Die Durchleuchtung der Dreifaltigkeit

von Christian Rakow

Berlin, 2. November 2012. Zwei Stunden zwanzig Minuten Spieldauer, 21:20 auf der Uhr. So früh kommen wir nicht oft aus einem Castorf-Abend, insbesondere wenn Frank Castorf sich Dostojewski vornimmt. Im Gepäck manch berückenden Moment: Wenn etwa Trystan Pütter als liebeskranker Tollkopf Ordynoff dreck- und kotbeschmiert wie ein Krieger aus verlorener Schlacht dasteht und all sein Begehren der einzigen, der sterbensschönen, der abgründigen Katerina entgegen schreit. Ein Schrei ins Leere. In seinem nackten Arm hält er einen alten Röhrenfernseher, in dem der Kopf von Katerina, also von – wer, wenn nicht sie! – Kathrin Angerer, erscheint. Unendlich unerreichbar. Für ihn, für uns. Wir sehen das Bild im Bild auf einer riesigen Videoleinwand, rechterhand auf der Vorderbühne.

Wohn- und Wahngemeinschaft

So wie sich hier die Ebenen verschachteln, so ist es auch in Fjodor Dostojewskis früher Erzählung "Die Wirtin" von 1847: Der faustische Jungakademiker Ordynoff hat notgedrungen seine mehrjährige Klausur beendet und trifft in einer Kirche auf Katerina und ihren mysteriösen älteren Begleiter Murin. Schicksalhaft gelenkt zieht er bei ihnen zuhause ein, fällt sogleich ins Fieber und durchlebt hernach wie im Wahn eine verzehrende Dreiecksgeschichte. Was daran Traumgebilde ist, was bare Münze, lässt Dostojewski in schwarzromantischer Tradition gezielt offen. Katerinas Seelenlast, ihr Verrat an ihren Eltern, die Flucht mit dem finsteren Abenteurer Murin und ihre sklavische Liebe zu ihm – das alles wird wie in einem Nebel herangespült, vor die getrübten Sinne Ordynoffs.

wirtin1 560 thomasaurin hGlühendes Russland, eisiges Russland.  © Thomas Aurin 

Bühnenbildgenie Bert Neumann hat dieser wundersamen Wohn- und Wahngemeinschaft eine riesige Baracke gebaut, mit unzähligen Verschlägen, einer kleinen orthodoxen Kapelle, Betten und Plumpsklo. In der weiten weißen Bühnenlandschaft außen herum kann man Holz hacken oder Wasser aus dem Brunnen holen. Drinnen tobt der Aberwitz vor der Linse der Live-Videofilmer. Da schleicht Marc Hosemann als (überaus jugendlicher) Murin mit dem Blick eines Schakals durchs Bild. In erztrauriger Verlorenheit lässt sich Kathrin Angerer als Katerina zum Marienaltar geleiten. Trystan Pütter sinkt mit freiem Oberkörper, wie von Caravaggio gemalt, ein ums andere Mal aufs Krankenlager.

Heilige ohne Heilsversprechen

Es ist eigentlich ein Abend der gefrorenen Einstellungen, selbst wenn es unentwegt wuselig mit schnellen Schnitten hin und her geht. Anders als so viele Castorf-Abende, die in die Welt hinaus kreisen, kreist dieser in sich selbst. Beharrlich durchleuchtet er die Dreifaltigkeit des unglücklichen Bewusstseins: den Räuber ohne Vision (Murin), den Intellektuellen ohne Welt (Ordynoff) und die Heilige ohne Heilsversprechen (Katerina). Wenn sie zur Kirche laufen, dann eigentlich nur, um mit den Worten "Sünde", "Verdammnis" und "das Böse" wiederzukehren. "Das russische Volk lebt ganz in der Orthodoxie und in ihrer Idee", wird Dostojewski zitiert.

