Otto Dix und Ost-Rock

von Matthias Schmidt

Gera, 12. Oktober 2012. Der Vorhang geht auf und gibt den Blick frei auf ein Standbild, ein Figuren-Arrangement, das einem Gemälde entsprungen sein könnte. Einige tragen Masken, die anderen sind "auf Maske" geschminkt. Die Figuren erinnern an Otto Dix, natürlich, wir sind in der Dix-Stadt Gera. Die Idee ist schlüssig, sowohl in ihrem lokalpatriotischen Gestus als auch historisch, denn Dix und Horváth arbeiteten sich zur selben Zeit am selben Stoff ab. Der weckt auch unser Interesse, denn unsere Krise trägt – zum Beispiel in Griechenland – durchaus Züge der damaligen, Friedens-Nobelpreis hin oder her.

Die Kostüme historisieren und sind doch – wie die Gesichter – ironisch überzeichnet. Ist das Dix oder Horváth oder eine Persiflage auf beide? Dafür gibt es Zeichen, immerhin wird, als sich die Figuren zu bewegen beginnen, ausführlich Ost-Rock gesungen – "Jugendliebe" von Ute Freudenberg. Was zugegebenermaßen zunächst wirkt, als wolle der aus Würzburg gekommene neue Schauspieldirektor Bernhard Stengele den Hiesigen sein geschmackliches Entgegenkommen zeigen. Andererseits, natürlich, läuft so etwas auf den Volksfesten hierzulande. Und zwar so lange, bis es weh tut. Unterhalten und wehtun, soll es das nicht auch bei Horváth? Es ist diese Mischung aus Ernst und Ironie, die das Stück so interessant und diese Inszenierung so schwer greifbar macht.

Unschuldiges Lachen

Denn das alles ist hübsch anzusehen und -hören, bleibt aber inhaltlich ohne Folgen. Die Dix-Horváth-Figuren sind pure Oberfläche. Abgründe, Ängste, menschliche Regungen aller Art bleiben hinter den Masken und Manierismen fast vollständig verborgen. Hier wird so plakativ ein Volksstück gespielt, dass man den doppelten Boden förmlich herbeisehnt. Allein, er bleibt behauptet. Dass es eine Gruppe von Geraer Langzeitarbeitslosen ist, die als Oktoberfestpublikum mitspielt, sorgt für etwas mehr Bewegung in deren Leben und auf der Bühne, wird von der Regie aber ignoriert. Die Inszenierung versucht noch nicht einmal, sie und ihre Biografien einzubeziehen. Genauso gut hätten aber auch Fußballer hinter den Masken stecken können. Oder – sagen wir: Briefmarkensammler.kasimirkaroline1 560 stephan walz ulEnsemble à la Otto Dix © Stephan Walzl

Das gespielte Gemälde, die Musik, die bewusst proklamierende, artifizielle Sprechweise, sie sind sehr unterhaltsam, verdecken aber einen guten Teil der Deutungsmöglichkeiten, der Anspielungen, die Horváth seinem Text mitgab. Weder das Derbe – wenn der "Zuschneider" Schürzinger beim Eis lecken mit Karoline an alles denkt, nur nicht an Eis – noch Kasimirs zu Analogien ins Heute geradezu einladende Angst vor dem sozialen Abstieg entfalten ihre Wirkung. Die Inszenierung verzichtet wohl bewusst auf Interpretationen, die Kleinbürger, den Mittelstand, die Oberschicht betreffend. Nur einmal blitzt so etwas wie politische Relevanz auf: als Erna ihren kurzen revolutionären Ausbruch hat. Ansonsten bleibt es ein gefälliger Abend mit sehr viel sehr schön vorgetragener Musik. Der Horváth-Ton, der ins Komische zugespitzte "Bildungsjargon", ist wohl getroffen, das daraus entstehende Zuschauer-Lachen aber meist so unschuldig wie bei Ohnsorgs in Hamburg.

Eine lustvoll spielende Truppe

Die gelegentlich eingestreuten Comedy-Einlagen – etwa der Trinkspruch "Zur Mitte, zur Titte, zum Sack!" oder ein Kabarett-Gag mit dem Nachnamen des Kleinkriminellen Franz Merkel – machen die Sache lustiger, tiefgründiger leider nicht. Immer, wenn Kasimir auf den wunden Punkt in seiner Biografie zu sprechen kommt: dass er "abgebaut" wurde, singen alle gemeinsam sein Arbeitslosen-Unglück weg. Mit Citys "Am Fenster", kombiniert mit Geier Sturzflugs "Bruttosozialprodukt", was stilistisch wirklich originell ist und Spaß macht, letztlich aber pures Handwerk bleibt.

