Nachahmung ist im Theater kein Frevel

von Jens Roselt

Hildesheim, 7. November 2012. Fünf Thesen zur Reform der darstellenden Künste:

These 1:
Die gegenwärtige Strukturdebatte konzentriert sich auf die zwei hierzulande vorherrschenden Theatersysteme, welche im Wesentlichen durch öffentliche Gelder finanziert werden: "das" Stadttheater und "das" Freie Theater. Für beide Systeme besteht ein hoher Legitimationsdruck, der gegenwärtig durch die Konsolidierung öffentlicher Haushalte forciert wird. Während die interne Rechtfertigungsrhetorik vieler Theatermacherinnen und Theatermacher despektierlich auf Abgrenzung setzt, stellt sich die Situation von außen anders da. In einer gesellschaftlichen Debatte, in der über die Subvention von Strompreisen für Sozialschwache diskutiert wird, ist auch die Subvention von Theatersesseln für Sozialstarke keine Selbstverständlichkeit mehr, egal ob diese im roten Plüsch eines Stadttheaters oder auf den harten Bänken einer Performancegarage Platz nehmen. Aus dieser Perspektive sitzen Stadttheater und Freie Theater durchaus im selben Boot – wenn auch auf unterschiedlichen Decks.

These 2:
Diese unfreiwillige Gemeinsamkeit gilt nicht nur für das Geld, sondern auch für die Ästhetik. Die simple Gegenüberstellung des Freien Theaters als tendenziell fortschrittlich, innovativ, experimentell, semi-professionell und arm gegenüber dem Stadttheater als tendenziell konservativ, reformunfähig, professionell und reich ist nicht zutreffend. Aufschlussreicher ist vielmehr die Beobachtung, dass beide Systeme in Bewegung geraten, wobei Begegnungen, Zusammenstöße und Kollaborationen von Freiem Theater und Stadttheater möglich werden. Für die zukünftige Entwicklung des Theaters ist nicht entscheidend, was Stadttheater und Freie Theater voneinander trennt, sondern was sie voneinander lernen, abgucken und kopieren. Nachahmung ist im Theater kein Frevel.

These 3:
Die Idee des deutschen Stadttheaters ist ein Mythos, also eine Erzählung, die nachträglich entstanden ist, und – wie bei jedem Mythos – ihre Wirkmacht unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt entfaltet. Historisch gesehen ist das Stadttheater eine widersprüchliche Institution, die von Beginn unter prekären finanziellen Bedingungen stets an den eigenen Ansprüchen und am Publikum zu scheitern drohte. Das Stadttheater ist nie eine reibungslos funktionierende Kultureinrichtung mit Bildungsauftrag gewesen, sondern eine problematische Institution, die auf, vor und hinter der Bühne Krisen und Konflikte provoziert, moderiert oder kaschiert. Es ist zu vermuten, dass die Erzählung vom Mythos des Stadttheaters nach dem 2. Weltkrieg einsetzt, als die Idee des Stadttheaters zu einem wichtigen Referenzpunkt bei der Restrukturierung bzw. Restaurierung des Theaterbetriebs in den wiederaufgebauten großen Häusern wurde.

These 4:
Beide Theatersysteme sind gegenwärtig in Bewegung, wobei Berührungen möglich werden, die von Seiten der Geldgeber durchaus gefördert werden, wie das Programm "Doppelpass" der Bundeskulturstiftung zeigt. Stadt- und Staatstheater veranstalten Festivals und üben sich damit in einem Format, das eigentlich das maßgebliche Forum des Freien Theaters ist. Umgekehrt streben etablierte freie Gruppen nach eigenen Spielstätten und bauen Strukturen auf, die jenseits des einzelnen Projekts längerfristige Perspektiven möglich machen. Dass sich eine Gruppe Hildesheimer Theaterstudierender aus der freien Szene 2012 selbstbewusst als Intendantenkollektiv um die Leitung des Züricher Theaters am Neumarkt beworben hat, bringt diese Tendenz auf den Punkt. Das Antichambrieren von Freiem Theater und Stadttheater bleibt in Hinblick auf die Finanzierung allerdings heikel. Der Verdacht ist nicht von der Hand zu weisen, dass manches Stadttheater mit den Kollaborationen den eigenen Innovationsauftrag vernachlässigt und dabei auch noch die seichten Fördertöpfe des Freien Theaters abschöpft. Mit diesem Insourcing von Innovation bei gleichzeitigem Outsourcing von Risiken verfehlen die Stadttheater letztendlich ihr eigenes Selbstverständnis.

