Heißkaltes Blut- und Bilderbad

von Georg Kasch

Berlin, 17. November 2012. Vaterliebe kann etwas Wunderbares sein. Einmal steht Peter Kurth links an der Rampe vor einem Mikro und imitiert Vogelstimmen. Er zwitschert und pfeift und keckert sie, ein Megafon-Lautsprecher spuckt sie wieder aus, etwas krisselig, leise, wie von fern. Während auf der Leinwand schwarzweiße Bilder von Bäumen und Ästen flimmern, redet Kurths Bahnwärter Thiel mit dessen Sohn Tobias, erklärt ihm, warum der Eichelhäher der Polizist unter den Vögeln ist und müht sich, auf dessen Wunsch auch eine Schlange zu imitieren.

Flammende Distanziertheit

Dann vollendet er das Abendritual mit etwas, das er Schlafwolf nennt: Zärtlich jault Kurth die tierischen Laute, heult sie leise, sehnsüchtig als Liebeserklärung an den Sohn. Da vollzieht sich das Wunder des Theaters: Man sieht den kleinen Jungen mit den großen Augen vor sich, man weiß, mit welchen Gesten dieser große grobe Mann die Bettdecke des Sohnes richtet, wie er einen letzten Blick auf ihn wirft, bevor er das Licht löscht. Kurz ist Gerhart Hauptmanns Novelle "Bahnwärter Thiel" Bühne und Bild geworden, obwohl kaum etwas passiert; kurz hat Armin Petras aufblitzen lassen, was möglich gewesen wäre mit diesem Stoff, diesem Schauspieler.

 thiel 560 thomasaurin uPeter Kurth ist Hauptmanns Bahnwärter Thiel © Thomas Aurin

Allein: Jenseits von Momenten wie diesem entfacht Petras bei seinem Versuch, die Nacht- und Schattenseiten dieses auf den ersten Blick so kühl rhythmisierten Textes sichtbar zu machen, den visuellen und interpretatorischen Overkill.

Klar steckt mehr in der Novelle des Jubilars (zwei Tage zuvor ward sein 150. gefeiert) als das naturalistische Protokoll einer Katastrophe: Mit flammender Distanziertheit beschreibt Hauptmann, wie die äußerst irdische Zweitfrau des titelgebenden Bahnwärters seinen Sohn aus erster Ehe misshandelt, erzählt vom Unfall, bei dem der kleine Tobias unter die Schnellzugräder gerät und vom kalten Blutbad, das der wahnsinnig gewordene Thiel daraufhin an Frau und zweitem Sohn verübt. Ein wirkungsvolles Stück Literatur, in dem auch die kleinsten Naturdetails als Boten des Vor- und Unbewussten erscheinen, weil sonst alles so preußisch präzise durchgetaktet ist. Ein Rhythmus, den Petras nie aufnimmt.

Schattenbilder als Seelenbilder

Stattdessen räumt er das gesamte Bühnenportal für die Triebe, das Irrationale, die Seele frei: Vorne rechts steht ein Lichttisch, von dem aus zunächst schöne Schattenbilder auf die Leinwand projiziert werden. Bald kommen Federn, Spreewald-Fotos, Blutstropfen hinzu. Später flackern Negativbilder von Blättern vorüber, von spielenden Kindern, von Fabelwesen einer Laterna magica. Vor diesem zuweilen verstörend assoziativen Bildersturm müssen gegen Kurths stämmigen, knorrigen Thiel (natürlich im preußischen Dienstrock und mit Schirmmütze) gleich zwei Frauen ran, um das herrsch- und zanksüchtige Weib auszupinseln, das hier mal monströs und hexenhaft, oft aber nur billig erscheint.

BwThiel2 hoch ThomasAurin u Zwischen preußischen Megären: Regine Zimmermann, Peter Kurth und Diane Gemsch 
© Thomas Aurin
Regine Zimmermann (als Schauspielerin) und Diane Gemsch (als Tänzerin) tragen beide blonde Perücken, demonstrieren die erotische Macht, die sie über Thiel besitzen, an Poledance-Stangen, sehen aber ein paar Farb- und Erd-Orgien später bereits aus, als hätten sie den armen Tobias bei lebendigem Leib zerfleischt.

Massakerbericht in kippendem Holzrahmen

Derlei visuelle und akustische Eindeutigkeiten mehren sich. Die Geschichte, die zu weiten Teilen halbwegs linear erzählt wird, zerbröselt unter der Last der Bilder, Einfälle und Assoziationen: Kurth singt herb Bachs Ich habe genug, um Thiels jenseitsgerichteten Pietismus zu demonstrieren, scratcht das "Heidenröslein" auf Vinyl (klar: hier wird nicht die Blume, sondern der Knabe gebrochen), dann brüllt Zimmermann eine Runde ordinäres Berlinerisch und Gemsch lässt sich gegen den rohen Holzrahmen knallen. Der kippt bei der Unfallerzählung langsam nach rechts, beim Massakerbericht zurück und weiter in eine Linksschräge, womit auch dem letzten vorillustriert wird, dass hier was aus dem Lot geraten ist.

