Im Kunstmaschinenraum

von Guido Rademachers

Köln, 13. Oktober 2012. Oben das Video, unten das Making-of. Oben auf der Leinwand fährt ein Zug ab, darunter fährt die Kamera an einem detailgenau rekonstruierten 1980er-Jahre-Schlafwagenabteil der Österreichischen Bundesbahnen vorbei. Oben wehen die Haare im Fahrtwind, unten bläst ein Ventilator. Oben nimmt ein Paar im Abteil Platz, unten klappt die Zugwand hoch, und ein Team mit Handkameras setzt sich hinzu. Oben blickt eine verhärmt aussehende, schwer atmende Frau aus regennassem Zugfenster, unten steht Julia Wieninger hinter der Scheibe, während im Abteil nebenan Ruth Marie Kröger emotionslos Off-Text ins Standmikro spricht: "Im Grunde habe ich alles falsch gemacht."

reisedurchdienacht2 hoch StephenCummiskey xJulia Wieninger im Fahrtwind
© Stephen Cummiskey
Katie Mitchell hat für ihre neue Live-Video-Performance in der Kölner Halle Kalk einen entlegenen Text von Friederike Mayröcker ausgegraben. "Reise durch die Nacht" erschien 1984, aber am Ende der 130 Seiten langen Erzählung wird es trotz Tagesanbruchs nicht hell. Während einer Fahrt im Schlafwagen von Paris nach Wien entwickelt sich ein Bewusstseinsstrom zwischen Wachzustand und Traum, ein Denk- und Schreibdelirium, das zwar leitmotivisch Reales wie Kindheit (schwer), Beziehung (gestört), Schreiberfahrung (schmerzhaft), Äußeres (verwahrlost) anspricht, dem es aber im Kern um eine Entmaterialisierung, um eine Aufhebung aller Lebens- in Schreibprozesse geht. Zeit- und raumlos scheint sich alles zu durchdringen. "Wir wollen nicht mehr eine Geschichte erzählt bekommen, wir wollen nicht mehr eine Geschichte erzählen müssen."

Schmierige Zärtlichkeiten

Genau das aber macht Mitchell. Bei der ersten Erwähnung des Vaters zieht Julia Wieninger ein altes Foto hervor. Das durch den Text irrlichternde Motiv wird zum Haupterzählstrang aufgeblasen. In Rückblenden ist ein cholerischer Mann zu sehen, der im traumatisch engen, retromustertapezierten Kinderzimmerabteil seine Frau schlägt und anschließend die dabei auf den Boden gefallene Kindspuppe zu reparieren versucht.

Getreu der Erkenntnis, dass man sich mit seinen Partnern die Traumata der Kindheit erneut ins Haus holt, um an ihnen weiter zu leiden, führt sich Wieningers mitreisender Lebensgefährte kaum anders auf. Daniel Betts zeigt ihn als einen bis in die letzte getrimmte Barthaarspitze von sich überzeugten Intellektuellen, der nur die Brille aufsetzen muss, um zu erreichen, dass Wieninger ihr gerade Geschriebens gleich wieder zerknüllt. Den von Mitchell hinzuerfundenen Schaffner (Renato Schuch), mit dem sich Wieninger einen Quickie gönnt, tritt er genau so zusammen wie damals der Vater ihre Mutter. Anschließend versucht auch er es mit ein paar schmierigen Zärtlichkeiten.

Mensch gegen Landschaft, Theater gegen Film

Mitchell schrumpft den Text durch Aufpumpen. Mit ihren Zusatzhandlungen und -figuren wird er zum familientherapeutischen Fallbeispiel. Der für Mayröckers Erzählung so zentrale Prozess des Schreibens taucht dagegen nur noch am Rande auf, banalisiert als Übersprungshandlung. Dem Text, von dem ohnehin nur ein paar aus dem Schreibfluss herausgelöste Sätze bleiben (können), wird das so wenig gerecht wie seinem Anliegen. Egal.

reisedurchdienacht3 560 StephenCummiskey xÜbertragungsfuror des Filmästhetischen © Stephen Cummiskey

Es ist Mitchells gutes Recht, den Text nur als Inspiration für ihre eigene Vorstellung von Theater zu benutzen. Und die beweist wieder einmal ihre Notwendigkeit. Es ist mehr als die oft erwähnte Dekonstruktion der Gefühle und Rekonstruktion der Sinneswahrnehmungen, die ihr theatrales Filmproduktionsverfahren auszeichnet. Anders als sonst tritt diesmal das Live-Erzeugen von Geräuschen in den Hintergrund. Mitchell scheint sich immer weiter auf das Filmästhetische zu konzentrieren. Wie schon in der letzten Kölner Produktion, Die Ringe des Saturn, wird nicht mehr alles, was auf der Leinwand zu sehen ist, auch auf der Bühne hergestellt. Die Landschaftsaufnahmen sind vorproduziert. In den Unschärfen, den Lichthöfen, die sich von den am Abteilfenster vorbeihuschenden Laternen und Häusern wie Spinnennetze ausbreiten, ist die Videoästhetik dem Text und seinem Herausfallen aus der Geschichte / den Geschichten vielleicht am nächsten.