These 5:
Die Zukunft beider Systeme wird durch eine fortschreitende (De-)Professionalisierung der Theatermacherinnen und Theatermacher gekennzeichnet sein. Im Zuge der aktuellen Medienentwicklung und der Globalisierung entstehen gegenwärtig neue Produktionsweisen und Rezeptionsformen, die sich wechselseitig beeinflussen, tradierte künstlerische Disziplinen entgrenzen und die konventionelle Unterscheidung von professionellen Künstlern und ambitionierten Laien unterwandern. Indizien hierfür sind das Auftauchen nicht-professioneller Darsteller im professionellen Theaterbetrieb ("Expertentheater") sowie die Arbeit von Performerinnen und Performern ohne klassische Schauspielausbildung. Der Begriff (De-)Professionalisierung weist auf eine doppelte Bewegung hin: Zum einen werden historisch entstandene Bedingungen für Professionalität in den Künsten ausgehebelt und zum anderen entstehen gleichzeitig neue Formen und Praktiken der Professionalisierung von Theaterberufen. Jene plakative Unterscheidung von Theater und Performancekunst, wonach Schauspieler besser sprechen können als Performer, Performer im Gegensatz zu Schauspielern dafür wissen, was sie sagen, sollte zukünftig ihre Wirkung verfehlen.

JensRoseltJens Roselt ist Dramatiker und Theaterwissenschaftler. Seit 2008 lehrt er als Professor für Theorie und Praxis des Theaters an der Stiftung Universität Hildesheim. Zuvor war Roselt Geschäftsführer des Sonderforschungsbereichs "Kulturen des Performativen" an der Freien Universität Berlin. Seit 1995 arbeitete er in dramaturgischer Tätigkeit an verschiedenen Theatern Deutschlands, u.a. an der Volksbühne Berlin, am Schauspielhaus Hamburg und am Staatstheater Mainz. Von 2000 bis in das Jahr 2001 war er Hausautor am Staatstheater Stuttgart.

 

Mehr zur Vorlesungsreihe: www.uni-hildesheim.de

Alle Hildesheimer Thesen sind im Lexikon zu finden

Siehe auch: die Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de

 

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Kommentare  
Hildesheimer Thesen III: Konkretisierungswunsch
Sehr verehrter Herr Roselt,

These 3 finde ich hochinteressant, und ich wünschte mir nähere Ausführungen dazu:

"Das Stadttheater ist nie eine reibungslos funktionierende Kultureinrichtung mit Bildungsauftrag gewesen, sondern eine problematische Institution, die auf, vor und hinter der Bühne Krisen und Konflikte provoziert, moderiert oder kaschiert."

Was bedeutet das genau? Hatte das Theater Ihrer Ansicht nach gar keinen Auftrag? Und welche Krisen und Konflikte sind gemeint, Krisen innerhalb oder außerhalb des Theaters? Sollten es Krisen außerhalb des Theaters sein, so findet sich doch dort der Auftrag: Eine Krise wie sie i.e. in den Achtgigern um Fassbinders "Müll, Stadt, Tod" entstand, trägt vielleicht nicht zur klassischen Bildung bei, aber doch zur Selbstbefragung einer Gesellschaft.
Hildesheimer Thesen III: Fassbinder
@ Lore aus Singapore: Es geht Ihnen sicher um die Frage, ob Fassbinder ein Antisemit war, oder? Das heisst um die Frage, ob es ihm mit der Figur des "reichen Juden" in "Der Müll, die Stadt und der Tod" um die Skrupellosigkeit eines Grundstücksspekulanten ging oder um "das Judentum im Allgemeinen", wie es ihm häufig vorgeworfen wurde/wird. Fassbinders "reicher Jude" treibt sich in Bordellen herum, unterhält sadomasochistische Beziehungen zu der lungenkranken Hure Roma B., die er auf ihren Wunsch schließlich erwürgt, und lässt es triumphierend zu, dass der Polizeipräsident ihn als tabuisierten Juden deckt und der Öffentlichkeit einen unschuldigen Zuhälter als Mörder präsentiert. Hier geht es also um komplexe Widersprüche bezüglich der Situation in Deutschland nach 1945, was in meiner Wahrnehmung tatsächlich eine differenziertere Diskussion erfordern würde. Und was sagt Fassbinder selbst dazu? Im folgenden ersten Teil des Interviews ab 13:05 und auch im nächstfolgenden Teil 2:

http://www.youtube.com/watch?v=afUWtkC7FGk&feature=related
Hildesheimer Thesen III: Medienpartner?
Zahlt die Uni-Hildesheim dem Internetportal nachtkritik Mietgebühren? Auf der uni-webpage steht was von Medienpartner, deshalb die grundsätzliche Frage. Vielen Dank, D.J.

