Wenn Nebelmaschinen Kringel rauchen

von Annette Hoffmann

Basel, 1. Dezember 2012. Nicht, dass man es nicht besser wüsste. Doch wenn Thom Luz' Inszenierung von Goethes Briefroman "Die Leiden des jungen Werther*" für das Theater Basel nicht ohne Fußnote auskommt, dann um vergessen zu machen, wie schlecht die Geschichte ausgeht. "I am a story backwards told" signalisiert das *, so dass in der unglücklichen Liebesgeschichte zwischen Lotte und Werther einmal nicht das Begräbnis, abseits und ohne geistliche Begleitung, das letzte Wort hat. Denn Luz und sein vierköpfiges Ensemble erzählen "Die Leiden des jungen Werther" von ihrem Ende her. Der Selbstmord, die deprimierende Dreiecksgeschichte von Lotte, ihrem Mann Albert und Werther, sein Scheitern einer Laufbahn am Hofe weicht allmählich dem Rausch der Verliebtheit, dem Glück der ersten Begegnung mit Lotte inmitten ihrer Geschwister, an die sie das Abendbrot verteilt und einer Gefühlslage, die offen für Neues ist.

Luz hat Goethes Roman dabei nicht eigentlich für die Kleine Bühne adaptiert, sondern für den Graben, der sich zwischen Publikum und Bühne auftut. Rechts steht die Souffleuse Ulla von Frankenberg mit der Goethe-Ausgabe und einem Thermoskannenbecher am Stehpult. Nach und nach schauen Vera von Gunten, Cathrin Störmer und Joanna Kapsch vorbei und lassen ihre Sätze zählen – 76 Sätze des Romans beginnen mit "O". Neben einem Hackklotz mitsamt Axt finden sich auf dem schmalen Streifen mehrere Tasteninstrumente und eine Glasharfe, die auf beinahe ritualisierte Art bedient wird.

werther 005 560 simon hallstroem xAn der Glasharfe: Mathias Weibel, Vera von Gunten, Joanna Kapsch, Cathrin Störmer
© Simon Hallström

Auf der Bühne jedoch wird auf eine sehr anti-illusionäre Weise Theaterillusion geschaffen. Noch vor dem Beginn der eigentlichen Inszenierung hatten zwei Männer dort prall gefüllte Plastiksäcke aufgehäuft, deren Anordnung an Sitzsäcke oder doch Caspar David Friedrichs Bild Die gescheiterte Hoffnung erinnert. Ab und an entweicht ihnen weißer Rauch. Während der gut eineinhalbstündigen Vorstellung erzeugen die beiden Theaternebel in allen erdenklichen Formen, als Welle, Wand oder als Kringel, die elegant über die Köpfe der Zuschauer hinwegziehen, als suchten sie irgendwo am Horizont einen Kegel, in dessen Richtung sie geworfen wurden.

Strenge Ästhetik in Schwarz und Weiß

Mit einer der üblichen Romanadaptionen hat Luz' Inszenierung nur wenig zu tun. Dass sich Vera von Gunten, Cathrin Störmer und Joanna Kapsch, die schwarze, unterschiedlich geschnittene Overalls zu Schuhen mit hohen Absätzen tragen (Kostüme: Tina Bleuler) und Mathias Weibel in einem improvisierten Orchestergraben befinden, hat System. Die Darsteller sind zugleich Musiker, die Musiker auch Darsteller. Mögen die Briefe mitunter szenisch gesprochen werden – szenisch gespielt werden sie nicht. Anstatt zu psychologisieren, hat Luz eine strenge Ästhetik geschaffen, die wesentlich auf den Farben Schwarz und Weiß beruht.

werther 008 280 simon hallstroem xMit Kopf-Mikro: Cathrin Störmer, Joanna Kapsch
© Simon Hallström
Da gibt Vera von Gunten am Klavier den Einsatz für den Brief vom 30. November und ihre beiden Kolleginnen stimmen wie wohlerzogene Chorsängerinnen ein. Dann wieder werden Einspielungen rückwärts abgespielt und dadurch verfremdet oder von zwei Darstellerinnen gesprochene Passagen überlagern sich. Manchmal werden lediglich Hauptthemen wie Lottes verstorbene Mutter genannt, bevor es zum nächsten Brief geht.

Tröstliche Gemeinschaft

All das funktioniert überraschend gut, auch wenn es ein wenig Textkenntnis braucht. Das katastrophale Ende bereits im Rücken klingen Werthers Exkurse über die Unbedingtheit der Liebe oder die Gesellschaft plötzlich ganz vernünftig, vor allem dann, wenn sie Cathrin Störmer mit ihrer handfest-ironischen Art in ein mit einem weißen Styroporkopf getarntes Mikro spricht. An die Stelle einer linear erzählten Geschichte tritt der Augenblick.

Spätestens im Gefühlstaumel wird "Die Leiden des jungen Werther*" zum Konzert. Dann hält es von Gunten und Störmer auch nicht mehr im Graben: Sie erklimmen, zusammengepfiffen von der Souffleuse, die Bühne. Störmer wirft sich gar einem der Bühnenarbeiter um den Hals, der ihre Annäherung stoisch abweist. Schnell verschwindet das Knirschen unter den Schritten der Frauen, das eben noch an brüchiges Eis erinnert hatte. Und wenn sich alle zum Schlussbild um den Musiker finden und ein Lied anstimmen, sieht dies das Publikum zwar über einen schräg gestellten Spiegel nur indirekt, doch liegt in dieser Gemeinschaft etwas Tröstliches.

 

Die Leiden des jungen Werther* I am a story backwards told
Regie: Thom Luz, Kostüme und Licht: Tina Bleuler, Dramaturgie: Martin Wigger, Musik: Martin Bliggenstorfer, Mathias Weibel.
Mit: Joanna Kapsch, Cathrin Störmer, Vera von Gunten, Demian Wohler.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.theater-basel.ch

 

Kritikenrundschau

Befreiend findet Susanna Petrin die Grundidee des Abends in der Aargauer Zeitung (3.12.12). "Wie Staubklumpen von einem Teppich" schüttelten die drei Schauspielerinnen die vielen Ichs, Achs und Ohs raus. "Eine Art sprachlicher Exorzismus." Bei allen schönen Einfällen und Momenten wirke der streng in Schwarz-Weiss gehaltene Abend aber stellenweise auch "etwas monoton und gar gefühllos", Tonfall und Tempo der Schauspielerinnen variierten wenig. "Vielleicht hat Luz den Text etwas gar gründlich abgetrocknet."

Eine "wunderbare Aufführung" in "wunderlicher Szenerie" hat Dominique Spirgi für die Tageswoche (2.12.12.) gesehen. Mit hervorragenden Schauspielern sei eine Art Etüde oder ein musikalisch-dramatischer Exkurs über die Wurzeln überschäumender Liebe, Leidenschaft und Leiden zu erleben. Fazit: "Grosses, originell-unterhaltsamens, berührendes und zugleich kluges Theater."

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