Leidgeprüft in einer Welt aus Zeichen

von Sarah Heppekausen

Essen, 21. Oktober 2012. Das erste Lebenszeichen ist ein Schnaufen, ein Gegen-die-Wand-Stoßen. Dann robbt Menuchim rücklings aus dem Off auf die Bühne, nackt, verkrampft und unkontrolliert. Erst danach lösen sich die anderen der Singer-Sippe aus ihrer Starre, die Leere ihres Blicks aber nehmen sie mit. Bei aller Bewegung, trotz großer Gesten und wütender Ausbrüche bleiben sie emotional Gedämpfte. Distanziertheit klebt an ihnen wie eine familiäre Charaktereigenschaft.

Diese Kühle und Eingefrorenheit ließe sich als Erfahrung von Fremdheit deuten. Die ist nicht nur ein Lebensgefühl von Joseph Roths Roman-Protagonist Mendel Singer, der sich als frommer Jude in einer modernen, gottloser werdenden Gesellschaft einzurichten hat. Fremd ist uns auch das Leben eines Dorfschullehrers in einem ostjüdischen Schtetl kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Aber unzugänglich bleiben in Wolfgang Engels Inszenierung von Roths "Hiob" (in der Fassung von Koen Tachelet) nicht die äußeren Umstände, sondern die Figuren.

07 hiob 560 thilo beu uAnnika Martens, Stefan Diekmann, Bettina Schmidt, Tom Gerber im Essener "Hiob". © Thilo Beu

Theatersemiotik

Auf der ansteigenden Drehbühne im Essener Grillo Theater hat Andreas Jander ein Labyrinth aus weißen, hüfthohen Elementen platziert, die in wechselnder Lichtstimmung an hebräische Schriftzeichen erinnern. Sie blockieren Wege wie Begegnungen, Sehnsüchte und den freien Willen. Zumindest in ihrer Funktion als Sinnbild. Aber die Schauspieler können sie auch überspringen, sie laufen auf ihnen, wenn auch wie auf unsicheren Brücken.

Engel setzt lauter Theaterzeichen. Menuchim, Mendels behinderter jüngster Sohn, kriecht nicht nur nackt über den Boden, weil er im Roman wie im Stück als Tier bezeichnet wird. Er wird von seiner Mutter auch in einen Kinderwagen gequetscht, weil niemand sieht, dass auch er älter, reifer wird. Mit Gasmasken verweist der Regisseur auf den Krieg. Die tauschen Mendels Bibelschüler gegen ihre Mützen, wenn eine Sirene ertönt. Und wenn Mutter Deborah (Bettina Schmidt) stirbt, zieht sie sich die Schuhe aus. So wird die Inszenierung zum Fall für die Theatersemiotik.

Zeichenträger

Mendel Singer ist – in Anlehnung an den alttestamentarischen Hiob – ein Leidgeprüfter. Ein Sohn ist behindert. Die beiden anderen sollen zum Militär, obwohl die jüdische Tradition das verbietet. Und die Tochter lässt sich im Kornfeld mit Kosaken ein. Schauspieler Tom Gerber lehnt sich an die Wand und schlägt die Hände vors Gesicht, wenn er feststellt, dass ein Fluch auf seinem Haus ruht. Sein Mendel ist ein Enthusiast, dessen Lebensleidenschaft unterm schwarzen Mantel eingeschnürt ist. Erst im zweiten Teil, wenn Eltern und Tochter Mirjam ihrem desertierten Sohn ins gelobte Land Amerika folgen, bekommt dieser Mendel auch mal einen wechselnden Gesichtsausdruck, auch einen ironisch-komischen Zug. Aber wieder muss der Schauspieler vor allem Zeichenträger sein: Sein Mendel krallt sich permanent an einen Koffer, weil er ein Heimatloser, ein niemals Angekommener ist. Juden tragen einen Hut, Amerika kündigt sich mit Leuchtreklame per Videoprojektion an und der kleine Enkel winkt mit "Stars and Stripes". Nichts überrascht in dieser Inszenierung.

