Deutsches Nationaltheater Weimar distanziert sich von Breivik-Performance
Nazis raus ?
18. Oktober 2012. Das Deutsche Nationaltheater Weimar (DNT) hat kurzfristig entschieden, seine Spielstätte E-Werk nicht für die für morgen abend geplante Uraufführung von Milo Raus neuer Performance "Breiviks Erklärung" zur Verfügung zu stellen.
Das Stück, in dem Teile des Plädoyers reenacted werden sollen, das der Rechtsterrorist zu Beginn seiner Gerichtsverhandlung in Oslo hielt, wird im Rahmen des von Milo Raus "Institute of Political Murder" (IIPM) und dem DNT gemeinsam veranstalteten "szenischen Kongresses" "Die Moskauer Prozesse. Power and Dissent" aufgeführt, der morgen startet.
"Die Lecture Performance hat sich konzeptionell zu weit vom Ursprungsgedanken der Koproduktion zwischen dem IIPM und uns entfernt", begründet die Theaterleitung ihre Entscheidung, aus der Koproduktion der Performance auszusteigen. "Von den Aussagen der für die Öffentlichkeit gesperrten Erklärung möchten wir uns als Haus distanzieren."
"Breiviks Erklärung" wird morgen Abend trotzdem zur Aufführung gebracht – und zwar im 30 Meter vom E-Werk entfernten Lichthaus-Kino.
(Deutsches Nationaltheater Weimar / sd)
Mehr zu: Die Theatralisierung des Gedankenguts des rechtsradikalen Massenmörders ist äußerst umstritten – erst neulich äußerte sich Peter Kümmel in einem Essay in der "Zeit" ausführlich dazu. Zur Presseschau.
Wir halten Sie auf dem Laufenden
Wir sichten täglich, was in Zeitungen, Onlinemedien, Pressemitteilungen und auf Social Media zum Theater erscheint, wählen aus, recherchieren nach und fassen zusammen. Unterstützen Sie unsere Arbeit mit Ihrem finanziellen Beitrag.
mehr meldungen
meldungen >
- 17. April 2024 Autor und Regisseur René Pollesch in Berlin beigesetzt
- 17. April 2024 London: Die Sieger der Olivier Awards 2024
- 17. April 2024 Dresden: Mäzen Bernhard von Loeffelholz verstorben
- 15. April 2024 Würzburg: Intendant Markus Trabusch geht
- 15. April 2024 Französischer Kulturorden für Elfriede Jelinek
- 13. April 2024 Braunschweig: LOT-Theater stellt Betrieb ein
- 13. April 2024 Theater Hagen: Neuer Intendant ernannt
- 12. April 2024 Landesbühnentage 2024 erstmals dezentral
neueste kommentare >
-
Wasserschäden durch Brandschutz Rechnung
-
Medienschau Dt-Defizit Mitarbeiterrücken
-
ja nichts ist ok, Berlin Danke, Fabian!
-
Medienschau Hallervorden Stereotyp und einseitig
-
Olivier Awards 2024 Wunsch
-
Wasserschäden durch Brandschutz Es dauert
-
Wasserschäden durch Brandschutz Fragen eines lesenden Laien
-
TheatreIST-Festival Türkei Toller Bericht
-
Rücktritt Würzburg Nachtrag
-
Leser*innenkritik Anne-Marie die Schönheit, Berlin
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
wo wird in Exhibit B rechtes Gedankengut reproduziert? Stand da jemand und hat rassistische Parolen geäußert? Ist mir jedenfalls nicht aufgefallen. Zur falschen Ästhetik und zu vermeintlichem Rassismus in der Kunst kann man sicher diskutieren. Sie können aber nicht ignorieren, was Milo Rau und Brett Bailey zu ihren Produktionen im Vorfeld gesagt haben. Jedenfalls bestimmt nicht, dass sie Rassismus und rechten Terror toll finden. Sich mit den Dingen aus Rücksicht vor den Opfern nicht auseinander zu setzten, bringt uns auch keinen Schritt weiter. Das ist der typische Verdrängungsmechanismus des Bösen ins Pathologische. Und nur einfach antifaschistisch und antirassistisch zu sein, hat die Welt noch kein Stückchen besser gemacht.
Wie schon beim Potsdamer EISVOGEL wird jetzt von der Breivik-Performance behauptet, sie reproduziere rechtes Gedankengut.
Gehts noch? Warum sollen sich Otteni oder Rau entschuldigen für Figuren und Texte, die die Gesellschaft in Frage stellen? Es sind FIGUREN. Muß dann in Zukunft auch jeder Regisseur von Macbeth oder Richard Der Dritte eine Vorrede vorlesen, dass er sich von diesen schlimmen Mördern distanziert? Albern, diese Diskussion.
