Peng, Blut, aus

von Kai Krösche

Wien, 19. Oktober 2012. Augenblick mal – war da was? Eine Stunde bereits nach Erlöschen der Lichter im Zuschauerraum ist die Bühne des Wiener Volkstheaters voll mit Blut und Leichen, hockt ein irr gewordenes Gretchen neben ihrem toten Bruder, erliegt ein reumütiger Faust – und mit ihm Mephisto selbst – seiner eben noch selbst beigefügten, tödlichen Schusswunde – und die Bühne versinkt im Schlussblack. Das soll sie gewesen sein, die tragische Geschichte des erkenntnisdürstenden Faust und seines geliebten, erst in den Mutter- und Kindsmord, dann in den Wahnsinn getriebenen Gretchens?

urfaust 560 christophsebastian uFaust im Gehäuse. © Christoph SebastianSicher, der "Urfaust" ist nicht "Faust I", doch die 60 Minuten, auf die Regisseur Enrico Lübbe die ohnehin schon straffe "Urfaust"-Fassung hinuntergestrichen hat, sind dann doch etwas zu wenig des Guten. So wenig, dass am Ende nichts mehr übrigbleibt außer vereinzelter Bilder, nicht ausformulierter Konzeptfetzen und (isoliert betrachtet) überzeugender, aber zusammenhanglos wirkender Schauspieldarbietungen.

Hardrock und Papiertaschentücher

Dabei beginnt der Abend mit starken Bildern: ein blutüberströmtes und verzweifelt stotterndes Gretchen (Nanette Waidmann) in düsterem Licht inmitten eines von Bühnenbildnerin Michaela Barth teils aus Holz konstruierten, teils aus halbdurchlässigem Stoff bestehenden Kubus; kurz darauf ein sich zu lauten Hardrock-Klängen in Rage redender Faust, der wild Papiertaschentücher aus einer sich auf der Höhe seines Schritts befindlichen Box reißt (eine elegante und humorvolle Verbildlichung des umgangssprachlichen Begriffs "Hirnwichsen"); schließlich ein starker Anfangsmonolog inmitten einer Horde nackter Frauen, denen sich Faust einer nach der anderen wie ein spätpubertär Teenager mit Torschlusspanik selbstentlarvend und erfolglos anbietet – das sind durchaus eindrückliche Bilder, die ein Konzept erahnen lassen, das vielleicht mit etwas mehr Verdichtung hätte aufgehen können.

urfaust 280a christophsebastian uSchmieriger Mephisto, armes Gretchen.
© Christoph Sebastian
Doch dann? Rast die ganze Geschichte wie im Schnelldurchlauf davon – und das, obwohl sich Goethes erste, in seinen Sturm-und-Drang-Zeiten im Alter von Mitte 20 verfasste "Faust"-Fassung ohnehin fast ausschließlich auf den Handlungsstrang um Faust und Gretchen konzentriert. In der einen Szene gibt Denis Petković noch den unangenehm-notgeilen Sonderling mit Strickjacke und Brille, der im Angesicht des schüchternen Gretchen kein Wort herausbringt, in der nächsten Szene schon hat sich dasselbe Gretchen ausgerechnet in diesen so gar nicht charmanten, augenscheinlich nur auf das Eine abzielenden Unsympathen hoffnungslos verliebt. Dann plötzlich trägt Faust Jackett statt Strickjacke und scheint wie von jetzt auf gleich reif und erwachsen. Die Gretchenfrage fällt und mit ihr die Klamotten, Gretchen und Faust machen Liebe, Gretchen wird schwanger, Gretchen kriegt von einem intriganten Lieschen (trotz Mini-Auftritt überzeugend verkörpert von Nina Horváth) ein schlechtes Gewissen gemacht, Gretchen ist plötzlich bereits Kindsmörderin. Peng, Blut, aus.