Während Petras sonst oft Konflikte beschreibt, die sich gesellschaftlich erklären und – vielleicht – ebenso lösen lassen, bietet Hauptmanns Novelle ihm zu kaum mehr als der Erkenntnis Anlass, dass die Welt schlecht eingerichtet ist. "There is another world, there is a better world, well, there must be..." hoffen The Smiths im finalen "Asleep", während sich Kurth märtyrer- und fakirhaft mit nacktem Oberkörper auf einen mit Löffeln und Gabeln besteckten Tisch legt. Bei der anderen, besseren Welt dürfte es sich vermutlich um die der Literatur handeln. Die des Theaters jedenfalls fällt aus – für diesmal.

 

Bahnwärter Thiel
nach einer Novelle von Gerhart Hauptmann
Regie: Armin Petras, Bühne: Olaf Altmann, Kostüme: Valerie von Stillfried, Choreographie: Berit Jentzsch, Musik: Thomas Kürstner, Sebastian Vogel, Video: Rebecca Riedel, Dramaturgie: Jens Groß.
Mit: Regine Zimmermann, Peter Kurth, Diane Gemsch, Sophia Krüger, Kajetan Skurski.
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten

www.gorki.de


Kritikenrundschau

"Jede Menge symbolschweren Budenzauber" fährt Armin Petras für seine Theatralisierung der Hautmannnovelle aus Sicht von Peter Laudenbach von der Süddeutschen Zeitung (20.11.2012) auf. Doch ist der Bombast "von Bach-Chorälen ('Ich habe genug') bis zu den sexualpathologischen Zuckungen und verschwitzten Tanzeinlagen von Thiels Gattin" aus Laudenbachs Sicht "so konfus wie durchsichtig auf Wirkung kalkuliert: Kraftmeiertheater." Warum man die Novelle, statt sie zu lesen, nun im Theater sehen soll, erschließt sich diesem Kritiker nicht.

Von einer konzentrierten, durchkomponierten Inszenierung, einem "vorzüglichen Ensemble" und einigen wenigen, klug eingesetzten Mitteln "wie Schattenspiel, Musik und Tanz" spricht Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (20.11.2012. Ergänzt würden die überzeugenden Erzählmittel der Aufführung "durch die harte Bildebene aus Video, Film und bearbeiteten Fotos, in denen sich die zunehmend zerstörte Realität des Bahnwärters ins zeitlos Psychotische überhöht."

Zwei weniger großartige Künstler als Regine Zimmermann und Peter Kurth wären aus Sicht von Matthias Heine von der Welt (20.11.2012) mit Armin Petras Veräußerlichung der inneren Abgründe der Hauptmann-Figuren "vermutlich gescheitert". Zimmermann und Kurth gelinge es jedoch, "hinter allen gelegentlichen Mätzchen, die Zwänge und Sehnsüchte jener uns eigentlich doch durch die Zeit und die soziale Distanz sehr fern gerückten Menschen fühlbar zu machen." Die Aufführung macht das Gorki-Theater aus Sicht dieses Kritikers daher zu einen Ort, "an dem man in die Gefühlswelten von Menschen aus der fremden Welt des 19. Jahrhunderts einsteigen kann."

"Petras ist kritischer Materialist, er setzt alle Not und Ungerechtigkeit dieser Welt stets den Umständen auf die Rechnung", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau (19.11.2012). "Diesmal aber dreht er den Inszenierungsspieß um – und bohrt tief im Seelenfleisch seiner Hauptfigur." Die Seele mache den Unterschied, an diesem Abend im Maxim-Gorki-Theater besonders. Denn Petras halte sich zwar an die vorgegebene Handlung, erzähle davon, wie Thiel in schlimm sexuelle Abhängigkeit von seiner zweiten Frau gerate und Tobias von ihr misshandelt werde, erzähle vor allem, wie Tobias unter die Räder eines Zuges gerate, sterbe und Thiel seine Frau mitsamt ihrem Kind zerhacke. "Aber von Irrsinn ist bei Petras keine Rede." Vollkommen logisch, ja unausweichlich erscheine es dem Zuschauer nach knapp zwei Stunden vielmehr, dass dieser Thiel zum Gabelspitzenschmerzensmann werde – "der Unterschied, den eine Seele macht, ist auch der Unterschied zwischen Hauptmann und Petras." 