Und vielleicht ist es wie Mayröckers Übertragung des Lebens auf die Schreibmaschine genau der Übergang des Schauspielers in den technischen Apparat von Mitchells Theater, der die Faszination ausmacht. Das Schuften der Performer, mit einer großartigen Julia Wieninger an der Spitze, streng nach Plan im Kunstmaschinenraum. Mensch gegen Landschaft, Theater gegen Film. Ein Theater, das sich selbst aufs Spiel setzt. Das Schauspiel Köln hat die Spielzeit mit einem großen Abend eröffnet.

 

Reise durch die Nacht
von Friederike Mayröcker
Für die Bühne bearbeitet von Katie Mitchell mit Duncan Macmillan und Lyndsey Turner
Regie: Katie Mitchell, Video: Leo Warner, Bühne: Alex Eales, Kostüme: Laura Hopkins, Sound Design: Gareth Fry, Melanie Wilson, Licht: Jack Knowles, Film der Zugfahrt von Paris nach Wien: Grant Gee, Regie-Mitarbeit: Stefan Nagel, Produktionskoordination: Pippa Meyer, Video Programmierung: John Lyle, Dramaturgie: Jan Hein.
Mit: Nikolaus Benda, Daniel Betts, Ruth Marie Kröger, Renato Schuch, Julia Wieninger.
Live-Camera: Frederike Bohr, Lily Mc Leish, Christin Wilke, Daniel Betts, Renato Schuch.
Dauer: 1 Stunde und 15 Minuten, keine Pause.

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

"Wer eine oder mehrere der Inszenierungen Katie Mitchells fürs Schauspiel Köln gesehen hat, kann sich vorstellen, wie auch dieser Abend funktioniert", schreibt Christian Bos im Kölner Stadt-Anzeiger (15.10.2012). "Wie das technische, exakt getimte Gewusel des Live-Videodrehs mit dem inneren Monolog der Bühnenfigur(en) um die Aufmerksamkeit der Zuschauer buhlt. Obwohl doch erst die ausgestellte Technik den Blick hinter die Stirn ermöglicht." Und Bos fragt: "Und nun? Mehr vom selben?" Die Antwort: "Schon, aber wie zwingend, virtuos und erschütternd." "Reise durch die Nacht" sei Mitchells "beste Kölner Inszenierung, eineinviertel Stunden, in denen ein ganzes Leben in dunkler Zwangsläufigkeit am Publikum vorüberrauscht, eineinviertel Stunden, in denen einem der Rücken kribbelt, wie einem Voyeur, der halb damit rechnet, in der nächsten Sekunde erwischt zu werden." Und wieder sei "es die unvergleichliche Julia Wieninger, deren Großaufnahmen uns in Abgründe locken".

Höchstes Lob erhält der "kritische Realismus" Katie Mitchells, der darin bestehe, "die komplexe Wirklichkeit nicht eins zu eins abzubilden, sondern sie in Partikel zu zerlegen und mikroskopisch zu erhellen, dass sie sich fremd darstellt und kaleidoskopartig zu neuer Kenntlichkeit zusammensetzt", von Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (16.10.2012). Mitchell habe aus "Friederike Mayröckers avantgardistischer Prosa einen Psychothriller geschält und ein grandioses Gesamtkunstwerk gemacht, in dem alles stimmt, Spiel und Sprache, Musik und Bild, Lichter und Stimmen, Geräusche und Unschärfen uhrwerksgenau ineinandergreifen."

"Wenn es überhaupt einen Weg gibt, diesen Text auf die Bühne zu bringen, liegt er vermutlich in der multimedialen Richtung, die Katie Mitchell eingeschlagen hat", berichtet Ulrike Gondorf für die Sendung "Fazit" auf Deutschlandradio Kultur (15.10.2012). Die "Präzisionsarbeit der Darsteller" sei "beeindruckend", Julia Wieninger spiele "eine Psychostudie, die stimmig ist bis in jeden Wimpernschlag" sei. Allerdings kritisiert Gondorf, dass an diesem Abend "das filmische Element zu sehr dominiert". Das Filmbild "erschlägt" das Bühnengeschehen. "Schade ist vor allem, dass hier die quasi musikalische Komponente, die ausgefeilte Choreografie des Geräuschemachens ganz entfällt. Und die Filmer schleichen zwischen den Verschlägen der Zugabteile hin und her, als wollten sie eigentlich lieber nicht gesehen werden."

