Grauzonen der Empfindsamkeit

von Sabine Leucht

München, 30. September 2012. Kristof Van Bovens Woyzeck ist ein kleiner Mann mit großer Würde. Den vielen Übeln, die ihm begegnen, zeigt er ein feines Lächeln. Wenn die Personnage um ihn herum achtlos Klappstühle im Wasserbecken liegen lässt, sorgt er allein für Ordnung. Das vermaledeite Leben, das gierig an ihm zerrt, hält er mit seltsamen Armbewegungen auf Abstand, die aussehen wie maßgeschneidert. Und ähnlich verfährt der Schauspieler auch mit den Worten und Gedanken seiner Figur, die er stets ein wenig verwundert, aber mit echtem Interesse zu betrachten scheint.

Wenn die Oper dem Drama auf die Schultern steigt ...

Van Boven ist ein Glücksfall für die Inszenierung der polnischen Regisseurin Barbara Wysocka, die im Werkraum der Münchner Kammerspiele Georg Büchners "Woyzeck" um Szenen und Gesänge aus Alban Bergs "Wozzeck" erweitert. Mal wird Opern- oder selbstverfasste Spieluhr-Musik von drei Live-Musikern in die Lücken des dramatischen Fragments gefüllt, mal vermischt sich alles zu einem heillosen szenischen und akustischen Tohuwabohu. Und nicht immer ist auszumachen, wann das Drama der Oper und wann diese dem Drama auf die Schultern steigt – und was genau es ist, was dadurch besser gesehen werden soll.

wozzeck-3 560 julian roeder hSomnambul im Bühnenpool     © Julian Röder

Überhaupt ist schwer zu sagen, ob der Abend gelungen ist, den Wysocka selbst im Vorfeld als Installation bezeichnet hat. Doch als solche, als gezielte Eröffnung von Spiel- und Assoziationsmöglichkeiten für die in ihr Ausgesetzten und ihre Betrachter, ist er interessant. Auch wenn einiges an seinen Setzungen eher beliebig erscheint: Die metallen glitzernden Wände der Werkraumbühne, die Bert Neumann in der vergangenen Spielzeit zum Ballhaus umgestaltet hat, öffnen sich nun an einer Stelle zu einer Art Garderobe, worin immer ein Schauspieler für kurze Zeit demonstrativ Ruhe suchen darf. Links und rechts davon zeigen Schwarz-Weiß-Projektionen meist genau jene Teich-Landschaft, in der Woyzeck am Ende seine Marie erstechen wird. Und weil die unheilvolle Zukunft im Hier und Jetzt schon präsent sein soll, waten die Schauspieler die meiste Zeit durch ein knietiefes Wasserbecken.

Offene Wunde Woyzeck

Das ist mehr als bloß ein ästhetischer Effekt, aber viel weniger als eine Notwendigkeit. Es erscheint wie ein kluger Gedanke, dem man nicht gleich auf die Schliche kommt. Und in dieser Grauzone bewegt sich der Abend gerne: Dass der ernste Mann im Anzug, der plötzlich am Beckenrand steht, ausgerechnet die Rolle des bösartigen Doktors singt (und nicht etwa eine andere), dass Oliver Mallison als Andres von einer bleiernen Müdigkeit befallen scheint, aus der ihn nur das Singen von Kinderliedern momentweise befreit. Dass Stefan Hunsteins Tambourmajor eine enervierende Grinsebacke ist; meist stumm, aber groß und stark genug, dass sich die rehkitz-grazile Marie (Marie Jung) in Gänze auf sein angewinkeltes Bein legen kann...

Die 1978 geborene Regisseurin, Schauspielerin und Musikerin, die das Fragmentarische ihrer Vorlagen noch vergrößert und dem Verlangen nach einem rundum dissonanten Moment auch schon mal die Textverständlichkeit opfert, baut vor allem im ersten Drittel ihrer Inszenierung sehr darauf, dass das Publikum seinen Büchner schon intus hat. Danach hat sie einen ruhenden Pol ins Zentrum aller Turbulenzen gesetzt: Woyzeck, den Heiner Müller als "offene Wunde" bezeichnete, in die jeder stechen zu dürfen glaubt. Das macht ihn hier aber ganz deutlich nicht nur zum Opfer, sondern viel mehr noch zum Zentrum, zum alleinigen Bezugspunkt eines sozialen Beziehungsgeflechts, worin die anderen ebenso sehr von ihm abhängen wie er von ihnen.