Zugleich ist das natürlich eine wirklich gute Nachricht aus dem Theater Gera-Altenburg: Nach all den Kämpfen der vergangenen Monate und Jahre lebt es nicht nur, sondern es hat ein schlagkräftiges Schauspielensemble. Mit Anne Diemer (Karoline) und Philipp Reinheimer (Kasimir) hat Bernhard Stengele zwei potentielle Publikumslieblinge aus Würzburg mitgebracht. Anne Diemer, die exakt auf dem Grat zwischen naiver Vergnügungslust und kalkuliertem Träumen vom sozialen Aufstieg spielt, hält die Inszenierung lustvoll und mühelos zusammen. Philipp Reinheimer gelingt mit seinem zur Gitarre gesungenen "Stairway to Heaven" einer der melancholischen und damit schönsten Momente des Abends. Katharina Weithaler, ebenfalls neu im Ensemble, macht "dem Merkel Franz seine Erna" zu der Figur, an der man die Tragik des Stückes am ehesten spüren kann. Nicht zu vergessen, Vanessa Rose, die als "Dame mit Bart" und begleitet von Schauspielkapellmeister Olav Kröger unglaublich gut singt, und das quasi ununterbrochen. So kann, ja, so muss man es nämlich auch sagen: Diese spielfreudige Truppe macht Appetit auf mehr Schauspiel aus Altenburg und Gera.

 

Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie: Bernhard Stengele, Bühne und Kostüme: Marianne Hollenstein, Musikalische Leitung und Einstudierung: Olav Kröger, Coaching der Oktoberfestbesucher: Nanna Przetak, Dramaturgie: Geeske Otten.
Mit: Philipp Reinheimer, Anne Diemer, Bruno Beeke, Manuel Struffolino, Katharina Weithaler, Ulrich Milde, Nora Undine Jahn, Mechthild Scrobanita, Vanessa Rose, Olav Kröger. Als Oktoberfestbesucher die Mitglieder von Coop50plus: Marion, Uschi, Birgit, Heidi, Angelika, Viola.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, eine Pause.

tpthueringen.de

 

Viel diskutierte Horváth-Deutungen der jüngsten Zeit sind die Inszenierungen von Geschichten aus dem Wiener Wald von Enrico Lübbe am Berliner Ensemble, Glaube Liebe Hoffnung von Christoph Marthaler bei den Wiener Festwochen oder Kasimir und Karoline von Frank Castorf am Residenztheater München.

 

Kritikenrundschau

Frank Quilitzsch von der Thüringischen Landeszeitung (15.10.2012) hat einen Schauspielabend gesehen, "so glanzvoll und ergreifend, wie man ihn am Geraer Theater lange nicht erlebt hat." Die "sehr artifizielle" Spielweise der Schauspieler habe ihn an Robert Wilsons Berliner "Leonce und Lena"-Inszenierung erinnert: "Philipp Reinheimers Kasimir und Anne Diemers Karoline wirken in Gestik und Ton marionettenhaft überhöht – naive Menschenpuppen mit Herz und Seele, zappelnd fürs Bruttosozialprodukt." Niemand werde bei Horváthr denunziert, und auch der Regisseur Bernhard Stengele "liebt die Figuren. Und die Ausstatterin erst!" Marianne Hollenstein identifiziere "sich so sehr mit dem Ambiente, dass sie selbst darin aufgeht – in der stummen Rolle des Malers Dix sitzt sie bei jeder Aufführung im Hintergrund und malt ein Bild, das man, laut Flyer, käuflich erwerben kann."

"Ein toller Einstand vom neuen Schauspieldirektor und seinem zum Teil neuen Ensemble", findet auch Angelika Bohn in der Ostthüringer Zeitung (15.10.2012). Es seien "die auf den Punkt agierenden Schauspieler, die diese spannende und kluge Inszenierung tragen, in der es so viel zu schauen, zu erleben und zu erkennen gibt. Dabei ist es, wie es sich für eine Rummelplatzperformance gehört, ein Tanz auf dem Drahtseil: Bei Verlust der Balance droht der Absturz in die Karikatur."

 

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