Meyröckers Erzählung sei "ein assoziatives, hermetisches Gebilde", und dass "Katie Mitchell überhaupt eine Geschichte daraus destillieren konnte, ist das erste Wunder dieses Abends", berichtet Katrin Fischer für die Sendung "Kultur heute" im Deutschlandfunk (15.10.2012). Das zweite Wunder bestehe im "Bühnenbild, das die Brüche und Sprünge in der Wahrnehmung der Erzählerin gleichzeitig ermöglicht und kongenial sichtbar macht." Technisch habe Mitchell in ihrer Inszenierung "diesmal abgerüstet. Es gibt nicht mehr die absolute Trennung von Sprache – Bild – Geräusche – Handlung, wie in früheren Arbeiten, sondern nur noch die Aktion hier, den gesprochenen Text dort. Auch das macht aus diesem kurzweiligen, wenn auch sehr düsteren Abend einen, der länger nachwirkt."

"Dass Mitchell die Konstruktion von Fiktion offenlegt, indem sie zeigt, wie Bilder entstehen, ist das eine", schreibt Sarah Heppekausen in der Frankfurter Rundschau (18.10.2012). Aber diesmal schlage die Regisseurin auch den umgekehrten Weg ein. "Sie zeigt eine Figur, die so in der Vorlage gar nicht existiert. Sie formuliert tiefenpsychologische Zusammenhänge, die bei Mayröckers bewusst gebrochenen Beschreibungen allenfalls erahnbar sind." Mitchell erzähle, während Mayröcker mit Sprache durch ein aufgedrängtes Leben balanciere. "Gefährlich abgründig wird’s bei beiden." Die Regisseurin konkretisiere, kontextualisiere und bediene sich bloß einzelner Textpassagen, um ihre Bilder-Story zu produzieren. Sie poetisiere eine Poetologie. "Das erzeugt trotz aller Methode erstaunliche Atmosphäre, eine melancholisch-düstere, das Leben bloß ertragende."

"Aus einem Traumspiel wird ein Traumaspiel", schreibt Vasco Boenisch in der Süddeutschen Zeitung (18.10.2012). Was Mayröcker mit Worten beschreibe, "das Übereinanderkopieren von Assoziationen", geschehe hier bildlich – "wieder mal hat Mitchell ein Händchen für den Stoff." Das Making-Of-Gewusel der Filmleute trete diesmal aber buchstäblich in den Hintergrund; "es geht nicht um Desillusionierung, sondern um das bewusste Herstellen und Heraufbeschwören von Bildern, Einbildungen, Erinnerungen."Die Unausweichlichkeit, mit der alles voranschreite, entspreche der durchgetimten Unaufhaltsamkeit von Mitchells "schmerzvoll schöner" Inszenierung. "Gerade dadurch geht einem die Geschichte nahe."

Als "durchweg gelungen" bezeichnet Stefan Keim in einer Sammelrezension in der Tageszeitung Die Welt (23.10.2012) "die neue Live-Video-Performance von Katie Mitchell". Wer glaube, sich "an der Ästhetik des vor den Augen des Publikums hergestellten Films satt gesehen zu haben", erlebe "eine Überraschung". Mitchell habe Mayröcker "radikal zusammen gestrichen" und eine "gnadenlos traurige Geschichte heraus destilliert". In den Augen der Schauspielerin Julia Wieninger lägen "von Beginn an Härte und Weltekel". Während einer Zugfahrt von Paris nach Wien schreibe sie, versuche in ihren Texten "Fragmente des Ichs zu erhalten", taumele durch die Gänge, , verwische die Grenzen zwischen Traum und Realität. Am Ende sehe sie durch das Fenster des Zuges von außen zu, wie ein Schaffner ihre vergessene Kladde weg wirft: "ihre Gedanken, ihr Leben, sie selbst".

"Wie aus einem Guss" erscheint Alexander Haas von der tageszeitung (24.10.2012) diese Inszenierung. Die Aufspaltung der Hauptfigur in Spielerin und Stimme bzw. in "Darstellung und Bewusstseinsstrom entspricht dem heterogenen literarischen Stil des Texts, der von ständigen (Ab-)Brüchen und thematischen Wechseln geprägt ist". Dabei sei die stumm spielende Julia Wieninger "das große Pfund, ja Glück der Inszenierung". Zwar glätte Katie Mitchel die "komplexe Erzählung" von Mayröcker etwas und stutzt sie "auf Normalmaß". Aber diesen Einwand lässt der Kritiker nicht allzu groß werden: Der Abend sei ein "Beleg für die Relevanz von Mitchells Regieästhetik, dass die Technik trotz ihrer hohen Präsenz auf der Bühne den Zuschauer näher an die Sache heranbringt, dass sie den Nachvollzug der Funktionsweise einer geschundenen, wütenden, leidenden, für Momente glücklichen Psyche en détail ermöglicht. Selten dürfte der Einsatz von technischen Übertragungsmedien im Theater sinnfälliger praktiziert worden sein."

 

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