Erzählen, solange es noch geht

von Jan Fischer

Celle, 13. Oktober 2012. Ein Brocken. Ein Brocken Text. Ein Brocken Geschichte. Es sprudelt aus dem Vater heraus. Es bricht aus ihm heraus, wie er da in seinem Loch sitzt, auf der runden Bühne mitten im Raum, umgeben von den Zuschauern, und weiß: Diese Geschichte ist sein Leben. Er hat nicht mehr viel Zeit. Blind ist er schon. Seine Geschichte, das ist das einzige, was von ihm bleibt. Der Sohn soll mitschreiben.

Voller Sackgassen, monumental, verwinkelt

Das ist die Ausgangssituation in Ralf-Günter Krolkiewicz' Stück "Viel Rauch und ein kleines Häufchen Asche", das – neun Jahre nach seiner Entstehung – der Regisseur Nico Dietrich in der Turmbühne des Schlosstheaters Celle erstmals auf die Bühne bringt. Das ist ein guter Ort dafür, eine Metapher für den Text, fast: Das Celler Schloss, in dem das Theater erst in dieser Spielzeit wieder residiert, ist von außen ein Monument, das sich über die Altstadt erhebt. Von innen ist es verwinkelt, lange Gänge, Treppen, die überall und nirgends hinführen. Die Turmbühne ist eine der zwei Studiobühnen des Theaters, hinter einer kleinen Tür, die an einer Stelle sitzt, wo man sie nicht erwartet. Die Bühne fasst 40 Zuschauer, 20 davon irren vor der Premiere durch das Schloss, fragen immer wieder nach dem Weg. So ein Text ist Krolkiewicz' "Viel Rauch und ein kleines Häufchen Asche": Monumental, verwinkelt, voller Sackgassen und verquerer Wege. Man kann sich gut darin verlaufen.

Der Vater erzählt dem Sohn seine Geschichte: Die Mutter, seine Frau, wird nach dem zweiten Weltkrieg aus Ostpreußen vertrieben. Muss ihr Kind zurücklassen. Wird gedemütigt und vergewaltigt. Friert und hungert. Gründet auf der Suche nach Normalität eine neue Familie in der sowjetischen Besatzungszone. Ihr Mann, der Vater, Grenzsoldat der DDR, erschießt einen Kollegen, der versucht in den Westen zu fliehen, und gerät deshalb unter Druck. Der Sohn schreibt mit, Stichworte, die er hastig und zunehmend widerwillig mit Kreide auf die Bühne malt. Die Geister der Vergangenheit tauchen aus den Löchern der Rundbühne auf: Die Mutter. Der erschossene Kollege. Der Großvater, als 16-jähriger Junge zum Volkssturm eingezogen. Eine Wahrsagerin. Und der Vater erzählt.

Keine Zeit mehr, den Text zu sortieren

In dieser atemlosen, zerbrochenen Sprache voller Irrwege, die wirkt, als hätte er, als hätte vielleicht Autor Krolkiewicz selbst keine Zeit das alles zu sortieren, als müsse die Geschichte dieser Familientragödie, die gleichzeitig auch die Geschichte einer deutsch-deutschen Tragödie ist, endlich raus. Roh, ungefiltert, assoziativ, ein anderthalbstündiger Monolog des Vaters, immer nur kurz durchbrochen von den Geistern der Vergangenheit, und am Ende, in einem rebellischen Akt des Sohnes, brutal abgeschnitten. Den Sohn holt die Vergangenheit ein. Er will nichts davon wissen.

VielRauch2 560 JochenQuast xGeschichte aus dem Loch: Der Vater erzählt dem Sohn. © Jochen Quast

Krolkiewicz veröffentlichte den Text 2003. Damals war der Schauspieler und Bühnenautor Intendant des Hans Otto Theaters in Potsdam. 2003 war auch das Jahr, in dem er erfuhr, dass er an Parkinson erkrankt ist. 2008 verstarb er an der Krankheit, und vielleicht ist "Viel Rauch und ein kleines Häufchen Asche" auch deshalb ein gehetzter Text, wie von einem, der noch seine Geschichte erzählen muss, bevor er nicht mehr erzählen kann. Aber Krolkiewicz war schon immer ein Gehetzter, einer, der nirgends eine Heimat fand. Der von der Stasi wegen seiner Texte verhaftet und gefangen gehalten wurde. Ausgewiesen wurde. Später wieder zurückkehrte. Der schauspielerte, schrieb, malte. Der nie Ruhe fand und am Ende nach Thailand zog, wie um vor sich selbst wegzulaufen. Wie der Sohn in dem Text, der am Ende mit all dem nicht mehr klarkommt und deshalb einfach nicht daran glaubt.

Schwingend entfalten

Nico Dietrich lässt in Celle den Text schwingen, anders kann man einen solchen Brocken wohl auch kaum stemmen. Andreas Herrmann als Vater färbt seinen Monolog, ohne ihn zu überinterpretieren. Wo der Text sich durch die deutsche Geschichte hetzt, ist die Inszenierung eher zurückgenommen: Ein bisschen Licht hier, ein paar Pflanzen da, aber sie versucht nie, in ihrer Schnelligkeit an den Text heranzukommen. Im Gegenteil: Die Ruhe der Mutter wirkt fast kontrapunktisch gesetzt, überhaupt sind die Aktionen auf der Bühne immer bedacht, immer eher klein gehalten – mit Ausnahme des Sohnes, der in seiner Überforderung immer weiter verzweifelt. Und so macht Nico Dietrich mit seiner Inszenierung den Text vielleicht nicht unbedingt leichter verdaulich, aber zumindest geben er und die Schauspieler diesem großen, tragischen Brocken eine Menge Raum.

 

Viel Rauch und ein kleines Häufchen Asche (UA)
von Ralf-Günter Krolkiewicz
Regie: Nico Dietrich, Bühne und Kostüme: Susanne Ruppert.
Mit: Silke Dubilier, Andreas Herrmann, Thomas Henniger von Wallersbrunn, Petra Friedrich, Larsen Garner.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schlosstheater-celle.de

 

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In unserem Niedersachsen-Schwerpunkt erschienen bisher der Überblicksartikel von André Mumot Punktsiege auf dem platten Land sowie die Besprechung von Florian Fiedlers Inszenierung Melodien für Milliarden am Staatstheater Hannover. Alle Beiträge zum Thema verzeichnet das Stichwort Niedersachsen-Schwerpunkt in unserem Lexikon.

 

Kritikenrundschau

"Regisseur Nico Dietrich sei um seine Aufgabe kaum zu beneiden", schreibt Jörg Worat in der Celleschen Zeitung (16.10.2012). "Die endlosen Textblöcke haben auf den ersten Blick etwas höchst Anstrengendes, zumal der Wahrheitsgehalt des Gesagten keineswegs immer eindeutig zu bestimmen ist und manche Erinnerung verzerrt bis falsch sein könnte." Mit Atmosphäre und sorgfältiger Sprachpflege nähere sich Dietrich dem Text. Sein Fazit: "ein spannender Theaterabend für alle Besucher, die ein wenig Geduld mitbringen und sich auf Feinheiten einlassen mögen".

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