Trautes Heim, Unglück allein 

von Dennis Baranski

Heidelberg, 6. Oktober 2012. All die schönen Dinge, die dem konsumbewussten Wohlstandsbürger zur Befriedigung unbestimmter Bedürfnisse gereichen, sind plötzlich in Gefahr. Denn als Marco und Sabine von außerhäusiger Suche nach Zerstreuung heimkehren, finden sie ihre Wohnungstür gewaltsam geöffnet. Auf den ersten Blick scheint die teure Habe noch komplett und so weicht der anfängliche Schock schnell Erleichterung. Indes bleibt das plötzlich aufgekommene Unbehagen, geteilt von den Einbrechern selbst: Sie sind noch zugegen.

In seinem Stück "Schöne Dinge sind auf unserer Seite" lässt der türkische Dramatiker Berkun Oya zwei völlig gegensätzliche Kulturen harsch zusammenprallen. Einem modernen, betont liberalen Großstadtpärchen setzt er Ali und Ayşe entgegen, die Eindringlinge aus der Provinz, stockkonservativ und streng religiös. Der in Heidelberg für Stückemarktpreisträger zuständige Regisseur Dominique Schnizer, er inszenierte bereits Nis-Momme Stockmanns Gewinnerstück "Der Mann, der die Welt aß" und Eva Rottmanns Publikumspreis-gekröntes "Unter jedem Dach (ein Ach)", trug nun auch für Oyas starken, 2011 ausgezeichneten Theatertext Sorge und brachte ihn nicht nur auf die große Bühne des Zwinger, sondern auch mitten unter uns. Ehrenmord und Blutrache sind schließlich längst auch in hiesigen Breiten ein brandaktuelles, diskurspflichtiges Thema.

Plötzlich zu viert

Jedoch nicht für Marco. Noch nicht. Dieser Tag aber soll sich für ihn zu einem von der ganz miesen Sorte entwickeln. Christin Treunerts aufwändige Bühnenkonstruktion lässt das drohende Unheil früh erkennen: Während die Überfallenen das Schadensmaß in ihrem voll ausgestatteten Heim – der großzügige Wohn-Essbereich, Schlafzimmer, Küche und Bad sind durch ein blickdurchlässiges, raumgreifendes Gerüst abgebildet – zu bilanzieren suchen, wappnet sich Ali mit einem Messer.

schoene ding 280 florianmerdes uNatalie Mukherjee und Dominik Lindhorst
© Florian Merdes

Selbst völlig verängstigt und in die Ecke gedrängt, nimmt er panisch die Hausherrin als Geisel und erpresst den Weg nach Draußen – nicht aber ohne Beute. Seine Wahl fällt auf eine Digitalkamera, die Bine zuvor in ihrer Handtasche verstaute. Ein Andenken – sie hat beschlossen, ihren Lebensgefährten noch in dieser Nacht zu verlassen. Als künftige Exfreundin vollzieht die Schauspielerin Natalie Mukherjee nach auskurierter Lebensgefahr mit einem herrlich komischen, sich bis auf die Straße vor dem Theater ziehenden Streit auch prompt die Trennung.

Inmitten unterschiedlicher Wertvorstellungen

In bester Yasmina Reza-Manier strikt Oya glänzend verschliffene, rasante Dialoge, die Schnizer gleichsam temporeich und präzise auf die Bühne zu übersetzen versteht. Dabei bedurfte die Umbettung der kontrastreichen Konstellation aus einer türkischen Metropole in bundesdeutsche Realität nur weniger behutsam ausgeführter Anpassungen. Und eben jene Wirklichkeit wird für den permanent um Fassung ringenden, sympathischen Zwangscharakter Marco alsbald viel zu echt.