Ein "disparates Sammelsurium" hat Andreas Schäfer für den Tagesspiegel (19.11.2012) gesehen – und mutmaßt, dass es sich um eine "Reste-Inszenierung" handelt, in die Petras all das gepackt hat, was sonst nirgends unterzubringen war. Die Hauptmann-Novelle sei an sich ein dankbarer Stoff. Allein: "Das Impressionistische, den modernistischen Einbruch des Irrationalen, für den die Novelle berühmt wurde, hat Petras als Einladung zu Willkür, Zusammenhanglosigkeit und ausufernder Illustration verstanden." Nur wenn’s ruhig werde, weiche der alberne Aktionismus, "und Peter Kurth, der mit Petras zur nächsten Spielzeit nach Stuttgart wechselt, hat großartige Momente": zum Beispiel, wenn er seinem Sohn vormacht, wie ein Wolf heult. "Mehr Zärtlichkeit, mehr Verlorenheit geht nicht. So still kann das Irrationale auch einschweben."

Kommentare  
Bahnwärter Thiel, Berlin: schade auch
Schade, daß ein Kritiker, der sich anmaßt einen so poetischen und wunderbaren Theaterabend zu verreißen, nicht mal die populärsten Texte von Gerhardt Hauptmann kennt. Schade auch, daß wir diesen grandiosen Theatermacher an Stuttgart verlieren.
Bahnwärter Thiel, Berlin: zugekleistert
Leider muss ich Georg Kasch weitgehend zustimmen. Armin Petras kleistert diese so zarte, fragile und erschütternde Novelle so mit einem Übermaß an Theatermaschinerie zu, dass wenig mehr als plump plakative Bilder bleiben, die den Blick in den Abgrund,den Hauptmann offenlegt, verstellen. Der Abend ist eine Mischung aus Rezitationstheater und illustrativem Bilderreigen, bei dem weniger viel mehr gewesen wäre.

@marlene s.: Georg Kasch maßt sich gar nichts an, er macht seinen Job.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2012/11/18/wenn-mehr-viel-weniger-ist/
Bahnwärter Thiel, Berlin: warum Novelle?
Ich habe eine ganz naive Frage: Gerhart Hauptmann hat viele Stücke geschrieben. Warum muß man eine seiner Novellen auf die Bühne bringen, wo doch viele seiner Stücke seit Jahrzehnten ungespielt sind?
Bahnwärter Thiel, Berlin: Kritikervergleich
"Gabelspitzenschmerzensmann"?? das stadelmaiert aber sehr bei herrn pilz.
Bahnwärter Thiel, Berlin: fast schon eine Hymne
@ LE
Ich habe eigentlich kein Problem mit dem "Gabelspitzenschmerzensmann", zumal man das Bild kaum anders deuten kann. Eher mit der Behauptung der Redaktion, dass die Kritiker kein gutes Haar an der Inszenierung von Armin Petras lassen. Die Kritik von Dirk Pilz liest sich ja schon fast wie eine Hymne darauf, dass man es gar nicht anders oder sogar besser machen könnte. Aber vielleicht verstehe ich auch nicht die versteckte Ironie im Text. Mit der Seele haben Novelle wie Inszenierung aber sehr viel zu tun, wenn auch auf unterschiedlichen Ebenen. Das Missverhältnis zwischen dem düster, expressiven Seeleninneren Thiels und der penibel naturalistischen Beschreibung seiner Umgebung, in die er sich zurückzieht, hat Petras doch streckenweise sehr gut bebildert. Wenn es auch am Anfang etwas nervt, für diese Szene, in der der Vorhang hochgeht und dieser kindliche Schreckenssalbtraum über die Bühne zieht, könnte man ihn schon lieben. Petras bleibt trotz dieser Bilder aber Realist, und das ist durchaus das Werktreue an seiner Inszenierung, er macht die Umstände, das Milieu, in dem Thiel lebt für die Tat verantwortlich, nicht den Wahn.

@ RatCreutz
Ganz naive Gegenfrage: An welche seiner vielen Versepen, Mysterienspiele oder Antikenbearbeitungen denken Sie denn so? Möchten Sie wirklich die gesamte Atriden-Tetralogie sehen, oder eines seiner naturalistischen Selbstmorddramen? Den Michael Kramer führt man ja hin und wieder in kleineren Theatern auf. Vielleicht bringt ja mal jemand sein eingestampftes Jambenepos „Promethidenlos. Eine Dichtung“ zur Aufführung. Das hätte ja durchaus Hölderlinsche Ausmaße, wenn es auch eher an Byron oder Nietzsche erinnert. Jedenfalls ist da schon alles drin, was Hauptmann später so umgetrieben hat.