Im Programmheft liest man flankierend von Eduard Limonow: Die Punk-Aktivistinnen von Pussy Riot seien in der Erlöserkirche mit dieser Orthodoxie in Konflikt geraten und hätten dadurch die Gesellschaft gespalten und die politische Opposition geschwächt. Solchen aktuellen Erwägungen geht Frank Castorf in seiner Inszenierung nicht nach. Er stellt ganz auf Dostojewskis subjektphilosophische Schmerzpoesie, auf Herzeleid und Seelenheil ab. Der Flirt mit dem Christentum kommt gratis. Ein echtes Alterswerk.

diewirtin 560a thomasaurin hRussland Privat: Marc Hosemann, Kathrin Angerer und Trystan Pütter.  © Thomas Aurin

Entsprechend treten seine älteren Akteure als die großen, eindringlichen Künder an diesem Abend auf: Bärbel Bolle lässt als Mutter Katerinas mit ihrer angerauten Berliner Diktion wissen, dass unser Bewusstsein das Grab überdauert, wenn auch nur für einige Wochen. Harald Warmbrunn schleicht als Knecht mit lebensweisem Leisetritt über die Szene. Und Volker Spengler lauscht als todgeweihter Vater Katerinas mit einem Ohr dem "bösen Feind", mit dem anderen der Souffleuse. Es ist ein sphärischer, ruhiger Mittelteil im Hochtourenlauf dieser Volksbühnen-Premiere.

Dein Wein ist stark, meine Taube!

Denn wenn nicht gerade Hendrik Arnst als jovialer Freund Ordynoffs mit großem Backenbart und noch größerem Mutterwitz für etwas Durchlüftung sorgt, dann glüht das Thermometer. Dann peitscht sich das Dreigespann der jungen Granden Hosemann, Angerer und Pütter in steter Maximalerregung durch das Nervenzerreißspiel. Und sicher darf man Marc Hosemann nicht verpassen, wie er noch aus den abstrusesten Wendungen schreiend komisch einen katechistischen Funken schlägt: "Sie ist ja fast noch ein Kind. Sie haben's ja selbst gesehen. Wie weit ist es da noch bis zur – SÜNDE!"

Aber so recht will sich der ästhetische Rausch, den dieser Abend anscheinend bezweckt, nicht einstellen. Zu angeschafft bleibt denn doch die andauernde Emphase, zu vage die Lehre von den letzten Dingen. Castorf unterlegt praktisch den ganzen Abend erst mit orthodoxen Chorälen, dann mit Blues. Ein Soundtrack für Himmel und Hölle. Und wir irgendwo dazwischen, vielleicht auch nur daneben. Bei einem Besäufnis der drei heimatlosen Seelen sagt Hosemanns Murin einmal zu Katerina: "Dein Wein ist stark, meine Taube. Aber deine Lippen sind kaum benetzt." Fürwahr, auch Castorfs Wein war stark. Gemacht für Brummschädel. Aber irgendwie blieben unsere Münder trocken.

 

Die Wirtin
nach Fjodor M. Dostojewski
Regie: Frank Castorf, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Licht: Lothar Baumgarte, Kamera: Andreas Deinert, Mathias Klütz, Liveschnitt: Jens Crull, Musikalische Einrichtung: Klaus Dobbrick, William Minke, Dramaturgie: Sebastian Kaiser, Elena Sinanina.
Mit: Kathrin Angerer, Marc Hosemann, Trystan Pütter, Hendrik Arnst, Bärbel Bolle, Volker Spengler, Harald Warmbrunn, Esther Preußler.
Dauer: 2 Stunden 20 Minuten, keine Pause.

www.volksbuehne-berlin.de

 

 
Kritikenrundschau

"Statt Rationalität und Erzählökonomie regieren" in Castorfs neuer Inszenierung im "spektakulären Setting" von Bert Neumann "Fiebertraum und Mystizismus", schreibt Christine Wahl im Tagesspiegel (4.11.2012). Insbesondere die Bildlichkeit des Abends, die sich schlichten Verfügbarkeitsmustern" verweigere, wird hervorgehoben: "Die Grobkörnigkeit, in der das Geschehen über die Projektionsfläche flimmert, wirkt ein bisschen, als hätten sich Andrej Tarkowski, der russische Märchenfilm der siebziger Jahre und der naturgemäß schwer kitschgefährdete Historienschinken auf dem plausibelsten gemeinsamen Nenner getroffen. Stärker könnte das Bungalow-Innenleben mit dem äußeren Setting kaum kontrastieren." Dann folgt der inhaltliche Einwand: "Das, was sich in dieser bemerkenswerten Installation de facto abspielt, mäandert allerdings – durchaus vorlagentreu – auf gleichbleibendem Erregungsniveau hermetisch vor sich hin."