Illustration und Demonstration

Mit der Aussicht auf die Freiheitsstatue dreht sich die Bühne und das Labyrinth lichtet sich zur weißen, offenen Fläche. Aber der Traum von Selbstverwirklichung in einem besseren Leben währt nur kurz, die Bühne dreht sich zurück, die Wege verengen sich wieder. Der Text wird illustriert als böte er keine Zwischenräume. Die Poesie des märchenhaft erzählten Romans verliert sich in korrekter, aber eindimensionaler Übertragung in Bühnensprache. Engel hält sich konsequent an Tachelets dichte Textfassung, kann ihr aber keine nachwirkenden Szenen (wie Johan Simons vor einigen Jahren) entlocken.

Fragen nach Gott, Auswanderung und Integration werden demonstriert, aber nicht zum Thema einer Auseinandersetzung gemacht. Der kranke Menuchim, den die Familie in Südrussland zurücklassen musste, kommt am Ende als Prophet wieder, über eine Leiter steigt er auf in den Amerika-Himmel. Während er seine Klezmer-Band dirigiert, neigt Mendel seinen Kopf zur Seite und stirbt. Ein schönes, versöhnliches Bild. Über eine leere Inszenierung kann es nicht hinwegtrösten.

 

Hiob
nach dem Roman von Joseph Roth in einer Fassung von Koen Tachelet
Regie: Wolfgang Engel, Bühne: Andreas Jander, Kostüme: Zwinki Jeannée, Komposition und Musikalische Leitung: Tobias Schütte, Dramaturgie: Marc-Oliver Krampe.
Mit: Tom Gerber, Bettina Schmidt, Tobias Roth, Jens Ochlast, Annika Martens, Stefan Diekmann, Johann David Talinski, Nina Meyer / Ana Lía Conenna-Meier, Enes Cetin / Kiyan Do Lago Martins.
Dauer: 2 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.schauspiel-essen.de

 

Die letzten Hiob-Inszenierungen, die wir besprachen waren die von Johan Simons an den Münchner Kammerspielen im April 2008 und die von Klaus Schumacher im Deutschen Schauspielhaus Hamburg im November 2011.

Kritikenrundschau

Martina Schürmann schreibt auf Der Westen (22.10.2012), dem Internetportal der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung: Wolfgang Engel inszeniere klar und kühl. Er habe sich "tief in den Stoff hineingearbeitet" und die "Fasern dieses Geflechts aus Fremdheit, Schuld und Glaubensverlust" auf "Gegenwartstauglichkeit befühlt, ohne nach vordergründiger Aktualität zu suchen". Trotzdem bleibe uns "der fromme Jude Mendel Singer seltsam fremd". Tom Gerber spiele ihn als "Taumelnden ohne Fallhöhe". Als "religiösen Hardliner", der in "tiefster Verzweiflung" keine Miene verziehe. Andreas Janders "aufsteigendes Stelenfeld" erinnere an "hebräische Schriftzeichen und ans Berliner Holocaust-Mahnmal", hier nehme die "konzentrierte, zunächst fast athletische Inszenierung" Anlauf, die Geschichte über "Raum und Zeit hinauszutragen". Die kurzen Szenen gerieten "prägnant, manchmal aber etwas plakativ". Erst am Ende lasse sich die Inszenierung auf "die Musikalität und Märchenhaftigkeit der Romanvorlage" ein.

Achim Lettmann schreibt auf der Internetseite des Westfälischen Anzeigers (22.10.2012): Mendel Singers Prüfung durch Schicksalschläge habe Wolfgang Engel "ganz ambivalent" inszeniert. Einmal lasse er Roths Figuren die "Not der Ostjuden verstrahlen", so mühevoll rangelten sie ums Dasein. Zum anderen bewegten sie sich zwischen halbhohen weißen Wänden, einer "aseptischen Installation", die die Figuren seltsam vereinzele. "Liebe, Empfindungen und Glauben" hätten es hier schwer. Tom Gerber fehle ein "Gefühlsspektrum, das die Extreme der Figur glaubwürdig" mache. "So taff er sich bei manchen Lebenseinsichten auch gibt, sie wirken blutleer." Koen Tachelets Theaterfassung werde zu oft als Textfläche aufgesagt. Regisseur Engel lasse seine Figuren monologisieren, Roths Ton treffe er nicht.

 

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