Das Elend greift in jeden Menschenhaufen
Und faßt mit Kreischen Kind und Mann und Greis:
Den treibts zum Hängen, jenen zum Ersaufen,
Den wirft es lachend in der Laster Kreis.
Bahnwärter Thiel, Berlin: im Spiegel des anderen
@ Stefan: Na, dann lachen Sie mal. Manch einem/einer ist hier vielleicht aber auch eher zum Weinen zumute. Obgleich auch ich finde, dass die Kritik von Dirk Pilz sehr schön beschreibt, um was es Petras hier geht - die Seele nämlich. Diese ist nicht, diese habe ich nicht, sondern sie zeigt sich, im Spiegel des Anderen oder des anderen Ichs.
Bahnwärter Thiel, Berlin: Ähnlichkeiten mit Hermanis
"Das Gorki-Theater..., ein Platz, an dem man in die Gefühlswelten
des 19. Jahrhunderts einsteigen kann", so Matthias Heine. Das klingt eigentlich sehr ähnlich wie der -bei KritikerInnen noch verbreitetere- Befund zum "Eugen Onegin" von Alvis Hermanis, nur daß
es bei Petras, wenngleich formale Ähnlichkeiten durchaus offensichtlich sind (nämlich eine Bild-/Bildwandebene, die weitestgehend parallelläufig zum Erzählten eingesetzt wird), nicht gar so glatt geht wie bei Hermanis. Die Bilder erweitern hier nicht
unbedingt den Assoziationsraum, es kommt nicht unbedingt zu einer Art der gegenseitig befruchtenden Wechselwirkung der Erzähl- und der Theatertechnikebene, sondern durchaus zu Kakophonie, Disharmonie, Unversöhnlichkeit. Hermanis mag sich insofern zu Petras ungefähr so verhalten wie die Vogelstimmenerläuterungen Thiels zu den Gegenläufigkeiten aus Unfallschilderung und den Bildern von einem fröhlichen Ausflug nach Erkner, wobei Petras uns ja durchaus zumutet, daß diese parallelen Stränge plötzlich doch irgendwie zusammenlaufen und die Schauspieler dann halt von der Filmsequenz her Tobias zu suchen beginnen und dieser Zug dann auf der Bühne "zuendeerzählt" wird. Wo bei Hermanis also quasi analog zu den Vogelstimmen eine Art "Peter und der Wolf"-Konstruktivität
vorherrscht ("Peter und der Wolf" ist ja das klassische Schulstück zum ersten Nachvollzug eine "musikalischen Themas"), nimmt Petras
die Novelle beim Wort und schreibt die Destruktionsmacht der Technik in der Art und Weise fort, wo sie auf einer Theaterbühne
am meisten wehtut; der anrollende Zug ist ein Theater-Technik(en)-
Zug, und der sogenannte Rahmen steht ebenso für die "Familiendramen", die sich in den eigenen 4 Wänden vollzogen ohne Fernsehen wie für die "Flimmerkiste" (viele Zuschauer beklagten das Flimmern die ganze Zeit). Petras hält das gekonnt in der Ambivalenz: Fernsehen und dergleichen mag die Gefühlswelten kanalisiert, auf ein Gleis gebracht, aber auch sediert, veroberflächlicht und entseelt haben, wobei es zuerst Erkenntnis- und Hoffnungsmedium war, denn auch diese Geschichte deutet Petras an: vom "Scherenschnitt" zur Fotographie, von dieser zu den bewegten Bildern, zunächst den ersten Scherenschnittfilmen, später den ersten Kinofilmen, die (Petras zeigt eine Ehe-Kriegsszene aus einem slawischsprachigen Film mit -verkehrtrum- englischer Untertitelung: kennt jemand diesen Film ?) so ein Paar wie Thiel und Lene gewissermaßen auf sich zurückwerfen könn(t)en. Später wollen mir die Traumsequenzen geradezu vorkommen, wie der Kampf gegen die Vergiftung des Lebenstriebes durch die schon immer vorläufigen Bilder, sehe hier aber mehr die allgemeine Wirkung auf das Seelenleben als eine allzutiefe analytische Verfahrensweise bezüglich Thiels. Der spricht für sich. Und die Bilder lassen uns auch nicht direkt, wenn überhaupt, an ihn herankommen: War also bei Hermanis noch von "Aneignung" die Rede, dann ist das hier eher eine "Enteignung": die Quellen unserer Gewordenheit im Mittenmang unserer Technik(en) sind uns ähnlich fremd geworden wie Puschkins Zeit oder -in den meisten Fällen- die Vogelstimmen-Lern-Konstruktivität. Auch das Dosengelächter ist Thiels Publikum an jener Stelle, wo er aus dem Fahrradlenker Vuvuzelenklänge zaubert, selbst hier sind wir eher "Fernseh-" als Theaterpublikum.
Ein Abend, der sich erst ein wenig setzen muß, denke ich, und der
nur dann eine Chance hat, wenn man nicht jedes Bild als Illustration oder Verstärkung sehen/gebrauchen will, und zu schnell kommen wir wohl nicht dahinter, daß auch die Auswahl der Vögel nicht beliebig erfolgt: 1. Neuntöter und Gabelschmerzensmann, 2. Kuckuck und Lenes Verhältnis zum Kind. 3.Lerche, aber nicht Nachtigal: Lene , 4.Eichelhäher als Warner, aber nicht für Tobias..
Bahnwärter Thiel, Berlin: Sprachfamilie
Lieber AZ,
interessante Thesen. Mich bewegt die Inszenierung auch immer noch, obwohl ich auch etwas zu Anfang gelitten habe. Aber Peter Kurth zuzusehen lohnt immer wieder. Schade, dass er mit Petras weggehen wird. Ein echter Verlust fürs Berliner Theater. Man muss also wieder mehr ins Kino gehen. Da sieht man ihn ja auch immer öfter. Zum Kino. In dem Film, der in der Inszenierung läuft, wird genauer genommen ungarisch gesprochen, also nicht direkt slawisch, aber osteuropäisch ist es schon. Der Ursprung dieser Sprachfamilie liegt im Gebiet des heutigen Ural. Daraus haben sich wieder zwei Zweige abgespalten. Die Finno-ugrische und die samojedische. Also Völker, die heute in Finnland, dem Baltikum (Estland) und in Teilen Sibiriens leben. Die Samen und Nenzen zum Beispiel. Das Reitervolk der nicht sesshaften Magyaren ist von südöstlich des Urals nach Europa vorgedrungen. Aber das kennen Sie sicher alles selbst. Also ich bin der Meinung, es handelt sich um einen ungarischen Film aus den 70er Jahren. Ich kann das aber nicht 100% belegen, obwohl ich ein großer Fan des osteuropäischen Films bin. Vielleicht weiß ja jemand näheres. Das würde mich auch interessieren.
Viel Spaß noch in Berlin, am Wochenende steht ja so einiges an im Theater.
Bahnwärter Thiel, Berlin: was hängen bleibt
@ Stefan