Eine Inszenierung mit "hohem Kalte-Wickel-Faktor" hat ein begeisterter Elmar Krekeler für die Berliner Morgenpost (4.11.2012) in der Volksbühne erlebt. "Schon Dostojewskis Erzählung ist Literatur mit fliegender Hitze." In ihr steckten "Liebe, Leiden, Traum, russische Seele, schwarze Romantik". Und "Castorf reißt es weiter auf. Er brodelt aus dem Untergrund hervor, was Dostojewski noch unter dem Deckel lassen musste. Mischt das Bessere aus seinem Regiemaniebaukasten hinzu. Greift der Erzählung in den Unterleib, kehrt das Unterste zuoberst."

Eine "Inszenierung, die vor allem von Routine bestimmt ist", hat Hartmut Krug für die Sendung "Kultur heute" auf Deutschlandfunk (4.11.2012) erlebt. Dostojewskis "wie ein Fiebertraum anmutende, wild assoziative, mystische und geheimnisvoll unklare Geschichte, die an E.T.A. Hoffmann orientiert sein könnte", werde in Castorfs "Veräußerlichungstheater" übersetzt: In Bert Neumanns Hütte werde "heftig gestritten, gelitten und geliebt, man bekämpft sich, man beschreit sich, fällt in Hysterie, wird krank oder fragt nach Liebe, und all das sehen wir in grobkörnig undeutlichen Videobildern". Entweder man gehöre zum "Volksbühnen-Fan-Publikum" und "kämpft sich durch Schwächephasen bis zur Schlussbegeisterung". Oder man könne "auch durchaus genervt und gelangweilt sein von dieser unfreiwillig nahe an eine Dostojewski-Persiflage geratende Inszenierung, die mit allen bekannten Castorfschen Macken und Marotten leer vor sich hin tobt."

Die "Reise ins Religiöse", wie Castorf sie in früheren Dostojewski-Arbeiten vollzogen habe, sei vorüber. Jetzt gehe es jetzt um "Frömmigkeit", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung (5.11.2012). Frömmigkeit sei eine "nach Innen gerichtete, eher defensive Suche nach einem Gottesanker". Entsprechend gehe es an diesem Abend "kaum um Politik oder die Selbstbefragung des eigenen Schaffens". Das Werk biete eine "Fiebertraumausgeburt" und "Offenbarungsschau", weshalb die Schauspieler eine "sonderbare Spielweise" an den Tag legten: "Immer ist es, als würden die Darsteller sich zu ihren Figuren verhalten wie die Mystiker zur Gotteserkenntnis – als Schauende." Castorf habe aus einem "Zustand heraus, in dem 'das Denken versagt' und das Dasein 'in Unordnung' gerät", inszeniert. "Die erzählerische Ordnung verdampft, die Szenen selbst scheinen immer wieder zu einzelnen Blitzlichtbildern festzufrieren. Das ist anstrengend anzuschauen, aber konsequent: Frömmigkeit und Ironie vertragen sich nicht."

"Theater der gezielten Bildstörungen", hat Peter Laudenbach für die Süddeutsche Zeitung (5.11.2012) beobachtet – eine "Zumutung, aber eine faszinierende". Die "großartige, vertrackte Installation des Bühnenbildners Bert Neumann" dekliniere "mit großer Sogwirkung die Wechselwirkungen zwischen Bild und Abgebildetem, Wirklichkeit und ihrer medialen Verdoppelung, Verzerrung, Verpixelung durch, als wollte sie Platons Höhlengleichnis in Regietheater übersetzen." Das passe zu Dostojewskis Erzählung, in der Figuren nicht wüssten, "ob sie gerade Fiebervisionen haben, ob sie träumen oder ob das, was sie zu erleben glauben, tatsächlich wahr ist." In der Dreiecksgeschichte gehe es "um Mystizismus (Ilja) versus Wissenschaft und Moderne (Ordynoff), um Verbrechen, sexuelle Räusche, Gottsuche und den übrigen Dostojewski-Wahnsinn". Eine "Entdeckung" sei der junge Trystan Pütter als Ordynoff.

