Unbescheiden ohne Worte

von Matthias Schmidt

Leipzig, 15. November 2012. Sebastian Hartmanns "Mein Faust" ist ein Abend ohne Worte. Um es noch mal deutlich zu sagen, das ist ja nicht ganz üblich im Schauspiel: Es ist ein Abend, an dem kein einziges Wort gesprochen wird. Das ist und macht sprachlos, in jeder Hinsicht. Goethe als Altlast, Respekt!

Dass Sebastian Hartmann seine letzte große Inszenierung unter eigener Intendanz nicht bescheiden angehen würde, war zu vermuten. Einerseits, weil "Krieg und Frieden" zuletzt einfach umwerfend war, bildgewaltig und von einem für Hartmann gänzlich ungewohnten Hang zum Erzählerischen. Andererseits, weil "Mein Faust" wie eine Abschiedsanmaßung klingt, aber gut. Die Idee ist so simpel wie großartig: weg mit dem Gefasel vom Erkenntnissucher und sich im ewig Weiblichen Verfangenden, weg mit dem Pathos, weg mit der Last sprechen zu müssen, was fast jeder als Schüler gesprochen hat. Oma konnte es sogar noch auswendig. Recht so, weg damit, es ist eh alles gesagt, und vieles davon zu oft.

Feuerwerk in der Glasbox

Was aber bleibt vom "Faust" ohne Gretchenfrage und Osterspaziergang, ohne "Habe nun, ach" und "Da steh' ich nun"? Was ohne Studierzimmer und Blocksberg? Kulissen gibt es ja auch keine. Das pure Schau-Spiel, Bilder, Geräusche, Musik. Stimmungen statt Interpretationen – schauen wir mal. Vor dem Centraltheater jedenfalls, zweieinhalb Stunden später, wechseln all die nicht gesagten Worte so zahlreich die Besitzer, dass man das Projekt als gelungen bezeichnen könnte. Allein, mir fehlt der Glaube.

Am Anfang war ein Feuerwerk, gezähmt in einer Glasbox, wirklich sehr hübsch. Dann ward es Licht, und wer gute Augen hat, konnte erkennen, dass auf der Hinterbühne ein nackter Mann an einem Klavier saß. Im Programmheft, das dieses Mal ein Plakat ist und natürlich, wie wir es vom Leipziger Schauspiel nicht anders kennen, ohne Sätze auskommt, steht, dass der Mann auch "Nackt" heißt. Ganz ehrlich, mir schwante da nichts Gutes.

meinfaust 560 rarnold centraltheater uSpiel mit der Goethe-Maske © R. Arnold / Centraltheater

Los geht's: Damen mit irre hochgesteckten Perücken und Herren in ebenfalls historischen Kostümen machen Geräusche: sie atmen, keuchen, stöhnen und schreien. Noch weiß ja keiner, dass das so bleiben wird, man lässt es also erstaunt geschehen. Der am lautesten und längsten (gefühlt eine Viertelstunde) Schreiende wird sicher Faust sein, Mephisto wirds kaum nötig haben. Der Nackte brüllt gelegentlich mit, und sein Klavier macht jetzt sehr laute technoide Geräusche. Dann wird kopuliert, erst paarungsüblich, später in der Gruppe. Ähm, Walpurgisnacht?

Klassiker-Activity

Die stärkeren Szenen folgen später, weshalb es bis hier ein bisschen wie bei diesen Gesellschaftsspielen läuft, Scharade und Activity: Man sitzt da und versucht anhand des Gespielten herauszubekommen, was gemeint ist. Hier: Wer gerade in welcher Szene ist. Feuerwerk? – Prolog Im Himmel! Des Pudels Kern war echt zu leicht. Klassiker-Activity. Wer es weiß, lächelt wissend. Und wer nicht, lacht einfach mit. Spielverderber sind uncool, gerade im Theater. 

meinfaust4 280 rarnold centraltheater u Manuel Harder und Cordelia Wege
© R. Arnold / Centraltheater

Schöne Idee, am Ende aber zu wenig, um als Regiekonzept durchzugehen. Selbst wenn man die Bewertungsreserven einbezieht, diesen Bonus, den die Jünger diesem wirklich bewundernswert kompromisslosen Regisseur einräumen – man könnte auch sagen, die Differenz zwischen seinem Scheitern als Intendant und dem grandiosen Gelingen seiner besten Inszenierungen – muss man diesen Abend letztlich als ziemlich verzweifelt wirkenden Jungenstreich verstehen. Goethes Sprache zu eliminieren ist die eine Sache, ein Stück zu erzählen die andere. Über weite Strecken wirkt der Abend angestrengt bis bockig, eine Mischung aus Improvisationstheater und Provokativ-Performance mit Klamaukanteil, eine Dechiffrierübung für Insider und Hipster. So ist das ja auch oft auf diesen Partys, auf denen Activity gespielt wird. Man macht es mal mit, aber bisschen quatschen wäre schon auch ganz schön gewesen.