(Werter Detlev J.,

nachtkritik.de erhält keine Mietgebühren oder sonstigen Vergütungen aus Hildesheim. Bestenfalls profitieren wir von spannenden, diskussionswürdigen Thesen und Hildesheim von etwas Aufmerksamkeit. Das ist, was man im Allgemeinen unter Medienpartnerschaft versteht.

MfG,
Georg Kasch / Die Redaktion)
Hildesheimer Thesen III: Auftrag?
Der Mythos Stadttheater: Sollten in der heutigen Zeit nicht sowohl Freie Theater als auch Stadt- und Staatstheater ihre Grundsätze generell überdenken? These 4 beinhaltet hier den Prozess der Überschneidung beider Bereiche - aber ist nicht gerade das anzustreben? Muss nicht das Theater für alle Ausformungen, die wir unter Theater verstehen, offen sein? Und sollten nicht neue und provokante Denkweisen wie die Karl Immermanns die Theater heute wieder aus ihrer Starrsinnigkeit holen, um heute neue Modelle zu schaffen, die die Grenzen zwischen den Ansätzen weiter einreißen und das Stadttheater auch heute die zeitgenössischen Kunstansätze vertritt bzw. vertreten kann?
Meines Erachtens nach sind die Stadt- und Staatstheater heute oft viel zu einheitlich, sie orientieren sich an den Kassenschlagern und wenig an Neuheiten. Sicherlich sind sie dazu aufgrund ihres Vertrages mit der Stadt oder dem Staat verpflichtet, aber sollte nicht eine Kunsteinrichtung auch den grundlegenden Vorsätzen von Kunst weitestgehend folgen? Wo liegt genau der Auftrag des heutigen Theaters und wo lag er damals?
Hildesheimer Thesen III: Fragen von Kunstfreiheit
@Inga
Ich wollte nicht sagen, dass Fassbinder ein Antisemit war. Eine Aufführung wie "Müll, Stadt, Tod" hat - unabhängig von der Qualität des Stücks oder der Inszenierung - eine gesellschaftliche Selbstreflexion in Gang gesetzt. Es ging um Fragen von Kunstfreiheit, stereotyper Darstellung, wirkmächtigen Klischees von vor 1945 etc. Das Theater selbst hat eine gesellschaftliche Krise ausgelöst, indem es an Grundsätzliches rührte. Meine Frage an Prof. Roselt war u.a., ob er solche Krisen meinte.

Übrigens finde ich das, was Fassbinder in dem von Ihnen verlinkten Video sagt, nichtssagend.
Hildesheimer Thesen III: Auftrag
"Der Auftrag. Erinnerung an eine Revolution" (1979) von Heiner Müller (Autor und Regie). Kann und muss man solche Stücke heute wieder spielen und/oder in Performances einbinden?

Die surrealistische Fahrstuhlszene in diesem Stück ist doch möglicherweise bezeichnend für die heutige Situation der Theater. Da fährt man erstmal hoch zum Chef (Kulturpolitiker, Intendanten, Medien), um seinen Auftrag abzuholen, landet plötzlich in Peru und erkennt:

"Irgendwann wird DER ANDERE mir entgegenkommen, der Antipode, der Doppelgänger mit meinem Gesicht aus Schnee. Einer von uns wird überleben" - er wird ums Überleben kämpfen müssen. Oder auch:

"Die Heimat der Sklaven ist der Aufstand." Und zwar aller "Sklaven", egal welcher Hautfarbe und/oder welchen Geschlechts.