Turbo-Tragödchen

Zwischendurch meldet sich ein auf Rockabilly-Rebell gestylter Robert Prinzler als Bruder Valentin mit zwei, drei Sätzen zu Wort und klagt überzeugend über seine verletzte Ehre, wird dann aber auch schon wieder (im "Urfaust" stehen ja nur die paar Valentin-Zeilen) nach zwei Minuten von Mephisto abgeknallt. Apropos Mephisto: Der ist auch die ganze Zeit dabei in der Gestalt des schmierig auf Zuhälter gestylten Günter Franzmeier. Wie dieser Mephisto in Fausts Leben kommt, erschließt sich aufgrund von Textstreichungen genausowenig wie die Tatsache, dass er an Fausts Stelle nach dem Liebesakt nackt an Gretchens Schulter lehnt – oder dass er selbst blutend zu Boden geht, als sich Faust schlussendlich erschießt. Als wäre es nicht offensichtlich, dass es sich bei Faust und Mephisto um die künstliche Aufspaltung zweier Seelen handelt, die ach! in einer Brust wohnen (und nein, die Fight-Club-Referenz im Programmheft macht die unnötige Umkehrung dieser bewussten Trennung in Lübbes Inszenierung nicht weniger plakativ). Lübbes Regie füllt die Leerstellen, die Goethes Fragment hinterlässt, nicht – sie stellt jedoch ebensowenig die Lückenhaftigkeit der Vorlage bewusst aus. Stattdessen tut sie einfach so, als wären die Sprünge in der Geschichte nicht da.

Das war nichts, wär’s nicht so schade um die starken Schauspieler, die zur unmöglichen Aufgabe verdammt sind, darstellerisch eine Spannung zu halten, die von der Regie überhaupt erst hätte aufgebaut werden müssen, deren potentiell bewegendes Spiel damit also in eine ratlose Leere läuft. "Urfaust", das klingt nach "Kern", nach "Essenz"; an diesem Abend aber bleibt lediglich der Eindruck eines visuell interessanten und handwerklich gut gearbeiteten, inhaltlich jedoch bis auf ein paar wenige Tropfen verkochten Turbo-Tragödchens.

 

Urfaust
von Johann Wolfgang von Goethe
Regie: Enrico Lübbe, Bühne und Kostüme: Michaela Barth, Dramaturgie: Doris Happl.
Mit: Denis Petković, Günter Franzmeier, Nanette Waidmann, Heike Kretschmer, Nina Horváth, Robert Prinzler, Alina Bachmayr, Katja Hoffmann, Gabriele Langer, Lisa Leeb, Isabella Neubauer, Hannelore Schmid, Verena Sigl, Franziska Treml, Viktoria Waldhäusl, Susanne Brandstetter, Barbara Recheis, Elisabeth Weninger.
Dauer: 1 Stunde 5 Minuten, keine Pause

www.volkstheater.at

Kritikenrundschau

"Das Volkstheater ist heuer mit Fortune unterwegs", schreibt Barbara Petsch in der Wiener Tageszeitung Die Presse (21.10.2012), und zwar "beeindruckt" von dieser "brutal kurzen Urfaust-Version", der sie "zwingende Vehemenz" bescheinigt. Die Besetzung sei gut gewählt, "vor allem die Frauen", auch wenn Faust etwas weniger frostig und Mephisto witziger sein könnte. Lübbes Entwurf wirkt auf die Kritikerin "überraschend, packend, authentisch: ein roher 'Faust' von heute."

Von einem "kleinen Meisterwerk" spricht Margarethe Affenzeller im Wiener Standard (22.10.2012). Enrico Lübbes große Könnerschaft hat das Volkstheater aus ihrer Sicht mit dieser "gespenstisch dichten Inszenierung" "die vorderste Reihe sämtlicher hiesiger Theaterhäuser katapultiert". Mit seinem Co-Autor Torsten Buß habe Lübbe Goethes Urfaust auf einfachste Gesten und schärfste Gedanken heruntergehungert. "Mindestens ebenbürtig zum Text" wirkt auf die Kritikerin "das Theater mit seinen Raumordnungen, mit seinen Gesten und Stimmen und einer durch diese kompromisslose Verdichtung erzeugten und berückenden Stimmung, die die Teufelsmusik von Deep Purple (Child In Time) leitmotivisch durchströmt." Lübbes klaren und kompromisslose Regie-Gedanken habe das Volkstheater-Ensemble auf ganzer Strecke mitgetragen. "Kaum je hat man die hier engagierten Schauspielerinnen und Schauspieler so aufblühen gesehen."

 

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