Im Wäschegarten der naturalistischen Gespenster

von Tim Schomacker

Osnabrück, 20. Oktober 2012. Kaum merklich bewegen sich die Kleider. In einem Wind, der nirgendwo her kommt. Vier meterlange Kleiderstangen hängen der Höhe nach versetzt hintereinander. Eine Wäschewand. Später offenbart sie ihren Mechanismus. Das Gebilde wird heruntergelassen. Die Klamotten liegen nun fast auf dem Boden, machen Platz für ein Quadrat aus knallweiß lackierten Holzlatten, das sich schauspielend als Wohnung einrichten lässt. Verglichen mit der buntscheckigen Düsternis der Kleiderkammer ändert sich der Gesamteindruck der Spielfläche optisch ums Ganze, wenn Hosen und Hemden heruntergelassen sind.

Ausstatterin Iris Kraft hat für diese "Ratten" eine beeindruckend schlichte Konstruktion entwickelt, die unterstreicht, wie die Figuren einander zu Gespenstern werden. Zwei Frauen überraschen einander inmitten des hängenden Wäschegartens – und intonieren einen hinreißend gedehnten Entsetzensschrei. Gegen Ende wird Martin Schwartengräbers eruptiv ehrlicher Polier Paul John das ganze Ding zum Schaukeln bringen. Gegen wirtschaftliche wie wohnliche Schieflagen wird er dabei anschreien. Und gegen sein ganz persönliches Unglück.

Der Dachboden unter der Wohnung

Regisseurin Annette Pullen weiß über weite Strecken eine Menge mit dieser flexiblen wie aussagekräftigen Apparatur anzufangen. Indem sie viele Szenen des eigenartig geisterhaft durchdrungenen Naturalismus-Klassikers nach graphischen Gesichtspunkten baut. Indem sie die traurig kinderlose Poliersgattin John und die werdende Welfare-Mother Pauline je frontal ins Publikum sprechen lässt. Erstere meldet bekanntlich Eigenbedarf an als letztere niederkommt, will das Kind ihrer kleinbürgerlichen Familie einverleiben. So kommt Hauptmanns Sozialdrama in Gang. Die arme Einwanderin Pauline willigt ein. Als sie später ihr Kind zurückfordert, hält sie die tragische Maschine am Laufen. Sie wird sterben, der Polier schreien.© Markus KruszewskiOben kleinbürgerliche Holzlatten, unten der geisterhafte Dachboden. © Markus Kruszewski

Anders als in der akribisch notierten Innenarchitektur der Mietskaserne in Hauptmanns Textbuch befindet sich hier der Dachboden (mit den Klamotten) unterhalb der Wohnung der Eheleute John. Was sagen mag, dass dieses Drama sich so eben ausschließlich (ja, wörtlich) auf dem Theater abspielt. Dass hundert Jahre nach der Uraufführung die "Ratten" ähnlich fest im Dramen-Kanon verankert sind wie seinerzeit die Schillers und Goethes. Und dass die Figur des Theaterdirektors Hassenreuther – der seinen Kostümfundus im Obergeschoss des Mietshauses parkt und sich als putziges Bollwerk gegen seinerzeit zeitgemäßere Bühnenformate (Hauptmanns Vorstellungen inbegriffen) in Stellung bringt – längst selbst Teil dieser Tradition ist. Als Vorlage, die Thomas Schneider mit hellem Leinenanzug und halblang wallenden grauen Haaren komödiantisch dankend annimmt.

Januswesen und Doppelrollen

Die Mischung aus statischen Figurenkonstellationen, abgezirkelten Laufwegen und kargen Komik-Elementen (drei Frauen machen gleichzeitig Klimmzüge an den Kleiderstangen, auf dass sie im Stoff verschwinden und ihre Anwesenheit sich dem Blick des Fundusbesitzers nicht offenbart!) wirkt mitunter so, als habe ein akkurater Sprechtextfanatiker wie Thomas Bischoff eine Screwballkomödie inszeniert. So springt die verängstigte Walburga, die auf dem Dachboden statt ihres Verehrers viel zu vielen anderen Menschen begegnet, der John auf den Arm. Es entsteht für den folgenden Dialog ein eigenartiges Januswesen, das mit der simplen Drehung um 180 Grad dem Publikum stets das Sprechgesicht zeigt.