Von Dominik Lindhorst in bester Spiellaune hervorragend bekleidet, kehrt er nach dem Scheitern seiner Beziehung in eine wohl verwüstete, keineswegs aber verwaiste Wohnung zurück: Ihn erwartet die völlig aufgelöste Ayşe mit dem entwendeten Foto-Apparat. Zwar muss sich die verschüchtert unter ihrem Kopftuch hervor Greinende erst die Pulsadern aufschlitzen bevor man ihr Gehör schenkt, dafür geniest sie darauf ungeteilte Aufmerksamkeit. Allein der Hunger verführte zu der "sündigen" Tat, Diebe seien sie gewiss keine; entschlossen, ihre bedingungslose – und längst vollzogene – Liebe auch gegen den Willen der Verwandtschaft durchzusetzen, ist das flüchtige Paar auf ein halbseidenes Schlepper-Versprechen hin in der fremden Stadt gestrandet. Doch sie wurden erwischt, und Ali ist nun tot. Erschossen von Ayşes kleinem Bruder, nachdem er den Einbruchsort verließ.

Auf welcher Seite man steht

Einer überzeugenden (wenngleich bisweilen etwas rührseligen) Sibel Polat gelingt gerade im Schwelgen in Erinnerungen an den Verstorbenen wahrhaft bewegendes Sprechtheater, das zwischen klischeebesetzten Geschlechterrollen und diametral auseinanderklaffenden Wertvorstellungen beide Beziehungsentwürfe geradewegs ins Verderben laufen lässt. Ob nun von schnödem Egoismus oder tiefem Glauben – verblendet sind sie alle. Während Marco nicht an der Liebe "schrumpfen" wollte, ist Ayşe für sie über sich hinausgewachsen. Zumindest ihre Gefühle scheinen letztlich real: "Die schönen Dinge sind auf unserer Seite", gedenkt sie anrührend dem Toten. Auf wessen Seite sie tatsächlich stehen, beantwortet der intensive Abend nicht. Um so nachdrücklicher wirft er dafür die Frage auf.

Schöne Dinge sind auf unserer Seite
von Berkun Oya, aus dem Türkischen von Monika Demirel
Regie: Dominique Schnizer, Bühne und Kostüm: Christin Treunert, Dramaturgie: Sonja Winkel.
Mit: Benedikt Crisand, Dominik Lindhorst, Natalie Mukherjee, Sibel Polat.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theaterheidelberg.de


Mehr zu Berkun Oyas Stück: Andreas Jüttner resümierte in einen Text den Heidelberger Stückemarkt 2011, bei dem die Türkei das Gastland war.


Kritikenrundschau

Dominique Schnizer setzte Oyas Stück mit dem "richtigen Gespür für Paar-Konflikte und den Clash der Kulturen in Szene", schreibt Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (8.10.2012). Dem "dynamischen Schauspieler-Quartett" sei es zu verdanken, "dass der abenteuerliche Brückenschlag vom Nudelkochen bis zum Fememord des türkischen Liebhabers durch die Familie des Mädchens ohne plumpe Situationen über die Rampe kommt". Themen wie "Blutrache" und "Ehrenmord" würden in dem Stück "auf packende Weise verhandelt, ohne dabei moralinsauer oder zeigefingernd zu wirken".

Schnitzlers Inszenierung setze "auf die sprachliche Ausdruckskraft der vier jungen Schauspieler und die feinfühlige Wirkung von Berkun Oyas Texten", schreibt Lena Abushi für den Mannheimer Morgen (8.10.2012). "Dieses Konzept geht auf, vor allem in den Dialogen zwischen Polat und Lindhorst." Zwischen ihren beiden Figuren entwickele sich "ein aufreibendes Gespräch über Träume, Ängste und Moralvorstellungen".

Eine "Konfrontation traditioneller Strukturen mit dem Laissez-faire der Moderne" hat Jürgen Berger von der Süddeutschen Zeitung (9.10.2012) in Heidelberg erlebt. "Bemerkenswert" an Dominique Schnizers deutscher Erstaufführung sei, dass man den Text von Berkun Oya "mit nur kleinen Veränderungen einwandfrei vom Bosporus an den Neckar verpflanzen kann". Denn Schnitzer "verlegt das Stück in eine deutsche Stadt und gibt ihm eine kräftige Prise Hitchcock-Suspense mit auf den Weg." Hervorgehoben wird auch hier das Ende mit dem "anrührenden Dialog" zwischen Polat und Lindhorst: "Da sprechen die beiden plötzlich über ihre Vorstellungen von Liebe, Treue und Glück. Welten prallen aufeinander – und verändern sich beim Aufprall."

 

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