Monsterstück und Mysterienspiel

von Martin Pesl

Wien, 17. November 2012. Auf Wiens Straßen sind weiße Pantoffel aufgesprüht, die Zeitungen und Online-Kulturportale sind voll mit Inseraten, sogar die Infoscreens in der U-Bahn künden davon, was das Schauspielhaus in der ersten Hälfte seiner Spielzeit 2012/13 nahezu ausschließlich spielt: Für "Der Seidene Schuh oder Das Schlimmste trifft nicht immer zu" wurde sichtlich das Maximum an Marketing aufgefahren, das für diese mittelgroße Bühne möglich war.

Das wird auch nötig gewesen sein, denn – so viel kann schon vor der Sichtung des gesamten Programms an einem Marathonabend gesagt werden – Leiter Andreas Beck ist, nach dem kolportiert erfolgreichsten Jahr seiner Intendanz, ein Wagnis eingegangen. Vor fünf Jahren hat er das Konzept der Serie eingeführt. Damals wurden jede Woche von einem neuen Regisseur je 100 Seiten von Doderers 1000-seitigem Roman Die Strudlhofstiege in einem kleinen Nebenraum für 30 Zuschauer erarbeitet. Die Serie geriet zum Kult, war stets ausverkauft und wurde seitdem jede Spielzeit mit variierenden inhaltlichen Schwerpunkten wiederholt.

SeidenerSchuh2 560 AlexiPelekanos uPathos des 16. Jahrhunderts: Katja Jung, Max Mayer, Barbara Horvath, Gideon Maozt im 2. Teil
© Alexi Pelekanos

Barocker Plot mit Seifenoperncharakter

Dieses Jahr gibt es nur vier Folgen, dafür im großen Haus und nicht parallel zum normalen Programm des Schauspielhauses, sondern an dessen Statt. Ein Luxus: Das ausufernde Drama des Franzosen Paul Claudel (1868 bis 1955), der in seiner Jugend eine christliche Eingebung hatte, spielt auch an vier verschiedenen Tagen, wurde in seiner barocken Ausführlichkeit auch noch nie in aller Ruhe aufgeführt. Der Text bedient sich ursprünglich bei Sprache und Pathos des 16. Jahrhunderts – den vier Bearbeitern wurde überlassen, damit nach Wunsch umzugehen.

Dem Plot wohnt immerhin ein gewisser Seifenoperncharakter inne. Kürzestversion: Inmitten einer Vielzahl an anderen Figuren lieben einander Don Rodrigo und Doña Proëza, bleiben aber enthaltsam, aus jeweils unterschiedlichen christlichen Motiven: sie, weil sie verheiratet ist, er, um für Spanien (und Gott) die Welt zu erobern. Mitte Oktober begann der Premierenreigen, mittlerweile steht das ganze Produkt und wird erstmals komplett an einem Tag gezeigt, Beginn 16 Uhr.

schuh 280h alexipelekanos u"... warum sollte ich nicht weiter vordringen zu jenen anderern Grenzen Spaniens?"
Johanna Rehm (Doña Proëza) und Gabriel von Berlepsch (Don Rodrigo) © Alexi Pelekanos
Der Schuh über unseren Köpfen

17:35 Uhr: Ein wallender orangeroter Vorhang fiel soeben zu, den I. Tag zu beschließen. Wie so oft bei der ersten Folge einer neuen Serie fallen Unschlüssigkeit und Neugier auf Weiteres zusammen. Wir haben in "Die Glückspilger" die Hauptfiguren kennengelernt und erlebt, wie Proëza ihren Schuh der Heiligen Jungfrau opfert, um in einen Seitensprung bestenfalls hineinhinken zu können. Der Schuh hängt fortan weit über den Köpfen aller.

