Doris Day und die dysfunktionale Familie

von Reingart Sauppe

Saarbrücken, 1. Dezember 2012. Die Idee, man könnte durch Theaterkooperationen Geld sparen und dadurch die Kosten fürs Stadt- oder Staatstheater senken, hat schon zu manch riskanten kulturpolitischen Manövern geführt, die selten das gewünschte Ergebnis brachten. Denn was auf der einen Seite eingespart werden mag, wird auf der anderen Seite durch erhöhten Aufwand wie etwa Transportkosten wieder ausgegeben. Und da zwischen der saarländischen Landeshauptstadt und der Stadt Luxemburg immerhin gut 100 Autobahnkilometer liegen, sind die Gründe für die Theaterkoproduktion zwischen dem TNL (Theater National Luxembourg) und dem SST (Saarländisches Staatstheater) auch andere als die des Sparens: Im Länderdreieck Deutschland, Luxemburg und Frankreich will man durch eine verstärkte Zusammenarbeit der Vision einer grenzüberschreitenden Großregion näher kommen.

Darüberhinaus verbindet Dagmar Schlingmann, die Intendantin des Saarländischen Staatstheaters und Frank Hoffmann, der Direktor des Luxemburger Nationaltheaters eine langjährige persönliche Theaterfreundschaft. Aus der entstand in diesem Jahr die erste Gemeinschaftsproduktion: Schlingmann inszenierte Bertolt Brechts Jugendstück "Die Kleinbürgerhochzeit" mit zwei Luxemburger Schauspielern (die meist alle drei Sprachen – deutsch, französisch und letzeburgisch – fließend sprechen) als Gäste im saarländischen Ensemble.

kleinb ama 046 560 thomas-m.-jauk-stagepicture uAn der 60er-Jahre-Hochzeitstafel © Thomas M. Jauk / Stagepicture

In dem Einakter zerlegt Brecht mit scharfsinnigem Spott das bürgerliche Ideal von Ehe und Familie am Beispiel einer Hochzeitsfeier, einem Fest, bei dem die Fallhöhe bekanntlich besonders groß ist. Denn wie so häufig ist auch hier die Braut bereits heimlich schwanger, die Hochzeitsgesellschaft erst gelangweilt, dann betrunken und schließlich zerstritten und die vom tüchtigen Bräutigam selbstgefertigten Möbel am Ende nur stümperhafter Schrott. Die Hochzeit als Gradmesser zwischenmenschlicher Unzulänglichkeit ist ja ein beliebtes dramatisches Sujet und in Zeiten von Hochzeitsmessen und Wedding Planer keineswegs verstaubt.

Gruppenbild mit Rosen

Dagmar Schlingmann und ihre Bühnenbildnerin Sabine Mader aber siedeln diese Kleinbürgerhochzeit nicht bei den jungen Vertretern der neuen Bürgerlichkeit an, die schon ein Jahr im voraus die romantische Location für ihre Hochzeit buchen, sondern zunächst im Boulevard der 60er Jahre. Die Musik swingt, die von Christiane Motter glänzend gespielte blondperückte und hochtoupierte Brautmutter stolpert wie einst Doris Day übererregt und überfordert in engem Kleid über die Möbel, der charmante Freund tänzelt gutgelaunt im Dinnerjacket mit einem riesigen Strauß roter Rosen herein, die Hochzeitsgesellschaft formiert sich zum Gruppenbild wie auf einer Showbühne.

Schlingmann inszeniert aber keine amerikanische Sitcom, sondern ein – manchmal allzu – sinnfälliges Lehrstück über die Brüchigkeit von Klischees und Beziehungen. Deshalb setzt sie das zunächst gutgelaunte Boulevardpersonal an eine viel zu große Hochzeitstafel in ein viel zu kleines, piefiges deutsches Wohnzimmer, das gerade so in den schmalen Guckkasten auf der Bühne passt. Schon klar: Hier passt nichts zusammen und eng ist beim Kleinbürgertum natürlich nicht nur das Wohnzimmer, sondern auch das Denken. Mit sicherem Gespür für solch beziehungsreiche Bilder und dramaturgisches Timing führt Schlingmann uns die Stadien dieser wiederum im doppelten Sinne aus dem Leim geratenden Familienfeier vor.

