Under Construction.

von Wolfgang Schneider

Hildesheim, 24. Oktober 2012. Fünf Thesen zum Vortrag im Rahmen der Ringvorlesung "Theater. Entwickeln. Planen. Kulturpolitische Konzeptionen zur Reform der Darstellenden Künste" des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim

Die Krise des Kulturstaates ist die Krise der Kulturfinanzierung in den Kommunen ist die Krise der Kulturpolitik! Kommunale Kulturförderung hat es versäumt, eine Verständigung darüber herzustellen, welche Rolle Theater zukünftig in der Gesellschaft spielen soll, welche Strukturen hierfür nachhaltig Wirkung erzielen und welche Maßnahmen zu ergreifen wären, um eine breite Partizipation der Bevölkerung zu ermöglichen.

Erstens
Die künstlerischen und politischen Träger der deutschen Stadt- und Staatstheater sind mit Schuld an der Misere, weil sie allzu gerne nur auf die Perpetuierung ihres Systems beharren. Die Situation, in der wir uns im Moment befinden, ist nicht nur eine Folge des Versagens der Kulturpolitik, sondern auch der Theater. Wenn sie sich selbst für neue Formen geöffnet haben, dann nur in einigen wenigen Projekten. Wenn sich etwas geändert hat, dann eigentlich nur durch einzelne künstlerische Persönlichkeiten, die hier und da die Zeichen der Zeit erkannt haben. Aber es ist nichts Strukturelles passiert, bei dem man sagen könnte, dass es eine Perspektive für das Überleben wäre.

Zweitens

"Ich gehe sehr ungern ins Theater", schreibt der 17-jährige Mourad R. dem Forum Freies Theater Düsseldorf. Warum er nicht gerne ins Theater geht, kann man im dritten Band einer Brief-Edition unter dem Titel "Absagen ans Theater" (April 2012) lesen: " ... ich habe Besseres und vor allem Wichtigeres zu tun". Theater ist für ihn wie für viele andere Schüler "eine nervende Pflichtveranstaltung". Anscheinend hat unsere viel gerühmte Theaterlandschaft nicht angemessen auf Zuwanderung reagiert und kulturelle Vielfalt nicht entsprechend auf der Agenda. Dabei bezeichnen sich doch insbesondere die Stadt- und Staatstheater gerne als Spiegel der Gesellschaft. In unserem Kulturstaat ist das Schauspiel aber ziemlich deutsch geblieben. Nicht nur das Publikum entspricht nicht der bunten Republik, auch im Personal und in den Produktionen ist das Theater wenig multiethnisch.

Drittens
Die Enquete-Kommission spricht von einer Theaterlandschaft und nimmt damit die Darstellenden Künste in der Breite wahr. Es gibt zum Beispiel mehr als 2500 Vereine des Amateurtheaters in Deutschland, die regelmäßig über das Jahr verteilt Aufführungen anbieten, manchmal auf der großen Freilichtbühne den ganzen Sommer lang mit vielen Mitwirkenden. Manchmal ist es aber eben auch eine kleine Gruppe, hochartifiziell, politisch, im kleinen Raum, in der Provinz. Dies ist ein Bereich, den ich für ebenso anerkennungswürdig halte und den auch ein freies Theater oder ein Stadttheater nicht einfach als "Laiensclub" abtun kann. Theater ist mehr als das, was feuilletonistisch verhandelt wird.

Viertens
Immer wieder behaupten Intendanten, Theater sei per se kulturelle Bildung und plappern damit den Sonntagsreden der Politik hinterher. In der Breite fehlen klare Konzepte. Und in Anbetracht von Spielplänen, die sich an den Pflichtlektüren orientieren, drängt sich die Frage auf, ob Theater nicht kurz vor der Instrumentalisierung, man könnte auch Funktionalisierung sagen, steht. Kulturelle Bildung muss also immer wieder neu definiert werden, als eine Bildung für und um das Theater, als eine Wahrnehmungsschulung, eine Schule des Sehens und ein Programm der ästhetischen Bildung.

Fünftens
Theaterförderung ist auch Risikoprämie. Wer öffentliche Mittel erhält, erhält auch die Lizenz zum Scheitern. Das unterscheidet auch die Begrifflichkeiten: Investitionen einer Kulturpolitik in Theater müssen nicht die Marktfähigkeit der Darstellenden Kunst erzeugen – wie etwa Subventionen einer Wirtschaftspolitik! Aber auch Investitionen bedürfen der Konzeptionen. Standortsensibilität sollte Theater vor Ort an allen Orten entwickeln, spielen und spielen lassen als theatrale Grundversorgung verstehen, mobile "Szenische Einsatzkommandos" (SEK) sollten über kurz oder lang als dramatische Interventionstruppen die Landesbühnen in ihrem gesellschaftlichen Auftrag ablösen.

Kann man diese Überlegungen nun kulturpolitisch konturieren? Wichtig wäre in dem Zusammenhang, dass es die Theaterleute selbst in die Hand nehmen müssen, aber die Kulturpolitik den Auftrag hat, das mindestens zu moderieren und den Mut aufzubringen, die Möglichkeit hierfür zu schaffen. Das Ziel einer Theaterentwicklungsplanung könnte also sein: Mehr Theater für mehr Publikum. Das Prinzip dabei muss sein, kulturelle Vielfalt zu gewährleisten, nämlich verschiedene Formen und auch verschiedene Strukturen von Theater. Ein kulturpolitisches Kriterium einer solchen Theaterentwicklungsplanung wäre Interdisziplinarität. Das jetzige System ist diesbezüglich völlig überholt. Wo gibt es das noch, dass wir vom Sprechtheater reden, dass das Musiktheater ein eigener hermetischer Komplex ist genauso wie das Ballett, das Tanztheater und irgendwo auch das Kinder- und Jugendtheater sowie das Figurentheater. Gerade die Avantgarde arbeitet von jeher interdisziplinär und selbstverständlich auch am Stadt- und Staatstheater. Mehr davon!

 

schneider1 120qProf. Dr. Wolfgang Schneider, geb. 1954, ist Direktor des Instituts für Kulturpolitik der Universität Hildesheim, war Sachverständiges Mitglied der Bundestag-Enquête-Kommission "Kultur in Deutschland" und ist seit 1997 Vorsitzender der ASSITEJ Deutschland (Internationale Vereinigung des Theaters für Kinder und Jugendliche).

 

Mehr zur Vorlesungsreihe: www.uni-hildesheim.de

Alle Hildesheimer Thesen sind im Lexikon zu finden

Siehe auch: die Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de

 

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