Pullen hat das Personal verschlankt. Hausmeister und Schutzmann verschmelzen in Tilman Meyns schmierig-protofaschistischer Figur. Hassenreuthers Schauspielschülertrio wird in der Figur des blassen Landpfarrersohns Spitta vereinigt. Dessen kulturpessimistischen Vater gibt's ausschließlich vom Hörensagen. Das schafft nicht nur für Monika Vivells solide durchknallende Kleinbürgerin John Platz, sondern vor allem für deren Nachbarstochter Selma.

Ein-Mädchen-Chor

Sie scheint die einzige zu sein, die alles durchschaut. Irgendwie. Marie Bauer spielt Selma als eine Art geisterhaft daueranwesenden Ein-Mädchen-Chor, der durch wenige Blicke und Gesten kommentiert – als "einzige Zeugin" und durchaus schuldhaft ins Kindertauschprogramm verstrickt –, aber kaum eingreifen kann. Auch wenn nach zweieinhalb Stunden nicht ganz klar ist, wie Regisseurin Pullen den souverän in den Bühnenraum gehängten Klassiker in der Gegenwart verankern möchte: Die jüngste Figur – durchaus gegen die Vorlage – Richtung Zentrum zu schieben, ist immerhin ein interessanter Hinweis.

 

Die Ratten
von Gerhart Hauptmann
Regie: Annette Pullen, Ausstattung: Iris Kraft, Dramaturgie: Anja Sackarendt.
Mit: Marie Bauer, Andrea Casabianchi, Christian Hagedorn, Magdalena Helmig, Marcus Hering, Tilman Meyn, Sabine Osthoff, Jakob Plutte, Stephanie Schadeweg, Thomas Schneider, Martin Schwartengräber, Monika Vivell.
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause.

www.theater-osnabrueck.de

 

Am selben Tag wie in Osnabrück feierten Die Ratten auch am Schauspiel Köln Premiere, dort angerichtet von Karin Henkel.

 

Diese Besprechung ist ein Beitrag zum Niedersachsen-Schwerpunkt von nachtkritik.de in der Saison 2012/13. Alle Beiträge zum Thema verzeichnet das entsprechende Stichwort Niedersachsen-Schwerpunkt im Lexikon.

 

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Kritikenrundschau

Christine Adam schreibt auf der Internetseite der Neuen Osnabrücker Zeitung (21.10.2012, 16:54 h): die Inszenierung stelle sich dem bereits "durch Spukelemente aufgeweichten Naturalismus Gerhart Hauptmanns", ohne dabei in "realistische Milieu-Bebilderung" zurückzufallen, dafür stehe das schon das Theaterfundus-Bühnenbild, durch das jeden Moment jemand schleiche und lausche. Alle Figuren seien mit "ausgefeiltem Rollenprofil voneinander abgegrenzt worden". Der Abend mit "seinen Wechseln zwischen stilisiertem und psychologisch realistischem Spiel" mache es möglich, die "große Wandlungsfähigkeit der Schauspieler innerhalb einer Rolle zu beobachten". Das verleihe ihm, trotz einiger Längen, "erfreuliches Eigengewicht". Weil er an "das gute alte Schauspielertheater" anknüpfe.

Heiko Ostendorf schreibt auf HalternerZeitung.de (21.10.2012, 21:32 h): Mehr als mit den "sozialen Mechanismen", wie noch bei Hauptman, kämpften die Protagonisten bei Pullen "mit sich selbst". Durch die "extreme Konzentration" auf die "inneren Vorgänge der Figuren" erschaffe die Regisseurin eine "eindringliche und oft angespannte Seelenstudie einer Kindsräuberin". Kleine "humorvolle Einlagen" schärften die Aufmerksamkeit für die "Hilflosigkeit der Personen". Besonders beeindrucke die Leistung von Monika Vivell als Jette John, die mal mit Engelszungen rede, aber alle, die ihrem Plan im Weg stünden, anschreie oder würge. Meist agierten die Darsteller "voneinander abgewandt". Die Figuren blieben dadurch "in ihrer eignen Welt gefangen". "Hilfe wird niemand bei seinem Gegenüber finden." Pullen erzeuge damit eine Stimmung, die die Folgen der "sozialen Realitäten in den seelischen Gemütslagen der Menschen, die deren Opfer geworden sind," veranschauliche.

 

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