In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (6.11.2012) schreibt Irene Bazinger, dass sich die Volksbühne "ihrer alten Tendenz zur Zweidimensionalität" treu bleibe, "sowohl was die Form der Aufführungen als auch die inhaltliche Umsetzung betrifft". "Routiniert bis zur Langeweile und lustlos mit ihren eigenen Stilmitteln jonglierend, teilt uns die Aufführung mit, dass eben alles mit allem zusammenhängt." Der "mechanische" Abend werde durch die verwendete Musik nicht interessanter, sondern bloß hochtrabender.

Auf den "einsamen Höhen jener Meistererzähler angekommen, die nur noch im eigenen Stil baden" – so sieht Peter Kümmel in der Zeit (8.11.2012) den Regisseur Frank Castorf (der eigentlich weniger Regisseur als vielmehr ein "Romanleser", der seine inneren Lektürebilder veräußere, sei). Castorfs Manierismus, der etwa den Schauspielern ein "Heißlaufen", ein lautes Tönen, eine "Wahrhaftigkeit" und "Verausgabung", "wie es sonst nur noch Amateurschauspieler tun", abverlange, treffe sich aber mit einem "Aufruhr, der in Dostojewskis Figuren tobt". Der Eindruck stellt sich ein, "es gehe dieser Inszenierung vor allem darum, Bilder von Liebenden herzustellen." Vermittels der Kameraarbeit erscheinen die Schauspieler wie "Höllenwesen, Pixelgespenster, Gestalten im Fieber". Im Werkganzen des Regiekünstlers gilt "Die Wirtin" Kümmel als "Nebenwerk – wenn auch ein leuchtendes".