Der Auftrag des heutigen Theaters ist es, ein Bewusstsein für u.a. genau solche Fragen und Themen offenzuhalten.
Hildesheimer Thesen III: theatrale Grundversorgung?
Die in Punkt 4 angesprochene Auflockerung der Strukturen und der stärkeren Zusammenarbeit zwischen freier Szene und institutionalisiertem Theater lässt fast den Anschein aufkommen, hier bestünde ein Dialog auf gleicher Augenhöhe. Die von Herrn Roselt selbst eingebrachten "seichten Fördertöpfe" lassen mich doch immer wieder bemerken, wie einseitig ebendieser Bildungsauftrag vergeben wird - oder anders gesagt - wie einseitig gewichtend für bildungsfördernd befunden wird. Ist denn (um es ganz plakativ an zwei Stichworten fest zu machen) die Klassikerpflege wichtiger als innovatives Neuerfinden? Was würde denn passieren, wenn man diesen rein fiktionalen Theatergesamttopf genau in der Hälfte teilte und dem freien so viel zukäme wie dem instutionalisierten Theater?
In der oben aufgeführten Zusammenfassung fehlt mir ein Gedanke, der heute im Vortrag, meiner Meinung nach, ganz gut rausgekommen ist: Fällt denn in einem so gut durchinfrarstrukturiertem Deutschland wie heute eine solche Theaterdichte überhaupt noch unter die theatrale Grundversorgung?
Hildesheimer Thesen III: Theaterpolitik?
Wieso sind das seit Beginn den immer exakt fünf Thesen?
Wenn das so weiter geht, verstärkt sich mein Eindruck, dass hier Theaterpolitik aufgeführt wird.
Hildesheimer Thesen III: Szenario der Angleichung
"Was würde denn passieren, wenn man diesen rein fiktionalen Theatergesamttopf genau in der Hälfte teilte und dem freien so viel zukäme wie dem instutionalisierten Theater?" ssp
Das Stadt- und Staatstheater könnte sich mit einem geringeren Budget nicht länger unter Wasser halten. Um weiter bestehen zu können, müssen Sie auch anfangen innovatives, neues Theater zu spielen um ihrerseits an weitere Fördermittel zu kommen. Sie müssten versuchen mehr Publikum anzusprechen und ihre "Klassikerpflege" überdenken. Das Freie Theater hätte mit den höheren Mitteln die Chance, nicht nur innovatives Theater zu spielen und sich nicht nur hauptsächlich mit Projekten über Wasser zu halten. Sie könnten auch unterhaltsames und gegenwärtiges Theater spielen. Die beiden Theatersysteme würden sich dadurch aneinander angleichen und es gäbe nur noch ein System. Stellt sich hier nur die Frage, ob die ehemaligen Stadttheater ihre Plüschsessel behalten und man in der ehemaligen freien Szene weiterhin auf Holzstühlen platznimmt.
Hildesheimer Thesen III: Klischee des Innovativen
"Die simple Gegenüberstellung des Freien Theaters als tendenziell fortschrittlich, innovativ, experimentell, semi-professionell und arm gegenüber dem Stadttheater als tendenziell konservativ, reformunfähig, professionell und reich ist nicht zutreffend."

