Freiheit ist auch keine Lösung

von Steffen Becker

Ulm, 16. November 2012. Mei, wie muss das früher schön gewesen sein. Mann erobert Frau, bittet beim Vater um ihre Hand und dafür darf ihm die seinige fortan ausrutschen, wenn ihm danach ist. Klare Verhältnisse! Die Protagonisten des Stücks "Die Elchjagd" des jungen polnischen Erfolgsautors Michael Walczak scheinen sich auf der Bühne des Theaters Ulm nach einer solchen Ordnung unbewusst zurückzusehnen. Zumindest sind sie mit der neuen Wahlfreiheit überfordert. Eliza möchte heiraten, "weil ich nicht warten will, bis du reif genug bist." Konrad, der angesprochene Verlobte, kriegt beim Gedanken ans formelle Beknien ihrer Eltern – General und Opernsängerin – die Krise und versucht eine als Verzweiflungs-Sex getarnte Rückkehr in den Mutterschoß. Aber auch die toughe Braut bekommt kalte Füße und lädt ihren alten Machotherapeuten ein, der sie als junges Mädchen verführte.

elchjagd 560 hermannposch uWenn der Ex als Elch ruft: Volkram Zschiesche, Aglaja Stadelmann © Hermann Posch

Aus diesem Grundgerüst entwickelt Walczak eine Boulevard-Komödie, eine bitter-süße Romanze und eine Farce auf den brutalen Wandel der Gesellschaft jenseits des ehemaligen Eisernen Vorhangs: Der Ex taucht auf, es kommt zum Kampf, er stirbt (vorerst), muss vor dem Besuch der Eltern versteckt werden und gibt während des Antragszeremoniells diverse Lebenszeichen von sich. Regisseurin Fanny Brunner kombiniert die salvenartig abgeschossenen Szenen mit originell umgesetzten Zeitlupensequenzen, die für einige Lacher sorgen. Aber auch die amüsanten Tempowechsel täuschen nicht darüber hinweg, dass man derartiges schon öfter in Stücken à la Ray Cooney gesehen hat. Volkram Zachiesche als Ex und Macho bleibt gestriegeltes Klischee (wenn auch gut gemacht), Christel Mayr als Vater und General verharrt in einer recht eindimensionalen Hitler-Parodie.

Parodie auf Geschlechterverhältnisse

Zum Genuss wird "Die Elchjagd" im Zusammenspiel der Verlobten Eliza und Konrad. Insbesondere Aglaja Stadelmann ist eine echte Wucht – als Hausfrau ("wisch lieber das Hirn weg oder soll das eintrocknen"), als Analytikerin ("ich hatte einfach genug davon, vor dir zu verbergen, was für ein schlechter Mensch ich bin") und als Einpeitscherin ("was bist du für ein Mann, der einen anderen Mann nicht umbringen kann"). Blitzschnell wechselt sie die Typologien und bedient die Klaviatur der verschiedenen Ton- und Ausdruckslagen ebenso gut wie ihre Figur die Waffen einer Frau. Florian Stern als Konrad startet etwas fahrig als entscheidungsfauler Waschlappen. Der verbissen um Männlichkeit ringende Verlobte, der für seinen Rivalen einen endgültigen Tod im Elchkostüm inszeniert, liegt ihm deutlich besser.

elchjagd 280a hermannposch uTapetenidylle: Aglaja Stadelmann, Gunther Nickles © Hermann PoschIn der Gesamtschau bieten sie damit mehr als Parodie auf Geschlechterverhältnisse und -Missverständnisse. "Die Elchjagd" legt die absurde Lebenssituation von Menschen schonungslos offen, die in einem System aufgewachsen und in einem völlig anderen erwachsen sind. Stadelmann und Stern bringen Lust und Last der ständigen Rollenwechsel – die Sehnsucht nach der Sicherheit einer Struktur, ohne damit die real existierende früherer Zeiten gutzuheißen – überzeugend auf die Bühne. Etwas seltsam wirkt in diesem Zusammenhang Mona Hapkes Bühnenbild mit verschlissenen Sesseln vor Tapete mit 70er-Jahre-Muster. Es passt nicht zur Geschichte eines vom wohlhabenden Vater alimentierten Paares heute noch zur Intention des Autors, Ambivalenz zu zeigen, sondern wirkt wie Ostblock-Comedy.