Ja, lieber Stefan, ich war mir auch keineswegs sicher, daß es etwas Slawisches war, normalerweise schnappe ich zwei, drei Signalworte
auf und versuche dann, ein "Glowny" oder "Hlavny" herauszuhören (das heißt, glaube ich, zweite Lautverschiebung, was im übrigen auch das Ober- und Niedersorbische voneinander unterscheidet) zum Beispiel, um das noch mehr eingrenzen zu können; ich hoffe auch, daß da noch jemand nachhelfen kann- vielleicht ist es ja Martha Meszaros. Die Inszenierung war irgendwie anstrengend, strapazierend, und ich habe da auch nur so allmählich meine Spur gefunden, aber es ist garnicht so selten, daß gerade solche Abende
"hängenbleiben". "Einsame Menschen", "Jeder stirbt für sich allein", "Rosmersholm" - das waren in der letzten Spielzeit, bei meinem letzten Besuch, ja auch so Abende, die nicht unbedingt die Renner bei Kritik und/oder Publikum waren, aber sie haben sich bei mir gehalten. Für das Wochenende habe ich noch gar keinen Plan: dabei dreht es sich im BE und DT parallel um Shakespeare, und dann sind da noch zwei weitere Premieren. Nun ja, aber irgendwie läuft hier eh jeden Tag etwas, heute zB. besuchte ich "Dämonen" in der JVA Charlottenburg (AUFBRUCH). Seit meinem Besuch der "Dämonen" von Castorf sind tatsächlich schon wieder 7 Jahre und 9 Monate vergangen. AUFBRUCH (Sie schrieben ja von den Vorgängerinszenierungen) ist unbedingt zu empfehlen. Da gehen so viele Dinge im Raum vor sich, die man vorher überhauptnicht auf der Rechnung hatte; das ist ein wirklich aufregendes Erlebnis, gerade weil auch eine Publikumsgruppe aus Inhaftierten bestand.
Ein Darsteller der Gruppe galt als wahrer Bücherwurm und konnte sehr gut erklären, wie die Inszenierung angelegt war und was seine Figuren im Stückkontext bewegt. Nach einer "Wunschrolle" befragt, antwortet er, daß ihn früher der "Mephisto" interessiert hätte, heute aber würde er lieber den Faust spielen: dieser suche konstruktiv nach einen Sinn im Leben, und genau daran wolle er sich halten, wenn er wieder auf freiem Fuß ist. Da "Aufbruch" mittlerweile auch mit "Ehemaligen" außen produziert, wird er wohl am Ball bleiben. Im Juni/Juli 2013 soll es Wallenstein I (Wallen-
steins Lager) geben in der JVA Tegel. Im Herbst dann Wallensteins Tod als ein solches Außenprojekt (siehe "Simplicissimus"). Wäre natürlich schön, wenn nk dann mit von der Partie wäre. Wirklich, dieser belesene Darsteller hat mich beeindruckt (er stellte auch Verbindungen zwischen den "Dämonen" und dem "Zauberberg" her). Ihn hätte, so sagte er, auch der "Breivik"-Monolog sehr interessiert, der sei gerade in Weimar gemacht worden..
Bahnwärter Thiel, Berlin: Zustimmung
Ich schließe mich der negativen Kritik der Südeutschen Zeitung und des Tagesspiegels an.