Stückwerk

Wieder einmal beschädigt Hartmann seine Idee durch die "Leipziger Handschrift" genannte Arbeitsweise. Statt durchzuchoreografieren, das wäre ja möglich, stückelt er und lässt er stückeln. Jeder steuert etwas bei, und niemand fügt es richtig zusammen. Das ist so ärgerlich, weil viele einzelne Bilder und Szenen einfach wunderbar sind – originell, komisch, böse, traurig, tiefsinnig. Leicht und ironisch wird ein riesiger Pappmaché-Goethe begraben. Anschließend versucht jemand, in seinen (hohlen!) Kopf zu kriechen. Jepp! Teletubbie-lustig karikieren Riesenpuppen mit Schaumgummihämmern die Faust-Klischees. Yes!

Masturbatorische Fehlversuche führen das Scheitern der Utopien vor. Von wegen, verweile doch! Mehr davon! Doch kaum glaubt man wieder, etwas Großartigem beizuwohnen, folgt irgendein Rotzen oder Kotzen oder Trampeln oder Strampeln und man hofft, dass gleich Hape Kerkeling erscheint und das aufopferungs- und sogar lustvoll spielende Ensemble mit einem letzten "Hurz" erlöst.

Am Ende treten drei offenbar Behinderte in Engelskostümen auf und singen Lautmalereien, die den zuvor ausführlich gehörten fatal ähneln. Was ist das jetzt - sind wir alle verrückt geworden? Ist, wonach wir streben, Wahnsinn? Lieber nicht darüber nachdenken, ob das nur plump oder schon geschmacklos ist! Nix wie weg, ab in die Küche, da sind auf jeder Party die besten Gespräche.

Mein Faust
Regie und Bühne: Sebastian Hartmann, Musik: Nackt, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Licht: Franz David, Video: Kai Schadeberg, Dramaturgie: Michael Billenkamp, Uwe Bautz.
Mit: Manolo Bertling, Artemis Chalkidou, Manuel Harder, Matthias Hummitzsch, Janine Kreß, Benjamin Lillie, Peter René Lüdicke, Heike Makatsch, Sina Martens, Ingolf-Müller-Beck, Nackt, Cordelia Wege, Susan Haubner, Nicole Merkel, Egon Voigtsberger. 
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.centraltheater-leipzig.de


Kritikenrundschau

Von "der letzten großen - und vielleicht radikalsten - Premiere der Ära Hartmann in Leipzig" spricht Stefan Petraschewsky auf MDR Figaro (16.11.2012). "Es ist ein 'Faust' wie ein verspätetes Gastspiel der 'euro-scene': ohne Text, mit viel Musik, Klängen und Geräuschen." Es sei in Sprache und Kostüm ganz klar eine Übertreibung in beide Richtungen: Zivilisation und Wildnis. Die Pole des Lebens. "Das ungebändigte Tier, das sich in Schale wirft – diesen Raum spannt Hartmann hier auf – und in diesem Extrem – 
passt es dann aber auch auf alles und wird beliebig – und das ist das Problem." Ist das noch Theater? Oder ist das nur noch peinlich, plump - eine Geschmacklosigkeit? 
Ist hier eine Grenze überschritten? Oder ist die Provokation noch ok?
 Das seien die Fragen, die das Publikum sich stellen müsste angesichts dieses "Selbsterfahrungs-Trip, der in den Proben vielleicht echt empfunden – zur Premiere dann aber definitiv inszeniert ist."

Das Konzept mache neugierig, schreibt Dimo Riess in der Leipziger Volkszeitung (17.11.2012). Hartmann identifiziere "Goethes Verse als unnötigen Ballast auf der Expedition zum Kern seines Großthemas: Der Mensch in seinen existenziellen Empfindungen zwischen Liebe und Hass, Angst, Verzweiflung, Hoffnung, Strebsamkeit. Eine Reduktion, die dem Ensemble alles abverlangt – und es letztlich auf der Bühne allein lässt." Beliebigkeit nämlich füge "die Momentaufnahmen aneinander, eine Verfugung zum großen Ganzen fehlt. Und: Die Bilder werden wiedergekäut. Die Ideen erschöpfen sich." Das Konzept der Wortlosigkeit bleibe "trotz Stöhnen und Schreien und Fantasiesprache schlaff wie eine Fahne bei Flaute."