Besetzung über Kreuz

Und ist doch verzeihlich im Vergleich zur Überraschung des Abends. Gunther Nickles als überdrehte Mutter macht über die ganze Strecke eine gute Figur – Travestie kommt der überspannten Charakterzeichnung der Figur entgegen. Auch die Besetzung über Kreuz vermittelt clever eine Botschaft – die bestimmende Figur in der modernen Beziehung ist die Frau, die dienende Figur in der "klassischen" Beziehung wird von einem Mann gespielt.  Recht unvermittelt erzählt diese Mutter in einer aus dem Stück fast herausgelösten Nebengeschichte von ihrer ersten großen Liebe, die ihr Mann aus Eifersucht hat beseitigen lassen. Ein bitter-süßer, berührender Monolog – der sich trotzdem ins Tempo der Komödie einpasst. Ein gewagter Dreh des Autors und eine Meisterleistung der Inszenierung.

 

Die Elchjagd (DEA)
von Michal Walczak
Übersetzung von Doreen Daume
Inszenierung: Fanny Brunner, Ausstattung: Mona Hapke, Dramaturgie: Daniel Grünauer.
Mit: Christel Mayr, Aglaja Stadelmann, Gunther Nickles, Florian Stern, Volkram Zschiesche
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause

www.theater.ulm.de

 

Mehr zum Autor? Michael Walczak, Jahrgang 1979, gilt als einer der wichtigsten polnischen Dramatiker seiner Generation. 2010 wurde sein Stück Die Reise ins Innere des Zimmers am Bayerischen Staatsschauspiel aufgeführt und 2009 bereits beim Osnabrücker Spieltriebe-Festivale vorgestellt. Mehr Informationen zu Walczak und der Theaterszene in Polen auf der nachtkritik-spieltriebe-Seite.

Kritikenrundschau

"In dieser zweieinhalbstündigen 'Elchjagd' macht man ganz schön was durch - und unterhält sich gut", schreibt Jürgen Kanold in der Südwest Presse (19.11.2012). "Denn Fanny Brunner inszeniert das alles im Bühnenbild Mona Hapkes mit scheußlichen Sesseln, 70er-Jahre-Tapete und zentralem Klo sehr unverkrampft, ohne Furcht vor trashiger Klamotte auf dem Boulevard, aber doch genau." Die Geschichte sei eine Farce und ziehe den Zuschauer außerdem in den Strudel polnischer Geschichte hinein, ein Geschlechtertausch der Rollen entlarve Verhaltensmuster, und überhaupt: "Das Ensemble agiert klasse."

Dagmar Hub fragt auf der Online-Seite der Augsburger Allgemeinen Zeitung (19.11.2012), ob "Die Elchjagd" deshalb als Komödie angelegt sei, weil "der Zuschauer den Stoff als Drama" nicht aushielte? "Einfach" sei es nicht zu lachen, angesichts der "menschenverachtenden Handlung" und trotz jeder Menge Slapstick, tollen schauspielerischen Leistungen vor allem von Gunther Nickles und Christel Mayr. "Zerrbilder von Männern, Zerrbilder von Frauen" bevölkerten "Die Elchjagd", schreibt Hub, die Karikatur überziehe "gewollt und rabenschwarz jede vordergründige Romantik".

 

 

Kommentare  
Elchjagd, Ulm: Frage
Jetzt auch eine Kritik in "Theater der Zeit", hab sie bisher allerdings nur sehr schnell überfliegen können - beziehe das Blatt auch selber nicht... nehmt ihr die der Vollständigkeit halber auch noch in eure Rundschau auf?

(Liebe Alina, in unsere Rundschau nehmen wir "nur" die Tagespresse und das Radio auf – alles andere würde unsere Kapazitäten sprengen. Mit freundlichen Grüßen, die Redaktion)
Elchjagd, Ulm: interessantes Gegacker
Tut mir leid, das was das bescheuertste Stück, was ich un den letzten Jahren gesehen habe. Die sexuellen Anspielungen und Dialoge sind schon für unsere westlichen Verhältnisse etwas angestaubt.
Freud und Konsorten scheinen auch schon in Polen angekommen zu sein. Desweiteren fehlt es an Esprit. Von wegen Spannung im Handlungsrahmen. Der Zuschauer weiß schon kurz nach der Pause wie ds Stück enden wird. Eigentlich war die Zeit zu schade zweienhalb Stunden sich den Hintern blank zu wetzen. Vielleicht war das interessanteste das Gegackere junger pubertierender weiblicher Teenager, die zum ersten Mal den Spannungsraum zwischen männlicher und weiblicher Erotik hineintauchten. Zum Politischen: Was für eine Botschaft ds ein ehemaliger Kriegsgeneral, sich keinen Wschlappen wünscht. Ein Gag der so alt ist wie das Theater selbst.
Dabei hätte der Plot sogar noch Potenzial, wenn die Pointen besser herausgearbeitet worden wären und die Dialoge mit mehr Esprit blegt wären.
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