Eine andere Kritik zu der Vorstellung findet man auch hier. http://sector-o.cc/2012/11/gehart-hauptmann-bahnwarter-thiel-maxim-gorki-theater-am-21-november-2012/#more
Bahnwärter Thiel, Berlin: Die Adoption 1975
"Örökbefogadas" ("Die Adoption", 1975, von Marta Meszaros, Gewinner des Goldenen Bären 1975) könnte es sein. Die in diesem Film geschilderte Frauenfigur liefe genau konträr zu den Mißhandlungen des Kindes aus erster Ehe durch Lene und könnte möglicherweise als
"weiblicher Thiel" verstanden werden.
Bahnwärter Thiel, Berlin: auf die deutliche Sprache kommt es an
@ AZ,
Ja, an Márta Mészáros hatte ich schon gedacht. Aber es kann dieser Film nicht sein, da es in Adoption um eine 43jährige Frau geht. Márta Mészáros hat viele Emanzipationsdramen verfilmt, aber immer aus der Sicht der Frau. In vielen ihrer Filme spielt auch ihr Mann, der polnische Schauspieler Jan Novicki, die männliche Hauptrolle. Aber er ist es in diesem Filmausschnitt nicht gewesen. Vielleicht irre ich ja, aber hier verliert sich die Spur. Ich denke es ist auch nicht ganz so wichtig, die Bilder sprechen ja eine deutliche Sprache und auf die kommt es in der Inszenierung an.
Den „Simplicissimus" von aufBruch habe ich in der Alten Feuerwache des Flughafens Tempelhof gesehen. Er hat mich aber nicht so beeindruckt wie die letzten Sachen. Obwohl Regisseur Peter Atanassow immer wieder gute Bezüge zur heutigen Situation der Strafgefangenen und auch der ehemaligen schafft. Es geht natürlich schon wie bei Grimmelshausens naivem Helden um die Prägung durch das unmittelbare Milieu oder das gesellschaftliche Umfeld, Lernprozesse, Emanzipation und das Finden eines eigenen Weges. Diesmal waren es aber ein paar Querverweise und bedeutungsschwangere Fremdtexte zu viel, angefangen bei der Bibel über Rousseau und Carl Schmidt bis zu Heiner Müller. Man könnte ganze Abhandlungen darüber verfassen, dazu fehlt mir aber schlicht die Zeit. Außerdem geht es hier um den Thiel. Der aber auch durch das Milieu geprägt, an der gesellschaftlichen Realität verzweifelt, und in eine romantische Gegenwelt flüchtet, aus der es nur ein böses alptraumhaftes Erwachen geben kann. Dabei wird seine Gefühlswelt erschüttert und die Seele, hier auch als Psyche zu verstehen, verstört und verletzt. Wobei ja Hauptmann schon noch zwischen transzendenter Seele und der Psyche unterscheidet. Thiel als ein Mensch, der sich in der materialistischen Welt nicht mehr zurechtfindet. Die Psyche, also das Leben ist ihm zerstört. Was bleibt ist die Seele und die Sehnsucht nach Erlösung. Petras macht daraus einen Kampf der reinen Körperlichkeit und Sexualität gegen die verwirrte Gefühlswelt Thiels und fährt dabei ein ganzes Sammelsurium von mystischer Symbolik und romantischen Märchengestalten auf. Einzig im religiösen „Ich habe genug" kommt klar zum Ausdruck, dass Körper und Geist (Seele) sich beginnen voneinander zu lösen. Zu Maria Reinigung wird diese Bach-Kantate gesungen. Da hatte der Prophet Simeon das Jesuskind in der Synagoge als den Messias (Erlöser) erkannt und kann nun befreit sterben. Ein seelenloser, gemarterter Körper empfindet keinen Schmerz mehr ist Petras Botschaft. Was aber macht ein elendes, leidvolles Leben mit der Seele eines Menschen und inwiefern sind die äußeren Umstände dafür verantwortlich? (Hauptmanns Grundmotiv ist im Großen und Ganzen auch das Mitleid) Und das ist der Knackpunkt der Inszenierung, wo man sich selbst befragen muss, ob man einer materialistischen oder eher einer metaphysischen Sichtweise den Vorrang geben will.
Bahnwärter Thiel, Berlin: Über Film und Adaption
Sie haben natürlich schon Recht damit, daß man sich jetzt in der Suche nach dem Film nur unnötig zu verbeißen droht, wenngleich gerade in "Adoption" Jan Novicki nicht mit von der Partie ist und ich noch nicht recht erkennen kann, warum eine weibliche Gegenläufigkeit zu Thiel -die Adoption wird im Textausschnitt zum Film, den ich las,