Thomas Arzt hat seiner Bearbeitung Reflexionen des Katholischen in Form von Gebeten eines "fallenden Engels" (Katja Jung bzw. ein Chor) hinzugefügt, der etwa das "Vater unser" wortgewitzt paraphrasiert ("in dreifacher Faltung aus dem Grab gestiegen") und Gott fragt, was die ganze Scheiße eigentlich soll. Ohne die befremdliche Wortgewalt dieser Fremdtexte gewönne die Telenovela Oberhand, mit der Regisseur Gernot Grünewald und das Ensemble auch verspielt kokettieren. Mitreißend ernst die Filmmusik, die rohe Bühnenhinterwand gülden.

Sonst ist die Bühne leer bis auf einen Globus, eine Live-Videokamera und possierliche Kostümteile (etwa Halskrausen), die von der Decke hängend das Spanien des Goldenen Zeitalters erzählen und mal zum Spaß übergestreift werden. Ein flottes Ensemble bringt die Zeilen entspannt, aber präzise, den Szenenanweisungen wird fast mehr spielerischer Genuss gewidmet als dem Dialog. Ist ja auch schön, wie Claudel zu Beginn seines Stückes beschreibt, wie er es gerne hätte: "Alles muss etwas provisorisch und in Bewegung sein, nachlässig und improvisiert, aus lauter Begeisterung! Anderes wiederum soll dann und wann und wenn möglich klappen; auch in der Unordnung muss man das Monotone vermeiden."

19:20 Uhr: Mélanie Huber hat das Monotone nicht vermieden in Ihrer Inszenierung des von Jörg Albrecht nahezu unmerklich überschriebenen II. Tages, "Wo du nicht bist". Die historischen Kostüme werden jetzt richtig getragen, auf die richtige Stimmung wird großer Wert gelegt, indem das Ensemble das Zirpen der Grillen oder das Wanken eines Bootes nachahmt. Dieses Team hatte es freilich auch nicht leicht: Die Handlung bietet keine bahnbrechenden Wendepunkte, der in rhythmischer Prosa verfasste Dialog plätschert gemächlich vor sich hin wie das Wasser in den Eimern, die die Weltmeere markieren. Der Schuh hängt unangetastet an der Decke, in der einstündigen Hauptpause gibt es Tapas.

SeidenerSchuh3 560 AlexiPelekanos uTeil III: Die Eroberung der Einsamkeit © Alexi Pelekanos

Das Transzententale und sein Widerspruch

21:50 Uhr: Direktor Beck höchstpersönlich stellt sich hinter die Bar und schenkt Soda Zitron aus. Ein müdes Marathonpublikum will bei Laune gehalten werden. Gerade haben wir Tag III erlebt, "Die Eroberung der Einsamkeit", völlig umgetextet von Anja Hilling, sprachlich in die Gegenwart, inszenatorisch von Christine Eder in eine hysterische Zeitlosigkeit versetzt, in der das Meer von den darin angesammelten Plastikflaschen und einer aufblasbaren Gummiinsel dargestellt wird, Südamerika von zwanghaft gut gelaunten Mariachis.

Hilling erklärt im Programmheft zwar, das Thema Katholizismus sei ihr egal gewesen, doch gerade sie schafft es am elegantesten, ein zentrales Stückthema, das Transzendentale und seinen Widerspruch zum greifbar Körperlichen, in pointierten Worten zu verhandeln. Teil drei treibt außerdem Rodrigo und Proëza (die im Laufe des Abends immer stärker an Profil gewinnende Johanna Elisabeth Rehm) zehn Jahre später endlich zu einer Begegnung. Der seidene Schuh knallt mit Karacho auf den Boden.

schuh1 280h alexipelekanos u Steffen Höld und Max Meyer im letzten Teil
© Alexi Pelekanos
Acht Stunden Religionskampf

0:10 Uhr: Das war jetzt zu viel. Leider. Vielleicht hätte man diesem IV. Tag ("Das Boot der Millionen", Bearbeitung: Tine Rahel Völcker, Regie: Pedro Martins Beja) in frischerem Zustand mehr Wohlwollen entgegengebracht, aber nach acht Stunden Religionskampf nervte dieser Epilog oder, um im Serienjargon zu bleiben: diese erste Folge einer schwächeren zweiten Staffel. Proëza ist nämlich gestorben, ihre Tochter Siebenschwert zieht jetzt dafür in die Schlacht gegen die Islam, seinerseits vertreten durch von der Bearbeiterin hinzugefügte Figuren wie einen ägyptischen Fischer oder die Schakalköpfige. In Szene gesetzt wurde der Tag als Mysterienspiel mit viel Nebel, Drehbühne, Licht, Ton und Videobild.