Humorvolle Ballade über die menschliche Unzulänglichkeit

Und auch wenn beim Hochzeitsmenü nicht nur Kabeljaugräten im Gesicht und Slapsticknummern an zerbrechenden Stühlen, sondern auch psychische Grausamkeiten, sexuelle Gier und Besäufnis serviert werden, ist diese Kleinbürgerhochzeit eher eine humorvolle Ballade über die menschliche Unzulänglichkeit als eine Abrechnung mit kleinbürgerlicher Verlogenheit. Dagmar Schlingmann zeigt Verständnis für ihre Figuren: Etwa wenn der Brautvater, der unbeirrt alte Geschichten erzählt, die keiner mehr hören will, schließlich in gemütlich-singendem Letzeburgisch Selbstgespräche führt. Ein kleine anrührende Szene in dieser deutsch-luxemburgischen Koproduktion, die zeigt, dass Sprache Heimat und Verständigung mehr ist als Sprache.

Und eine Paradeszene für den Luxemburger Marco Lorenzini, der in dieser Inszenierung viel komödiantisches Talent beweist und diese speziell,e in deutschen Ohren stets humorvoll-gelassen wirkende Diktion des Luxemburgischen geschickt einzusetzen versteht. Die Koproduktion mit dem TNL hat sich also als Glücksfall erwiesen: Nicht zuletzt,weil sich auch das saarländische Schauspielensemble weniger routiniert als gewohnt und sehr spielfreudig zeigt. Dass allerdings am Ende sogar das Brautpaar über die missglückte Hochzeitsfeier lachen kann und sich gemeinsam ins prompt zusammenkrachende Ehebett fallen lässt, hätte auch Doris Day gut gefallen...

Die Kleinbürgerhochzeit
von Bertolt Brecht 

Koproduktion mit dem Théâtre National du Luxembourg
Inszenierung: Dagmar Schlingmann, 
Bühnenbild: Sabine Mader, 
Kostüme: Inge Medert, 
Musik: Alexandra Holtsch
.
Mit: Marco Lorenzini
, Christiane Motter
, Dorothea Lata, Nora Koenig
,  Benjamin Bieber
, Andreas Anke
, Nina Schopka, Johannes Quester
, Roman Konieczny.
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.theater-saarbruecken.de

Mehr zu Dagmar Schlingmann, Intendantin des Saarländischen Staatstheaters? Im September 2009 inszenierte sie daselbst Faust 1 & 2 an einem Abend.

Kritikenrundschau

Der Abend schnurre ab, als wolle Dagmar Schlingmann die Formel-Eins-Klasse im Theater einführen, schreibt Cathrin Elss-Seringhaus in der Saarbrücker Zeitung (3.12.12) – und ist angetan von der "wahrlich sportiven Veranstaltung mit abstruser Sex-Tanz-Akrobatik und halsbrecherischen Kipp-, Fall- und Kletter-Vorführungen." Schlingmann treibe Brechts Stück nicht in die platte Comedy, drehe nicht nur an der "Tücke-des-Objektes"-Komik-Schraube. Zugleich hüte sie sich vor einer Überhöhung oder Verdüsterung des Stoffes. "Vielmehr wagt sie mit Brecht ein selten launiges Quickstep-Tänzchen, spritzig und charmant." Der Abend sei bis auf die Sekunde rhythmisiert, gestisch und mimisch hochglanzpoliert. "Das traute Heim als Trümmer-Feld der Konventionen, es ist dies wahrlich ein sehr oft bemühtes Lehr-Modell des (anti-)bürgerlichen Lachtheaters." Gleichwohl gewinne es bei Schlingmann neue Frische. "Es ist, als beiße man in ein Sahnetörtchen - mit einer Chilischote drin."

 

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