In der gestrigen Vorlesung ging es ebenfalls um verschiedene Konzeptionsförderungen des Land Niedersachsens für freie Theater. Dabei kam auch zu Wort, dass der Erfolg eines Antrages maßgeblich davon abhängt, wie "innovativ" ein Projekt oder Theaterstück ist, das sich für Fördermittel bewirbt. Jetzt frage ich mich, ob durch diese Vergabetechnik das freie Theater nicht weiter hineingedrückt wird ins Klischee des "innovativen, experimentellen" Theaters? Und wird nicht auch die eigentliche, in den Thesen beschriebene Entwicklung weg von den oben genannten Eigenschaften, dadurch gebremst? Und was ist schon "innovativ"?
Hildesheimer Thesen III: Fonds Doppelpass
Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Roselt, ich möchte mich in meinem Kommentar auf Ihre vierte These beziehen. Ich stimme Ihnen in den genannten Punkten zu. Ich möchte die Förderung der Kollaboration der beiden unterschiedlichen Theatersysteme in den Mittelpunkt stellen. Ein Risiko einzugehen, ist in diesem Fall aufgrund der schlechten finanziellen Lage zwar gewagt, sollte aber eine deutliche Verbesserung herbeiführen. Innovation versus Tradition sollte ein Miteinander der beiden Disziplinen werden. Der Fonds „Doppelpass“ hat daran meiner Meinung nach gut angeknüpft, was bereits Thema des Festivals „transeuropa2012" in Hildesheim war. Wie in Ihrer zweiten These angesprochen, sind beide Systeme stark in Bewegung. Sollte man diese Bewegung nicht als potenziell wertvoll erachten, um das Stadttheater und das freie Theater sich einander näher zu bringen, um so möglichen Konfrontationen und Überschneidungen entgegenzuwirken?
Hildesheimer Thesen III: Abschaffung der Hierarchie
Die Debatte um Kulturförderung wird immer intensiver. Das betrifft nicht nur das Theater, auch renommierte Rundfunkorchester wie etwa das des SWR werden zusammengekürzt und ohne Beachtung auf künstlerische Aspekte, mit anderen Orchester zusammengelegt. Ziel ist immer: Kosten Sparen.
Die Frage, die bisher weitesgehend unbeantwortet blieb: Droht uns der "Kulturinfarkt" oder braucht unbedingt jede Stadt ein eigenes Theater?
Professor Roselt hat dabei schon Anstöße gegeben, die vor allem die Strukturen und die Vernetzung von Stadttheatern betreffen. Sein plakatives Beispiel vom Provinzialismus der städtischen Theater zeigt, dass die bürokratischen Strukturen innerhalb des Theaters längst überholt sind.
Hier wird ganz klar Kritik an den Intendanten geübt, die auch schon von Birgit Mandel explizit vorgebracht wurde. Es bedarf daher einer Änderung der Hierachie, bzw. einer Abschaffung der klassischen Theaterhierarchie.
Die Intendanz darf nicht länger der Alleinherrscher sein. Sonst werden Theater weder ihrem Bildungsauftrag, noch ihrer wirtschaftlichen Rentabilität gerecht.
Hildesheimer Thesen III: Deprofessionalisierung?
Um ehrlich zu sein konnte ich die 5. These bereits in der Vorlesung nicht recht einordnen.
An der Beobachtung an sich ist ja nichts auszusetzen. Für mich baut sich da aber die Erwartungshaltung auf, das ganze im Kontext einer Argumentation zu betrachten.
Was schließen wir also aus der (De)Professionalisierung. Ja, da ist eine Bewegung. Und nun? Da beginnt es doch eigentlich erst spannend zu werden.
Ich erwarte keine vorgegebene Meinung die ich dann bequem übernehmen kann! Jedoch ist dies die Beobachtung, deren Form und Auswirkungen ich gerne näher betrachtet hätte, anstelle der Entstehungsgeschichte der Stadttheaters.
Hildesheimer Thesen III: über-grundversorgt
Ich kann mich meiner Vor-Schreiberin nur anschließen: Wir stellen fest, es gibt eine (De) Professionalisierung. Aber dann fragt sich der kleine Mann: Was nun? Wir wollen einen Austausch zwischen beiden Systemen? Eine Kooperation bedeutet Annäherung aber auch Angleichung und somit ein Verlust an Vielfalt.

Das Stadttheater kann es sich nicht leisten innovativ zu sein. Dafür ist es zu sehr von Zuschauerzahlen abhängig. Wohingegen die Freie Szene scheinbar die Lizenz zum Scheitern per se inne hat.
Wir können es uns nicht mehr leisten: die Stadttheater mit 500 Plätzen und jede Woche fünf verschiedene Aufführungen. Allein deswegen muss an Stadttheatern gekürzt werden.
Wir sind theatral über-grundversorgt. Die Institution des Stadttheaters ist veraltet und nicht mehr länger halt- und hinnehmbar.
„Ich glaube, dass Zukunft nur dann möglich sein wird, wenn wir lernen, auf Dinge, die machbar wären, zu verzichten, weil wir sie nicht brauchen.“ sagte Günther Grass