Kommentare  
Die Wirtin, Berlin: Feststellung
Ein Wahnsinns Trio!!!
Die Wirtin, Berlin: Fast-Food
Lieber Herr Castorf,
Veränderung ist nicht nur innoativ, sondern manchmal auch unabdingbar.
Leider scheinen sie kein Fan dieses Begriffs zu sein. Eine ewige Aneinanderreihung von immer den Gleichen, nun schon zigfach gesehenen Ausdrucksmitteln, leihernde Dialoge, die Motive hinken, dröger Unfug, fehlgeschlagener Humor, alles in allem eine billige "Comedy" Show, bei der sich Dowstojewski sicher nicht nur einmal im Grab umgedreht hätte.
Früher gab es doch mal nahrhafte Theaterkost in ihrem Repertoire, heute muss sich das Publikum mit dahingeschmissenem billo fast-food begnügen- satt macht das nicht, vom Nährwert ganz zu schweigen. Schade!
Die Wirtin, Berlin: Allegorie auf das heutige Russland
" Solchen aktuellen Erwägungen geht Frank Castorf in seiner Inszenierung nicht nach." --- Was haben Sie gesehen, Herr Rakow? Ohne Programmhefte gelesen zu haben schien mir eines recht deutlich: Dass das Stück als eine Allegorie auf die aktuellen Verhältnisse in Russland zu verstehen ist. Die Wirtin, die sklavisch an ihrer Vergangenheit hängt und den Begriff der Freiheit zwar im Mund wendet, aber ihr letztlich nicht folgen kann - welch schöne Allegorie auf das demokratieabgewandte Land. Zumindest gegen Ende des Stücks wird das explizit und überdeutlich auf die Bühne gebracht. Gehen Sie nochmals hin?
Die Wirtin, Berlin: Allegoresen funktionieren immer
@3. Sehr geehrter Sarasvati, da ist was dran. Aber der Germanist Walter Haug schrieb einmal: "Allegoresen funktionieren, wie die christlich-mittelalterliche Hermeneutik es demonstriert hat, unfehlbar und immer." Castorf verlegt sich sonst ja eher nicht aufs bloß Allegorische, sondern hängt seine Deutungen immer ziemlich konkret in die Wirklichkeit ein. Dieses Mal blieb's für mich – insbesondere in dem eher verwirrenden Finale, das wohl den Bogen zur gegenwärtigen Situation in Russland explizit schlagen wollte – bei losen Anspielungen, die sich nicht zur echten Interpretation formten. Da tritt dann, aufs Ganze des Abends gesehen, die Bewusstseinsstudie der drei Protagonisten in den Vordergrund. Und zwar vergleichsweise kontextfrei, weniger in ihrer zeitgenössischen Symptomatik. Aber so, wie Sie's schreiben, ist es sicher angedacht gewesen.
Die Wirtin, Berlin: der Balken im eigenen Auge
Es dreht sich bei Castorf immer auch um einen, wenn auch manchmal nur behaupteten, Zusammenhang zwischen dem Gesagten (Text) und dem Gezeigten (Bild, Symbol, Metapher oder wie man das auch immer nennen will). Castorf versucht in seinen Inszenierungen einen (neuen) Bezug von Bild und Sprache erst einmal herzustellen, nicht etwas schon von vornherein beides direkt in einen bestimmten Kontext zu stellen. Den ursprünglichen Text konfrontiert er dabei mit manchmal auch völlig fremden Zitaten, die nicht immer einen aktuellen Bezug zum Gezeigten darstellen, aber mit deren Hilfe sich Parallelen herstellen lassen. Das ist so, als würde man erst nach einem „Tertium comparationis“ suchen, dem verschütteten Zusammenhang der Dinge als Stufe zum Verständnis, wenn man so will. Auch wenn es manchmal schwer fällt einen Sinn oder die Idee dahinter zu erkennen. Das ist wie mit der großen weißen Wand, die in der Inszenierung auf die Bühne geschoben wird. Manchmal findet man da eine Tür drin, manchmal guckt man eben nur auf eine weiße Wand. Hier steht die Wand natürlich als Projektionsfläche für unsere Sicht auf Russland. Castorfs Theater ist immer auch Experiment, nicht alles kommt an oder erschließt sich einem sofort beim ersten Sehen. Die erste Stunde gestern in der Volksbühne ist in dieser Hinsicht tatsächlich etwas Neues. Man glaubt lange alles zu verstehen und direkt auf das heutige Russland übertragen zu können, sieht aber vor lauter Latten den Balken im eigenen Auge nicht. Die Frage ist natürlich auch, wie sieht sich der Westen heute, ist da nicht auch eine große Wirrnis? Herrscht da nicht auch eine große Ungewissheit bei den Menschen und seitens der Politik eine noch größere Propheterie in die Zukunft? Nur das uns eben der Halt an eine bestimmte Tradition abhanden gekommen ist. Was ja in religiösen oder national gesinnten Kreisen auch immer beklagt wird. Also etwas woran man sich halten kann, und was in Russland eben die Orthodoxie ist, und eben nicht Pussy Riot, wie der russische Schriftsteller, Erz-Dissident und Nationalist Eduard Limonow im Programmheft zitiert wird. Das hatte auch irgendwann Dostojewski so erkannt. Das ist die eine Ebene, und hinter dem Lattenzaun beginnt die andere, die Beziehung der Protagonisten zueinander. Liebe, Verlangen, Gier als Triebkräfte, auch immer wiederkehrende Themen bei Castorf, gemischt mit einer gewissen Fixierung auf Totalitarismen und religiöse Mystik. Ein einziger Fiebertraum, den das „Wahnsinnstrio“ Angerer, Hosemann und Pütter hier mit vollem Körpereinsatz bis zur Ekstase treibt. Ein Erfolg wird es trotzdem nicht werden. Es fehlen die slapstickartigen Elemente, die Castorf immer einfügt, wenn die Handlung stockt. Hier ist alles sehr ernst und eher unfreiwillig komisch. Das Publikum flüchtet entweder ganz oder ins hämische Lachen. Grundsätzlich ist das ein sehr düsterer Befund für Castorf im Allgemeinen und im Speziellen auch für das Volksbühnenpublikum.
Die Wirtin, Berlin: geschlossene Welt
Fast scheint es, als hätte Castorf mit dem Übergang von Dostojewskis Romanen zu dessen erzählungen gleich seine gewohnte Ästhetik über Bord geworfen. anstelle des komplex-zerfasernden, assoziationsfreudigen und fremdtextlastigen Theatermonster, dass er sonst so gern auf die Bühne wuchtet, ist Die Wirtin schon fast asketisch konzetriert, weist nichts nach außen, kreiert er eine geschlossene, beinahe hermetische Welt. Castorf lässt die "großen" Themen weg und wirft sich auf seelenzustände, auf Traumata, Ängste und seelische Dämonen, wobei er freilich nicht psychologisiert. Doch ganz kan er sich nicht vom Altbekannten trennen und so ist das obsessiv-zappelige Dauergebrüll mit zunehmender Dauer immer schwerer zu ertragen, kleistert es die durchaus spannende Versuchsanordnung zu und schafft eine Distanz, die dem abend nicht gut tut. das grandiose Schauspielertrio Angerer, Hosemann, Pütter bleibt in Erinnerung, Bert Neumanns fiebrige Bühnenwelt sowieso und ein Theaterexperiment, dass dann doch nicht ganz aufgeht.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2012/11/06/wie-im-fieber/
Wirtin, Berlin: Intelligenzüberdruss?
"Frank Castorf ist ein ehrenwerter, alter Mann." Na, und? Und was soll das heissen? Versucht hier einer, seine verlorene Ehre wiederherzustellen? Vergleicht Castorf sich gar mit Murin? Nee nee nee, das kann ja gar nicht sein. Jedenfalls nehme ich Castorf die naive Frömmigkeit des heiligen Narren aus dem russischen Volk nicht ab. Castorf schwimmt ja längst mit auf der Welle der Intelligenz bzw. des Luxus-Überdrusses (siehe auch der Verweis auf Bayreuth, die halbherzige Ton-Steine-Scherben-Gesangseinlage von Marc Hosemann oder der aus Langeweile entstandene revolutionäre Rettungsversuch des "Kastaniengrills(?)" durch Kathrin Angerer.