Mit diesem geistlich überfrachteten Monsterstück konnte das Schauspielhaus bei seinem Experiment, die Serie von der Nebenschiene zum Hauptprogramm zu erheben, gar nicht auf ganzer Linie gewinnen. Die Auslastung beträgt längst nicht mehr hundert Prozent, die Aufmerksamkeit auch nicht. Als Spielwiese für Autoren und Regisseure sowie für intelligente Schauspieler ist der "Schuh" freilich trotzdem ergiebig. Davon ganz abgesehen wissen Serienjunkies: Sich eine ganze Staffel auf einmal ansehen, das ist nicht unbedingt gesund.

 

Der Seidene Schuh oder Das Schlimmste trifft nicht immer zu
von Paul Claudel
Deutsch von Herbert Meier, Mitarbeit: Yvonne Meier-Haas
Bühne: Daniela Kranz, Kostüme: Marie-Luise Lichtenthal
Mit: Gabriel von Berlepsch, Veronika Glatzner, Barbara Horvath, Steffen Höld, Katja Jung, Gideon Maoz, Max Meyer, Johanna Elisabeth Rehm, Thomas Reisinger, Thiemo Strutzenberger, Dolores Winkler

I. Tag: Die Glückspilger
Bearbeitung: Thomas Arzt, Regie: Gernot Grünewald, Dramaturgie: Brigitte Auer.
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten

II. Tag: Wo du nicht bist
Bearbeitung: Jörg Albrecht, Regie: Mélanie Huber, Dramaturgie: Constanze Kargl, Komposition: Pascal Destraz, Liedtexte: Stephan Teuwissen.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten

III. Tag: Die Eroberung der Einsamkeit
Bearbeitung: Anja Hilling, Regie: Christine Eder, Dramaturgie: Brigitte Auer.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten

IV. Tag: Das Boot der Millionen
Bearbeitung: Tine Rahel Völcker, Regie: Pedro Martins Beja, Dramaturgie: Constanze Kargl, Video: Jan Zischka.
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten

www.schauspielhaus.at

 

Kritikenrundschau

Ein "Ungetüm" werde im Schauspielhaus "intelligent ins Gegenwärtige übertragen", schreibt Norbert Mayer über alle vier Teile, allerdings noch vor dem Marathon, in der Presse (16.11.2012). "Die Leistung des Teams ist dabei bewundernswert." Der erste Akt, vom Autor Thomas Arzt bearbeitet und von Gernot Grünewald inszeniert, sei "verspielt und doch meist nah am ursprünglichen Text." Das gesamte Ensemble wisse hier genau, "wie es spielerisch eine Welt erzeugt." Nach "dem fulminanten Start, der musikalisch, drängend und so postdramatisch ist", folge "ein zweiter Akt, der im Vergleich langweilt. Jörg Albrecht hat ihn bearbeitet, Mélanie Huber inszeniert." Weiter vom Text hätten sich "im dritten Teil die Autorin Anja Hilling und Regisseurin Christine Eder entfernt. Ihre Sprache ist häufig profan, aber weil hier eine echte Dichterin am Werk ist, die die Größe Claudels respektiert, ergeben sich reizvolle Kontraste." Die Expedition ende "furios im Kulturkampf. Tine Rahel Völcker textet Teil vier mit den großen Seeschlachten zur aktuellen Irrfahrt um, Pedro Martins Beja folgt ihr mit seiner Inszenierung willig dorthin."

 

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