auch mit Erlösung konnotiert- an dieser Stelle so unmöglich sein soll; dadurch daß Lene geradezu zum Doppelüberweib in dauerhafter Pole-Position aufgeladen wird (um den von Ihnen beschriebenen fatalen Dualismus/Antagonismus aufzumachen), entsteht ja irgendwie auch ein Vakuum auf der Minna-Seite der Angelegenheit; und gerade in dieses Vakuum sehe ich jene Filmsequenz hin vorstoßen- sie mag eine deutliche Sprache sprechen, die Untertitel aber erscheinen spiegelverkehrt: und gerade hier sehe ich eher ein Indiz der Gegenläufigkeit als der Verstärkung- die Tendenz zum "weiblichen Thiel". Dem "Adoptions-" gekoppelt mit dem "Kindsverlustthema" werden wir bei Hauptmann dann ja bekanntlicherweise in "Die Ratten"
wiederbegegnen. Schon erstaunlich irgendwie, wie der Prozeß des Vaterwerdens bei Hauptmann -siehe Programmheft- sich geradezu parallel zum Prozeß der Verfertigung der Novelle vollzogen hat: irgendwie für mich aber auch ein Indiz dafür, daß wir hier nicht wirklich vor ein Entweder/Oder , materialistische oder metaphysische Sichtweise, gestellt werden sollen; der Befund scheint mir eher, daß wir uns im Zuge der Erfolgsgeschichte des "ältesten Dualismus" (spätestens einsetzend mit Descartes) fast ausweglos in eine solche Alternativ-Entscheidungssituation gestellt sehen- für mich macht das einen Unterschied. Musil spricht in "Die Schwärmer" sehr deutlich von einer solchen Ja-Nein-Dynamik, die uns immer zwischen zwei Möglichkeiten wählen läßt und uns schließlich talentlos werden, die unerfundene dritte Möglichkeit zu suchen. Diese ist nicht notwendig eine metaphysische
oder systemisch-materialistische, wir könnten, wie Hauptmann, ja auch Kinder in die Welt setzen und Dramen schreiben (auch Marta Meszaros hat ja zwei Kinder von Jan Novicki) oder, wie Petras,
so ein Stück inszenieren, wenn auch vielleicht nur von unserem Diaprojektor aus..
Bahnwärter Thiel, Berlin: mitten im Dilemma
Ja, Herr Zarthäuser, wir könnten sicher, wenn wir nur wollten. Doch die meisten von uns bleiben ja irgendwo zwischen dem Wollen, Können und Machen stecken. Und das Talent zur Kunst ist ja nun mal nicht jedem gegeben. Aber vielleicht zu etwas anderem. Dabei käme es oft nur auf einen Versuch an, das Scheitern natürlich inbegriffen. Hauptmann hat das ja zu Beginn seiner Künstlerlaufbahn genau so erfahren. Nur folgt auf das Tun immer auch das Leiden, und Lernen will die Menschheit ja auch nicht. Da ist glauben um so vieles einfacher. Und wenn man nur all zu lange darüber nachdenkt, steckt man schon mitten im Dilemma. Auch das zeigt bekanntlich Hauptmanns Biografie.
Bahnwärter Thiel, Berlin: da fällt mir doch ein ...
@ Stefan: "Nur folgt auf das Tun immer auch das Leiden, und Lernen will die Menschheit ja auch nicht. Da ist glauben um so vieles einfacher." Entschuldigen Sie bitte, aber das klingt beinahe ironisch auf mich. Als ob Sie einen religiös-hierarchischen Tun-Ergehen-Zusammenhang aufmachen wollten. Bloß, dass das Leiden vieler Menschen auf dieser Welt nichts, aber auch gar nichts damit zu tun hat, was diese getan und/oder nicht getan hätten. Und da fällt mir doch sofort dieser Merkel-Spruch zur Finanzkrise ein, dass wir angeblich alle gierig und also auch alle schuldig seien. Meines Erachtens ist genau das aber eine Ausrede, gerade auch der "Politikerkaste", im Verbund mit den Konzernchefs und Finanzökonomen, welche aufgrund der (noch?) bestehenden Eigentums- bzw. Produktionsverhältnisse vermeintlich am längeren Hebel der Macht sitzen. Zudem setzen solche Aussagen voraus, dass es eine universelle Moral gebe. Stimmt aber nicht. Denn für oder gegen ein moralisches Handeln kann und muss ich mich entscheiden, darum geht's. Es geht um tat-sächliches Vertrauen, es geht um tat-sächliche Verantwortungsübernahme, auch im Hinblick auf die sozialen Konsequenzen des eigenen Tuns, es geht um ein tat-sächliches Miteinander zwischen den Menschen. Und das hängt nicht von der Erwartung von Strafe oder Belohnung ab. So würde nur ein "autoritärer Charakter" handeln.
Schön wäre es ausserdem, wenn wir frei von Leidenschaften wären bzw. handeln könnten. Können wir aber nicht. Ich sehe die Gefahr auch eher im Bereich der Unterdrückung von Leidenschaften bzw. der Perversion von Rationalität in Bezug auf die Tötung bzw. Verletzung von Menschen(-Seelen).
Bahnwärter Thiel, Berlin: der Film
Tarr Bela:Panelkapcsolat /Bela Tarr:"Betonbeziehungen"(1982)