Doch, das gibt es: Manfred Zapatka hat Himmlers Posen-Rede (und noch etliche andere Hass-Reden) filmisch re-enacted.
Es gibt Dokumentar-Dramen wie "Ermittlung" von Peter Weiss, wo Nazis eine Stimme und eine Öffentlichkeit gegeben wird.
Beide Beispiele haben viel Zustimmung gefunden und sind mehr oder weniger klassisch geworden.
Außerdem verbietet man ja auch nicht Richard III. oder Jago oder Franz Moor wegen Hass-Propaganda.
Und Hitler-Monologe sind der Bestseller des Geschichts-Fernsehens.
Theater soll Dinge sichtbar machen. Wahrheiten zu verdrängen und zu negieren, ist Herrschaftssicherungstechnik von Diktaturen. Unter den Teppich gekehrte Wahrheiten kehren als Perversion zurück. Es war wichtig für die Bundesrepublik, 1966ff. das Schweigen über den Nationalsozialismus zu brechen.
Andererseits: Wenn ich mir vorstelle, ich spreche so einen Text auf einer Bühne und im Publikum sitzen lauter Neo-Nazis und Wutbürger, da würde mir das Herz auch in die Hose rutschen. Noch schlimmer: wenn Leute dadurch erst auf "den Geschmack" kommen oder bestätigt würden... Das ist keine alberne Diskussion, sondern ein altes Dilemma, in das auch die USA durch den Terrorkrieg reingerutscht sind: Mehr Sicherheit bedeutet weniger Freiheit...
Heute wird die Diskussion unter dem Label "Rückkehr der Politik" (als Führungshandeln) oder Neo-Liberalismus geführt. Und sie bleibt aporetisch (sorry für das Fremdwort, aber man braucht hier einfach die historische Perspektive. Den Begriff kann man ja ergoogeln.)
P.S.: Theoretisch finde ich es falsch vom DNT, auszusteigen. Aber ich kenne ja die konkrete Performance nicht, um die es geht.
Nun, es ist natürlich noch keine politische Kunstaktion, wenn man sich auf die Straße oder ins DT stellt und aus Hitlers „Mein Kampf“ vorliest. Aber Hitler und Shakespeare sind tot, Breivik lebt. Und mit ihm seine Ideologie. Das ist wohl das Unerträgliche daran. Auch Hitler lebt in seiner Ideologie weiter. Das bekommen Sie nicht weg, auch wenn Sie es totschweigen wollen. Man muss sich eben immer wieder damit auseinandersetzen. Peter Kümmel schreibt darüber in seinem Artikel in der Zeit: „Ich lese gern Literatur über Mörder (und manchmal sogar von Mördern). Aber erst dann, wenn die Mörder tot sind – wie ihre Opfer. Breivik aber ist unter uns.“ Es kommt nicht klar heraus, ob Kümmel die Projekte von Rau und Lollike tatsächlich ablehnt. Er erörtert nur lang und breit seine Bauchschmerzen damit. Das ist legitim und auch gut. Er setzt sich eben kritisch damit auseinander. Karmakars Himmler-Projekt von 2000 über die „Posener Rede“ hat man sicher ähnlich kritisch gesehen. Letztendlich ist es ein Erfolg geworden, weil eben nicht nur einfach nationalsozialistisches Gedankengut reproduziert wurde, sondern der Kontext war, sich mit den Gedanken kritisch auseinandersetzen zu können. Manfred Zapatka liest das im Film eben ganz unspektakulär und emotionslos, ohne den Ideologen direkt nachzuahmen. Man muss sich dem natürlich nicht aussetzen, und dass sich Neonazis die DVD davon zu Hause als Devotionalie in den Schrank stellen, ist auch nicht wirklich zu vermuten. Wie Rau in Weimar und Lollike in Dänemark das angehen kann noch keiner genau sagen. Man muss es sich ansehen. Schimpfen kann man danach immer noch.
1. Das Erschrecken über die ästhetische Unbefangenheit, einen TEXT zu sprechen (explizit wurde von LESUNG gesprochen, nicht von Inszenierung), der nur aus banalen Versatzstücken rechter bis rechtsradikaler Propaganda besteht. Der Nicht-Applaus am Schluss war weder einer bedrückenden Befangenheit des Publikums geschuldet, den Kontext (also dutzendfachen Mord) mitzudenken, noch aber einer Einlullung, quasi rhetorischen Glanzleistung beigewohnt zu haben. Nein, es war allein die Ratlosigkeit einem politisch-apologetischen Text gegenüber, der in einem performativen Rahmen eine Ästhetik behauptet, die er nicht einlösen kann.
