre, der rasch variiert wird durch Blueselemente, manchmal durch spielerische, an Keith Jarrett erinnernde Läufe, durch fugenartige Momente und hingehauchte Zitate von Jazz-Standards. Noch bevor die ersten Schauspieler die Bühne betreten, ist klar: Ganz egal, wie dieser Abend wird, die Erinnerung an Brodbecks Klavierspiel, das so leichthändig auf den Ort der Handlung, das Chicago während der Wirtschaftskrise, anspielt, wird bleiben.

Im wilden Westen

Mit der Wahl der Musik macht Regisseur Sebastian Baumgarten zugleich klar, dass er nicht an einer billigen Aktualisierung interessiert ist, sondern an einer artifiziellen Auseinandersetzung mit dem Stück. Brechts sentenziöse Zusammenfassungen der Szenen werden links und rechts der Bühne projiziert (Video: Stefan Bischoff), Nachrichtenmeldungen über fallende Kurse und Bankrotteure auf den Vorhang.

johanna 0555 560 tanja-dorendor tt-fotografie xGroßer Hut, großes Herz: Yvon Jansen als Johanna (rechts) mit Markus Scheumann als Mauler. Hinten: Carolin Conrad als Slift. © Tanja Dorendorf / T+T Fotografie

Jana Findeklee und Joki Tewes haben die Figuren nicht nur typisierend eingekleidet, sondern zugleich zu Karikaturen ihrer selbst gemacht, indem beispielsweise die Kopfbedeckungen von den Missionaren der Schwarzen Strohhüte mit gewaltig ausladenden Krempen versehen sind. Die Fleischfabrikanten sind Cowboys, die mit langsamen Bewegungen gebückt, verhuscht und immer wieder zurückblickend über die Bühne schleichen, als kämen sie direkt aus einem schlechten Western. Unterstützt wird das durch die immer wieder aufs neue variierte Bühne (Thilo Reuther), die, wenn der Vorhang beiseite gezogen wird, zunächst eine Art Saloon zeigt – Verfremdung an der Grenze zur Clowneske, die in den weiteren Szenen nicht mehr derart übertrieben wird.

Brecht mit brechtschen Techniken variiert

Angesichts einer solchen Rahmung versteht es sich beinahe von selbst, dass auch die Schauspieler auf Verfremdung eingetaktet sind: Bewegungen werden verlangsamt, figurentypische Posen ausgestellt, entsetzte Gesichtsausdrücke kurz eingefroren. Yvon Jansen lässt ihre Johanna dabei manchmal klingen wie eine frustrierte Göre, die weniger Heilige denn Nervensäge ist, so dass ihre pathetischen Appelle ironisch gebrochen werden. Markus Scheumanns Mauler muss beim Sprechen immer wieder dermaßen die Worte durch den Kehlkopf pressen, dass seinen mildtätigen Anwandlungen die Luft auszugehen droht, noch bevor sie leicht gelispelt ausgesprochen sind. Handwerklich greift eins hervorragend ins andere: Brecht mit brechtschen Techniken variiert. Dass zudem aufs frühe Kino und damit zugleich auf Brechts Kinobegeisterung angespielt wird (etwa wenn Mauler nosferatumäßig seine Hand zur Klaue verbiegt), rundet den Eindruck perfekter Durchkomponiertheit ab.

Trotzdem legt Baumgarten nicht einfach eine ebenso andeutungsreiche wie Brecht-nahe Arbeit vor. Er macht aus dem Makler Slift, Maulers hintertriebenem willigen Vollstrecker, dessen Ehefrau (Carolin Conrad). Dadurch personalisiert er Maulers Zerrissenheit zwischen kapitalistischer Versuchung und Mildtätigkeit. Gleichzeitig führt diese Entscheidung einen wesentlichen Unterschied zwischen dem Kapitalismus zu Brechts Zeit und der Gegenwart vor Augen: im Chicago Brechts herrschen Typen, gegenwärtig Märkte.

Haifisch statt Hosianna

Also eine regelrechte Verweigerung der Gegenwart? Nicht ganz. Als Johanna schon tot auf dem Boden liegt (die Faust mit einer Pistole steif in die Luft gereckt), stehen die anderen um sie herum. Längst tragen sie rote, blaue und weiße Ganzkörperanzüge aus dünnem Stoff. Im Bühnenhintergrund wird das wehende Star-Spangeld-Banner projiziert, das farblich wunderbar mit den Kostümen harmoniert. Statt des vielfachen "Hosianna" bei Brecht stimmen sie Rammsteins "Haifisch" an und lösen Brodbecks variantenreiches Spiel ab.

Zugleich macht Baumgarten ein letztes Mal unmissverständlich klar, wie sehr ihn die Vervielfältigung der Brechtbezüge gereizt hat – variiert der Refrain doch die "Moritat von Mackie Messer". Der Gesang der Schauspieler wird vom Original überblendet, die Fahne im Hintergrund von Kino-Szenen und schließlich einem Abspann, in dem in Video-Clip-Ästhetik die Beteiligten des Abends vorgestellt werden. Das Zürcher Publikum hat großes Kino erlebt.


Die heilige Johanna der Schlachthöfe
von Bertolt Brecht
Regie: Sebastian Baumgarten, Bühne: Thilo Reuther, Kostüme: Jana Findeklee, Joki Tewes, Musik: Jean-Paul Brodbeck, Video: Stefan Bischoff.
Mit: Jan Bluthardt, Samuel Braun, Gottfried Breitfuss, Jean-Paul Brodbeck Alejandra Cardona, Carolin Conrad, Lukas Holzhausen, Yvon Jansen, Sean McDonagh, Isabelle Menke, Markus Scheumann.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspielhaus.ch


Mehr zu Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe als Spielwiese für führende Regietheatermacher: Nicolas Stemann zeigte das Werk im Dezember 2009 am Deutschen Theater Berlin, Michael Thalheimer debütierte damit im Oktober 2010 am Wiener Burgtheater.

 

Kritikenrundschau

Von einem "Hosianna mit Kostümparty" spricht Barbara Villiger-Heilig in der Neuen Zürcher Zeitung (1.10.2012). Nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Plan- sowie der sozialen Marktwirtschaft, "kurz: in Zeiten des ungebremsten Turbokapitalismus", hätte es aus Sicht der Kritikerin Grund genug gegeben, "den guten alten Brecht, dessen Stück auf die Weltwirtschaftskrise von 1929/30 reagierte, quasi ab Blatt zu spielen. Aber nein." Er glaube nicht, dass man diesem Text beikomme, "indem man Schauspielern Kostüme von heute anzieht" und behaupte, es hier mit einer ganz modernen Situation auf der Bühne zu tun zu haben, zitiert Villiger-Heilig aus einem Interview mit dem Regisseur im Programmheft. Dessen Lektüre empfiehlt sie auch darüber hinaus, weil es "Einblick in die abenteuerlichen Floskelgirlanden im Kopf des Regisseurs" gewähre. Davon ist aus Villiger-Heiligs Sicht die Inszenierung durchzogen, der sie vor allem einen Reichtum an Äußerlichkeiten bescheinigt. Auch empfindet sie die Inszenierung als "Materialschlachthof", auf dem man reichlich aus Baumgartens "Hang zum Unverstandenen" bedient werde.

 

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