Das beeindruckende Setting (Bert Neumann) und die Lichgestaltung (Lothar Baumgarte) lassen Assoziationen zu Tarkowski-Filmen aufkommen, welche nur vermeintlich für den unmittelbaren Glauben stehen. Denn, so lässt sich mit Slavoj Zizek fragen: "Was, wenn Stalker (die ultimative Figur jenes unmittelbaren Glaubens) gar nicht unmittelbar glaubt, sondern vielmehr manipuliert, den Glauben nur vortäuscht, um die Intellektuellen zu faszinieren, die er in die Zone bringt, indem er in ihnen die Aussicht auf Glauben weckt? Was, wenn er gar kein unmittelbar Glaubender ist, sondern nur die Rolle des Subjekts, dem Glauben unterstellt wird, für den Blick der dekadenten intellektuellen Beobachter einnimmt?"

Vielleicht zeigt sich hier folglich eher eine Art religiöser Nihilismus, was zur grotesk-komischen Mimik und Gestik "des Trios" (Trystan Pütter, Marc Hosemann, Kathrin Angerer) passen würde. Authentisch spielen die jedenfalls nicht. Und konsequent in dieser Linie würde auch die Übertragung vieler Szenen auf die Videoleinwand liegen. Das Kino erfüllt die Projektion der eigenen Wünsche und Sehnsüchte bzw. Illusionen/Visionen auf die Leinwand, wohingegen das Theater diese Abgeschlossengeit durchbricht, und zwar vor allem durch den lebendigen Schauspielerkörper, welcher sich auch gern mal selbst beim Gefilmt-Werden zuschaut (Augenbewegungen gehen mit der Kamera mit bzw. fixieren diese).

Die Musik (Klaus Dobbrick/Willaim Minke) scheint wie von Angelo Badalamenti geklaut (vor allem aus dessen Filmmusik zu David Lynchs "Lost Highway"). Und irgendwann nerven die permanent laut tobenden Schauspielerstimmen auch mal. Etwas mehr stimmliche Variation hätte der Inszenierung gut getan.

Insgesamt hinterlässt die Inszenierung eher wenig im Bewusstsein. In meiner Erinnerung war das bei den früheren, von Castorf behandelten Dostojewskij-Stoffen anders. Vieles, u.a. die Scheisshausszenen, hat sich bereits totgelaufen. Ja ja, der Tod. Die Philosophie des Todes, von welcher die Mutter von Katerina (Bärbel Bolle) spricht. Was bleibt? Nur wenig Trost angesichts der Tatsache, dass unsere/des Menschen Lebenszeit nur einen minimalen Bruchteil des gesamten, unendlichen Universums ausmacht.
Kommentar schreiben