Gefährliches Lauschen

Unter all den lautstarken Wassertretern und Plattitüdendeklamierern ist er der einzige, der Begegnungen wagt. Während die anderen für alles außer sich selbst blind und taub sind, spürt er die Sonne auf seinem Gesicht. Mit seiner Neigung zur Natur wie zur Philosophie passt natürlich auch dieser Woyzeck/Wozzeck weder in die Sauf- und "Nase-ins-Arschloch-Prügeln"-Welt des Tambourmajors noch in das schiefe Moral- und Tugend-Korsett des Hauptmanns. Statt dessen zeigt Van Boven das In-sich-Hineinlauschen als mutige, subversive, (ja: auch gefährliche) Tat. Es macht ihn so wach gegenüber den Dingen, dass ihm selbst das letzte Arrangieren der Geliebten vor dem Mord fast fürsorglich gerät. Auf somnambule Weise wach, auf endgültige Weise fürsorglich. Das Sozialdrama verblasst hier eindrucksvoll gegenüber dem des empfindsamen Menschen.

 

Woyzeck / Wozzeck
nach Georg Büchner und Alban Berg
In einer Fassung von Barbara Wysocka und Koen Tachelet
Regie: Barbara Wysocka, Komposition & Musikalische Leitung: Janek Duszynski, Bühne: Teresa Vergho, Barbara Wysocka, Kostüme: Teresa Vergho, Video: Andergrand Media + Spektakle, Licht: Rainer Casper, Dramaturgie: Koen Tachelet.
Mit: Tobias Hagge (Doktor/Gesang), Stefan Hunstein, Marie Jung, Anno Kesting (Schlagwerk), Oliver Mallison, Stefan Merki, Kristof Van Boven, Tobias Weber (Viola), Tatjana Zivanovic-Wegele (Celesta und Melodica).
Dauer: Ca. 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause

www.muenchner-kammerspiele.de

 
Kritikenrundschau

Die Musik diene in Barbara Wysockas Inszenierung eher der Ausmalung einer psychotischen Atmosphäre als dem Ausdruck einer geschundenen Seele in einer brutalen Welt, schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (4.10.2012). "Über weite Strecken dienen Wiederholungsschleifen verfremdeter Motive Bergs vor allem der Herstellung einer beklemmenden, faszinierend unangenehmen Grundstimmung." In dieser brauche es keine grelle Figuren mehr, um die Krassheit des Stückes herauszuarbeiten. "Bis auf eine Ausnahme - der arme Oliver Mallison muss Woyzecks Freund Andres als besserwisserisch kommentierenden Blödian spielen – gibt es hier, wie sonst oft bei 'Woyzeck', keine Karikatur, keine Groteske." Letztlich erzähle Wysocka brav einen vorgegebenen Text; "aber wie sich dieser ganz fein im Hirn des Betrachters ausbreitet, das macht die Aufführung zu einem psychoästhetischen Erlebnis."

 

Kommentare  
Woyzeck / Wozzeck, München: Unangenehm
Sehr anstrengender, um nicht zu sagen unangenehmer Theaterabend. Wenn die zum Teil verquere Musik sich mit dem Plätschern des Wassers vermischt, ist es oft unmöglich, die Schauspieler zu verstehen. Überhaupt, dieses große Wasserbecken! Leider erweckt es nur den Eindruck einer krampfigen Absicht, unbedingt originell sein zu wollen. Diese Wassertreterei habe ich in letzter Zeit auch schon so häufig gesehen, daß ich dieser Regieidee nichts mehr abgewinnen kann, sondern spontan nur noch Mitleid mit den Schauspielern habe. Es war mir fast nicht möglich, mich in den wenigen Minuten, in denen man nicht unangenehmer Musik, Wassergeplätscher oder grell blendender, direkt auf die Zuschauer gerichtete Scheinwerfer ausgesetzt war, auf den Inhalt des Stückes einzulassen.
Woyzeck/Wozzeck, München: Wer die Musik nicht mag ...
... der sollte es einfach sein lassen!
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