Fifty Shades of Shakespeare

von Steffen Becker

München, 2. Oktober 2012. Eine Frau zu taxieren wie ein Objekt, sie zu begehren und zu gewinnen wie eine Trophäe – geht nicht mehr, ist nicht mal post-gender und trotzdem fest in den Köpfen. Als Frau einen Mann bloßstellen, sich mit ihm messen wie die anderen Jungs – total gendergerecht, eigentlich selbstverständlich und tatsächlich fast unmöglich. Die komplizierte Gemengelage der Rollenzuweisungen muss ein Stück über Liebe im 16. Jahrhundert als kaum aktualisierbaren Klassiker erscheinen lassen.

Nackt an der glitschigen Frontlinie abrutschen

Regisseurin Tina Lanik geht am Münchner Residenztheater mit "Der Widerspenstigen Zähmung" das Wagnis ein und bürstet den Macho Shakespeare entlang der Frontlinien der Geschlechterdebatte gegen den Strich. Männer und Frauen treffen sich auf einer komplett nackten, glitschigen Bühne und versuchen mühsam die Balance ihrer Körper und Rollen zu halten. Wer abrutscht landet im Schlamm. Das passiert oft, schließlich lassen sich männliches und weibliches Verhaltensideal nicht mehr so leicht ordnen wie im elisabethanischen Zeitalter. Die Schauspieler tragen daher dick auf, um Norm und Abweichung für heutige Sehgewohnheiten sichtbar zu machen

Mit Gel-Frisur, arroganter Cleverness und reicher Erbe-Auftreten gibt Franz Pätzold als Lucentio, Freier der netten Tochter Bianca, die moderne Variante des Frauenkäufers. Einer, der es noch moderner mit der Angst kriegt, wenn aus dem Spiel Ernst vorm Traualter werden soll. Marie Seiser überzeugt als klug kalkulierende Bianca, die auf dem Heiratsmarkt das Beste herausholen will, was für eine wohlerzogene Tochter aus gutem Hause eben möglich ist. Andrea Wenzl als ihre Schwester Katharina geht richtig in die Vollen. Sie spricht mit Johnnie-Walker-Stimme, wird handgreiflich, verbirgt ihr Gesicht hinter Strähnen: Widerspenstig sein reicht nicht mehr, um sich als Frau aus dem ihr zugedachten Rahmen zu katapultieren.

Borderline ohne Rollenzuschreibung

In Laniks Inszenierung muss es dafür schon eine Art Borderline-Syndrom sein. Das hat bei Wenzl Unterhaltungswert, überdeckt aber auch poetische Teile der Inszenierung. So schafft Lanik etwa der Rahmenhandlung mehr Raum. Aus dem Shakespeare'schen Kesselflicker, dem man adelige Herkunft vorgaukelt und ihm "Der Widerspenstigen Zähmung" als Spiel im Spiel vorführt macht sie eine Frau, die betrunken vor einer Horde Männer zusammenbricht. Diese lässt das Stück immer wieder pausieren und schafft im Bühnenregen meditativen Raum für die Frage, welches Leben wohl ohne Rollenzuschreibung möglich wäre.widerzaehmung 560a matthiashorn uDer Widerspenstigen Schlammschlacht © Matthias Horn

Auch im Kampf zwischen Katharina und ihrem Freier Petruchio (Shenja Lacher) gelingt Lanik ein ungewöhnlich intimer Moment. Nach der Hochzeit spielt er Gitarre, sie tanzt – beide in Endlosschleife, während das Publikum bereits in die Pause entlassen wird. Ganz auf sich konzentriert wollen sie in Ruhe gelassen werden von den Erwartungen der Außenwelt. Diese Ansätze gehen im Lärm der Inszenierung leider unter. Besonders schade ist das im Fall von Shenja Lacher.

Unterwerfung à la Bestseller-Erotik

In Laniks Widerspenstiger ist eigentlich sein Petruchio die interessanteste Figur. Seine Demütigung der Katharina wird kaum gezeigt, sondern von einem Diener nacherzählt. Darin spiegelt sich die Brüchigkeit der Geschlechterrolle des Mannes als Dominator der Frau. Lacher macht diese grundlegende Unsicherheit in guten Momenten spürbar, in schlechten bleibt nur die Attitüde eines Comedians der Mann-Frau-Witze reißt.

Dazu passt, dass Lanik Katharina ihre Unterwerfung so zelebrieren lässt, dass im Kopfkino Shakespeare auf "Fifty Shades of Grey" trifft – jenen Erotik-Bestseller, in dem eine Frau ihre Lust an der Unterwerfung entdeckt. Von da aus ist der Weg nicht mehr weit, das Stück vollends auf den Kopf zu stellen. Katharinas finaler Monolog über Demut und Hingabe lässt die Männerriege betreten zurück. Petruchio verlässt die Bühne an ihrer Hand, nicht umgekehrt. Nach der Reaktion des Publikums zu urteilen, wäre diesem ein klassisches "Kiss me, Kate" lieber gewesen.

Der Widerspenstigen Zähmung
von William Shakespeare, deutsch von Anna Cron
Regie: Tina Lanik, Bühne & Kostüme: Stefan Hageneier, Musik: Rainer Jörissen, Licht: Gerrit Jurda, Dramaturgie: Sebastian Huber.
Mit: Wolfram Rupperti, Paul Wolff-Plottegg, Franz Pätzold, Shenja Lacher, Arnulf Schumacher, Tom Radisch, Miguel Abrantes Ostrowski, Robert Niemann, Johannes Zirner, Andrea Wenzl, Marie Seiser, Katharina Pichler.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.residenztheater.de


Kritikenrundschau

"Was Andrea Wenzl und Shenja Lacher machen, ist spannend, und es ist eine Freude, ihnen zuzusehen", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (4.10.2012). Was aber um die beiden Hauptdarsteller herum passiere, sei nichts als Füllstoff, Dämmmaterial. "Laniks Inszenierung könnte faszinieren, folgte die Regisseurin stringenter ihrer eigenen Idee." Doch viel zu brav erzähle sie das Stück mit all seinen überflüssigen und nutzlosen Szenen. "Oder besser gesagt: Mit vielen Szenen, die wenig bringen, dem Abend aber eine Dauer von knapp drei Stunden bescheren."

In ihrer Doppelbesprechung für die Frankfurter Allgemeine Zeitung (5.10.2012) stellt Teresa Grenzmann diesen Abend am Residenztheater als Traumspiel mit einem guten Erwachen gegen das böse Erwachen in Orpheus steigt herab (an den Kammerspielen): "Im Residenztheater fehlt es nicht an starken Spielern in historisierendem Brokat, an wendigen Wortspielen und echten Typen. Doch die Regisseurin traut der Komödie nicht. Das kostet den Abend Tempo", schreibt die Kritikerin, bescheinigt ihm aber doch einzelne "Momente", "in denen Petruchio den aufmüpfigen Satansbraten fast verhungern lässt in seinem Schloss aus Schlamm; in denen sich die Fronten spannungsvoll glätten, während Katharina ihren Petruchio kennen und lieben lernt; in denen Andrea Wenzl und Shenja Lacher das Paar schließlich bis über die Erschöpfungsgrenze seiner Streitlust führen und die Wortgefechte enden."

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