2. Was trotzdem inhaltlich interessant war: Die wahnwitzigen Rationalisierungen von irrationalen Elementen in Breiviks Denken ("kriminalpsychologisch"), das bunte Geschwafel aus Versatzstücken der rechten und linken Szene, vermischt mit Gemeinplätzen und Stammtisch-Chuzpe ("rhetorisch-politisch") und die eindrückliche Bestätigung, dass Theater (oder meinetwegen Performance) mehr ist als der semantische Gehalt. Und wenn dieses ästhetische "Mehr" fehlt, ist es einfach Nicht-Kunst.
@politisch? Ihr Argument trifft total daneben. Wieso sollte das die Absichten eines Regisseurs diskreditieren, wenn er mit einer Performance auch sich selber "interessant" macht. Es geht bei Theater immer auch um Positionierung, Hinstehen, Stellungnahme, Sich-selber-ins-Gespräch-bringen. Gerade dieser Akt - auch jener von der "Leserin" - ist eben dann ein politischer, Oeffentlichkeit generierender Akt. Wenn man sich mit einem solchen Typen wie diesem B. beschäftigt, ist es ein Muss, sich selber auch ins Gespräch zu bringen, als Individuum, als "Regisseur", als "Schauspielerin", als Mensch, der sich diesem Komplex annimmt.
1. Zum Breivik-Text zustimmen
2. M.Rau ans Haus holen
3. Einen Tag vor der Premiere absagen
4. Bundesweit garantierte Presse- und Kommentatoren-Aufmerksamkeit ernten
5. Prima. Theater reibt sich und bleibt (un-)kritisch...schnarch*
"Und wir reflektieren und reden nun auch wieder in diesen Medien über diese Tat, wir Theatermenschen, die so abhängig sind von diesen Gräueln.
Nein, Samuel Schwarz: Diese Gräuel gäbe es auch, wenn es kein Theater gäbe.
Sie engen den Theaterbegriff ein: Gräueltheater ist nur eine von vielen Varianten des Theaters. Sie suggerieren so eine Komplizenschaft zwischen Theaterleuten und Verbrechern.
Und Ihre Interpretation von "Wilhelm Tell" war mal zu Zeiten der RAF-Debatte, auch bei Heyme beliebt, wo dann Germanisten "Weimar liegt bei Buchenwald" raunten, blendet aber aus, dass Wilhelm Tell Ende des Dritten Reichs verboten war (als er nicht mehr opportun war) und der Hitler-Attentäter Georg Elser sich auf ihn berief, worauf Rolf Hochhuth permanent hinweist.
Die nationalistische Interpretation im Gefolge des Versailler Vertrags 1919, auf die Hitler & Co sich draufsetzten, war schon damals nur durch tendenziöse "Bearbeitungen" möglich. Man strich die Johannes Parricida-Szene (V, 2), in der Tell den Vatermörder = lat. Parricida, der aus gekränktem Ehrgeiz mordete, aus seinem Haus weist, weil er sich nicht gemein machen will mit Mördern. Propaganda sagen die Propagandisten. Aber Tell wird nach dem Mord an Gessler Pazifist:
"Wilhelm: Wo aber hast du deine Armbrust, Vater?
Tell: Du wirst sie nie mehr sehn.
An heilger Stätte ist sie aufbewahrt;
Sie wird zu keiner Jagd mehr dienen."
Das ist keine Waffenweihe und keine Mythenstiftung, die hier vorgenommen wird, sondern die Absage an Gewalt. Denn Tell (siehe den berühmten Gassen-Monolog) entschied sich erst in dem Moment zum Tyrannenmord, als Gessler ihn zwang, auf seinen Sohn zu schießen = zum Mord zwang. Hätten die Deutschen (und ihre Sympathisanten in den besetzten Ländern) 1941ff. wie Tell gehandelt, hätte es keine KZ-Wärter, kein Buchenwald gegeben.
Und man könnte sowohl am Tell als auch an anderen Schiller-Stücken zeigen, dass sie dem Widerstand mit Recht dazu dienten, die Bevölkerung zum Widerstand gegen das NS-Reich zu bewegen: 1942 am Berliner Schiller-Theater z.B. (Braut von Messina) oder 1944 in Metz (Kabale und Liebe). Sogar in Breshnevs Sowjetunion diente Schiller noch dazu.
Ich distanziere mich von den Anpöbelungen, die Sie aufgrund Ihrer Tell-Inszenierung erfahren haben und bin gegen jede Art von Verboten. Aber Schiller nationalistisch zu verkürzen (und sei es auch in kritischer Absicht) halte ich für brandgefährlich.