Innovation kann man nicht erzwingen.
Hildesheimer Thesen III: willkommenes Argument
@ Amelie Vogel: "Die Institution des Stadttheaters ist veraltet und nicht mehr länger halt- und hinnehmbar." Diesen Satz würde ich persönlich niemals so pauschal da hinschreiben, denn er wird für alle Haushaltspolitiker in Bund, Ländern und Kommunen nur ein weiteres, willkommenes Argument mehr sein, die Gelder für die Kultur immer nur weiter herunterzufahren. Bitte nochmal überdenken, diesen Satz. Ich jedenfalls möchte nicht in Banken, sondern in einer kulturell lebendigen Stadt leben.
Hildesheimer Thesen III: nicht pejorativ
Bei der starken Veränderung der Theaterszene finde ich es durchaus nachvollziehbar und sinnvoll, dass sich die beiden System (die auf den ersten Blick ganz unterschiedliche Strukturen und Zielsetzungen haben) annähern, um voneinander zu profitieren.
Das dieser Prozeß eine (De-)Professionalisierung nach sich zieht ist nur eine logische Konsequenz aus dieser Zusammenführung, ich würde das aber nicht pejorativ verstehen, sondern eher als eine Verschiebung der Vorraussetzungen, um Theater auch in einem "professionellen" Rahmen machen zu können und das ist in meinen Augen prinzipiell etwas sehr positives.
Hildesheimer Thesen III: an einem Strang
Das Stadttheater und das freie Theater sitzen in einem Boot. Was soll diese permanente und strikte Unterteilung. Beide sind unterschiedliche Kunstformen, beide funktionieren und arbeiten unterschiedlich. Aber ihr Auftrag ist der gleiche: Kunst und Kultur schaffen und vor allem erhalten. Daran sollten sie gemeinsam arbeiten, an einem Strang ziehen, sich gegenseitig helfen, Kooperationen starten und nicht gegeneinander arbeiten.
Hildesheimer Thesen III: Abgrenzung hinderlich
Da würde ich voll und ganz zustimmen...manchmal habe ich das gefühl, das Denken und Miteinander denken soweit voneinender entfernt ist. Ich glaube, dass gerade dann viel erreicht werden kann, wenn sich zusammengeschlossen werden würde, um kulturpolitisch etwas zu erreichen. Trotzdem hat doch jeder/bzw. jedes Theater die Möglichkeit sein eigenes Ding zu machen. Nur ich glaube, die extreme Trennung und Abgrenzung voneinander hindert uns Möglichkeiten und Ressourcen zu nutzen und unterstützt und fügt sich dem Denken hinzu Separation und Leistungs- und Konkurrentdenken.
Hildesheimer Thesen III: gutes Mittelmaß
Ich stimme heidi zu, dass eine extreme Trennung und Abgrenzung der Stadttheater und der Freien Theater uns teilweise hindert Ressourcen zu nutzen und Möglichkeiten verschenkt werden würden. Wie Herr Roselt in seinem für mich sehr interessanten Vortrag erzählte, ist ja aber auch schon ein Wandel erkennbar („Beide Theatersysteme sind gegenwärtig in Bewegung, wobei Berührungen möglich werden…“)Dies ist ja auch schon an der Organisation zahlreicher Festivals seitens der Stadt-und Staatstheater zu sehen.
Natürlich möchte ich nicht sagen, dass es damit getan ist. Natürlich müssen noch mehr Projekte, neue Programme und Formate ausprobiert und umgesetzt werden. Eine komplette Umstrukturierung des Betriebs an Stadt- und Staatstheater ist denke ich jedoch schwierig und nicht so leicht umsetzbar.Oft wir der Anschein erweckt, dass klassische Stücke und klassische Inszenierungen völlig vom Spielplan verdrängt werden sollen. Sicherlich würde man mit modernen Inszenierungen, Festivals und Performances ein neues, junges Publikum ansprechen. Aber würde man mit einem kompletten Wandel nicht gleichzeitig eine andere Zielgruppe, zum Beispiel etwas ältere Generationen, verdrängen? Man müsste versuchen ein gutes Mittelmaß zu finden, doch das ist natürlich immer leichter gesagt als getan.
Hildesheimer Thesen III: offene Fragen
Bezogen auf die 5. These frage ich mich inwiefern sich die „plakative Unterscheidung“ von Theater und Performance aufheben wird. Könnte sich das „wechselseitig beeinflussen“ nicht auch in einen Machtkampf zwischen professionellen Künstlern (wie z.b. klassisch ausgebildeteten SchauspielerInnen) und ambitionierten Laien entwickeln? Ist es gut, dass die Professionalität in den Künsten ausgehebelt wird? Wird Performance als neue Schauspielpraxis an Schauspielschulen gelehrt werden? Werden Schauspielschulen dann überhaupt noch im klassischen Sinne existieren?
Werden bald staatlich ausgebildete SchauspielerInnen und nicht-professionell ausgebildete PerformancekünstlerInnen/TheatermacherInnen sowohl an Staatstheatern wir auch in der freien Szene gleich gefragt sein?
Hildesheimer Thesen III: Innovation, ein Wort für Förderanträge
Wie bereits vielfach erwähnt wurde, existiert die Trennung durch die Konnotation des Freien mit dem Innovativen und des Institutionalisierten mit dem Konservierten nur in den Köpfen. Die Ausschlachtung des Begriffs der Innovation ist Trend, u.a. auch Kriterium für die Vergabe von Fördergeldern und Gift für beide Theaterformen. Ich kann mich nur dem 10. Kommentar von "mariechen" anschließen. Was ist denn "innovativ"?
Fraglich bleibt, ob die beiden Parteien es schaffen ihren Idealismus zu überwinden und sich aufeinander zu zubewegen. Es müssen kulturpolitische Voraussetzungen dafür geschaffen werden, dass es sich das Stadttheater leisten kann, nicht über Finanzen sondern über Formen des Arbeitens mit Ort und Menschen nachzudenken und dass das „freie“ Theater keine Selbstausbeutung mehr betreiben muss und als hübsch idealisiertes, ehrenamtliches Engagement verkommt. Manchmal scheint es, als herrsche im Allgemeinen, unabhängig vom Gesagten, die Auffassung darüber, die einzig wahre Lösung bestünde in der Auflösung des in Rufmord geratenen Stadttheaters, in der Anpassung, Annäherung an das „freie“ Theater, in der Bekehrung eines Publikums, in der Zielgruppenneufindung etc. nicht aber ebenso eine Sinneswandlung innerhalb des „freien“ Theaters. Ein Fehler. Die Annäherung vollzieht sich nicht einfach so. Es bedarf zunächst beidseitig einer System- und Strukturangleichung. In den Köpfen und in der Politik. An die Konsequenz Verlust von Vielfalt glaube ich nicht, eher an die Schaffung einer neuen Form von Professionalisierung. Denn die braucht das Theater.