In der Freien Presse (20.11.2012) aus Chemnitz schreibt Ralph Gambihler: Hartmann versuche, "den modernen Menschen zu Ende zu denken". Wir sähen "die Pathologie von Menschen, die allen Halt verloren haben, die in Angst und Gier gefangen sind", die nur noch "schreien, hecheln, hyperventilieren, würgen, dann gierig und unbefriedigt kopulieren oder masturbieren". Das tue zwar weh, wirke aber bald fad. Auch der "Haupteinfall der Regie", auf Text zu verzichten und "den Stoff rückwärts zu spielen", erweise sich nicht "durchweg als tragfähig", die "assoziative Annäherung an den Stoff" werde oft bloß eine "performative Abschweifung" mit "viel Gehampel und Geschrei". Mit seiner "Umstülperei und Essenz-Versessenheit" gehe der Abend ein "zu hohes Wagnis" ein, wenn sich das Scheitern auch "auf sehr hohem Niveau" vollziehe.

"Ganz armselig kann dieser Abend sein, auch mal langweilig", wenn Hartmann "sein an sich ausgefuchster Sinn für das Timing und die aushaltbare Länge von Szenen" verlasse, findet Michael Laages im Deutschlandradio Kultur (16.11.2012) "Aber grandios ist 'Mein Faust' eben auch: in der Groteske, im Ursprünglichen, in Ratlosigkeit und Verzweiflung. Mit diesem Abenteuer wird Hartmanns kurze Leipziger Zeit in Erinnerung bleiben – als Experiment, das gescheitert ist." Allerdings sei Hartmanns Fan-Gemeinde bis zum Schluss gewachsen – "und sehr viel Besseres ist halt auch noch lange nicht in Sicht".

Mit diesem Abend ist Sebastian Hartmann aus Sicht von Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung (17.11.2012) "noch einmal voll auf Konfrontation gegangen". 'Häh?', mache Peter René Lüdicke, "als er in Gottes Auge (eine Kamera im Schnürboden) blickt und mal wieder nichts kapiert. 'Häh?', macht er später noch einmal und sieht zu den Zuschauern, die mal wieder nichts kapieren. Und dann lachen die Spieler die Leipziger aus." "Mein Faust" sei "eine großkunstbunte Nummernrevue der Leidens- und Entäußerungsverrichtungen," so Seidler, und zwar "dargeboten von elf schönen, starken, heftigen Spielmenschen." Nur mithilfe des Titels, der Ankündigung und eines mit Dreck beworfenen Geheimratspappkopfes sei "der Zweieinhalb-Stunden-Rummel mit Kasper- und Feuerwerkseinlage als eine Goethe-Adaption erkennbar".

Von fortschreitender Entgrenzung will Hartmann erzählen, von Sigmund Freud und und C.C. Jung und deren Analyse der faustischen Weltdurchdringungswut, schreibt Wolfgang Höbel im Spiegel (19.11.2012). Hartmann sei nicht der Typ, der auf halbem Weg kehrtmacht, selbst wenn er merkt, dass er sich in einer Sackgasse verrannt hat. "Lieber beschleunigt er und spurtet mit dem Kopf durch die Wand." Ganz am Anfang sehe man zwei Minuten lang ein Feuerwerk im Glaskasten. "Möglicherweise ist das ein Sinnbild für das, was Hartmann in Leipzig gelungen ist. Man sieht die Arbeit eines großen Pyromanen, der sich leider im viel zu engen Schaukasten austoben durfte. Und man sieht, was seine Arbeit am meisten bedroht: der Qualm des Vergessens."

"Wiener Aktionismus im Helge-Schneider-Format" hat Till Briegleb erlebt, wie er in der Süddeutschen Zeitung zu Protokoll gibt (27.11.2012). Das Vermächtnis "eines selbsternannten Bürgerschrecks" sei "eine letzte Variation über das Gebrüll, wie er und seine Regiekollegen es derart weidlich ausinszeniert haben, dass die Bach-stolzen Leipziger sie nur für Stümper halten konnten". Der "exzessive Hang zu Albernheiten, Übertreibung und Entblößung" habe aber nicht nur "den Makel dürftiger intellektueller Reize und Provokationen zu Discountpreisen", sondern auch Stärken: "Man könnte es eine Musikalität des Ekels nennen, die sich in der Komposition der Szenen ergibt, die jede für sich kaum mehr als Rüpeleien gegen den guten Geschmack sind." Jenseits von "Goethe und guten Gründen" verdichte sich Hartmanns Inszenierungsstil "zu einer Art Trieb-Operette".

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