http://www.youtube.com/watch?v=_rcpDDxWXqA
Bahnwärter Thiel, Berlin: Dank
@ 16

Vielen Dank, jetzt haben wir ihn, den Film (und sogar mit Link !).
Bahnwärter Thiel, Berlin: The Prefab People
@ forsthoff
Danke für den Tipp. Es scheint zu stimmen. Diesen älteren Film von Bela Tarr kannte ich noch gar nicht. The Prefab People. Der Film spielt in einer Plattenbausiedlung. Ich glaube sogar die richtige Videosequenz auf einer japanischen Website gefunden zu haben.
http://plaza.rakuten.co.jp/vinteuil131/diary/201209210004/comment/write/
Bahnwärter Thiel, Berlin: ich will Dramatik
@Stefan
Den Michael Kramer gab es vor ein paar Jahren in einer schönen Langhoff-Inszenierung am BE mit Ulrike Krumbiegel als Michaline und Götz Schubert als Lachmann.
Ich würde mir auch einen Fuhrmann Henschel ansehen, oder wieder mal Schuck und Jau.

Gerne gebe ich aber zu, daß ich ein Theater-Konservativer bin, der Dramatik auf der Bühne sehen will.
Bahnwärter Thiel, Berlin: Metaphysik via Haut
Zu meinem Kommentar Nr. 15.: Kleine Korrektur, nachdem ich die Inszenierung gesehen habe. Es geht hier weder um Idealismus noch um Materialismus, sondern um Naturalismus bzw. um die Erhabenheit der inneren und äusseren Natur des Menschen, wodurch er in seinem geistigen/vergeistigten Streben immer wieder scheitern muss, was ihn aber zugleich geistig-seelisch wachsen lässt. Insofern es sich um das Reich/den Rahmen der Kunst handelt.

Ich könnte auch sagen: Ich verstehe Gott nicht. Denn alles, was handelt, ist eine Grausamkeit. Das Böse dauert an, und zwar in jedem Menschen, das Gute ist ein Ergebnis des Tuns. Der französische Theatermacher Antonin Artaud hat davon geschrieben, bei dem Degenerationszustand, in welchem sich unsere Gesellschaften befinden, über das Theater die Metaphysik via Haut wieder in die Gemüter der Menschen einziehen lassen zu müssen. Ganz so wirkte es hier auch auf mich. Das Theater als ansteckender Traumniederschlag, in welchem sich mein Hang zum Verbrechen, meine erotischen Besessenheiten, meine Wildheit, meine Chimären sowie mein utopischer Sinn für das Leben und die Dinge zeigt. Kurz: Kreative Zerstörung und Neuschöpfung.

Wörtliches Zitat Artaud: "Diese Ängste, diese Schamlosigkeit, diese Geilheiten, vor denen wir lediglich Voyeurs sind, die sich delektieren, schlagen in Revolution um und werden sauer: darüber muss man sich im klaren sein." (aus: "Das Theater und sein Double")

Gut. Hier vielleicht nicht gleich in Revolution, sondern zunächst einmal in die Erkenntnis, dass das Heilige jenseits des Profanen dämonisch wird. Also: Nicht nur naiv und frömmelnd dran glauben, im Sinne von unterwerfen, sondern mitdenken und an die sinnlich erhabene Schönheit der Natur und des Kosmos glauben. Den Prozess des sogenannten "zivilisatorischen Fortschritts" hinterfragen. Ein Bahnmeister! Auch die Erfindung der Eisenbahn galt als Ergebnis des wissenschaftlichen Fortschritts, wirkte als Katalysator der industriellen Revolution und ist von der Moderne bis heute eine Aktiengesellschaft.
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