@Johann Holbop „Die Intendanz darf nicht länger der Alleinherrscher sein. Sonst werden Theater weder ihrem Bildungsauftrag, noch ihrer wirtschaftlichen Rentabilität gerecht.“
Ich verstehe diese Aussage noch nicht ganz. Die Intendanz ist momentan Alleinherrscher des Theaters? Tatsächlich? Und was genau ist er nun, der „Bildungsauftrag“ eines Theaters?

Den Fragen meines Vorredners kann ich mich nur anschließen.
Hildesheimer Thesen III: Doppelpass
Als ein Beispiel für die von Herrn Roselt mehrmals betonten Begegnungen zwischen Stadttheatern und Freien Theatern, und für die Bewegung, in der sich die beiden Systeme befinden, möchte ich noch einmal verstärkt auf das Förderprogramm DOPPELPASS der Bundeskulturstiftung eingehen. Als ein Förderprogramm, das Kooperationen von Stadttheatern und Kollektiven der Freien Szene fördert, scheint mir dies ein Schritt in die richtige Richtung, wenn auch ein (noch) vorsichtiger kleiner Schritt, auf dem man sich nicht ausruhen darf. So betrifft es nur einen Teil ausgewählter Projekte, die für einen begrenzten Zeitraum davon profitieren. Der Vorteil ist, dass sich die Theatermacher so anstrengen müssen, um Förderung zu erhalten, innovativ sein müssen, wenn alle zwei Jahre erneuert wird und das Ganze dadurch eine lebhafte Dynamik erhält. Problematisch ist jedoch, dass eine gewünschte Nachhaltigkeit und ein Publikum, das sich für einen längeren Zeitraum bindet, so nicht gewonnen werden kann. Auch fehlt es weiterhin an Formen der Absicherung für die freien Künstler.
Als Grundlage für die Zukunft der Theaterstrukturen in Deutschland muss weiterhin gegen das Ansehensproblem der Freien Szene gekämpft werden. Künstler freier Theaterkollektive sind nicht grundsätzlich unprofessioneller, nur weil sie vielleicht keine klassische Schauspiel- oder Regieausbildung abgeschlossen haben. Vielmehr sind sie durch andere Ausbildungen und Erfahrungen qualifiziert, und ihre Arbeiten sind häufig facettenreicher und bodenständiger. Eine De-Professionalisierung schafft niedrigere Zugangsschwellen für Produzenten und Rezipienten und bewegt sich von einer elitären Kunst hin zu ästhetischen Erfahrungen für ein breiteres Spektrum an Publikum und Teilnehmenden.
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