Das Zeug zur Führerin

von Jürgen Reuss

Freiburg, 6. Dezember 2012. Die Bühne im Kleinen Haus des Theater Freiburg ist in dieser Spielzeit eine von drei Seiten mit Zuschauerblöcken umzingelte Mischung aus Arena und anatomischem Theater. Eine passende Anordnung, um vor den Augen des Publikums aus den Stücken die jeweilige Essenz herauszupräparieren. Bei Schillers "Jungfrau von Orleans" ist es, was sollte es auch anderes sein, das Politische.

Als Seziertisch hat Bühnenbildnerin Viva Schudt der Regisseurin Felicitas Brucker einen flachen Laufsteg auf die Bretter gestellt. Vor der einzig sichtbaren Wand ist eine Art Gerümpellager drapiert, aus dem eine Leiter prosaisch in die Höhe ragt. Hinter ihr darf sich die Wand bei Bedarf ins Monumentale öffnen – allerdings nicht, ohne gleichzeitig das Handwerkszeug zur Hervorbringung des Monumentalen aufzudecken: Eine Kronleuchterandeutung vorm Materiallager, strahlendes Licht von hinten, pompöse Überwältigungsmusik und ein bisschen sakrale Haltungsgymnastik der Darsteller – ein beeindruckend stimmiges Setting.

Was vor der Henkersmahlzeit geschah

Die Inszenierung weiß diese Vorlage hervorragend zu nutzen. Wie beim Bühnenbild werden auch beim Bühnengeschehen oft die richtigen Kniffe an der richtigen Stelle gesetzt. Gleich zu Beginn werden sowohl der analytische Blick als auch die Eindampfung des Stücks auf zwei Stunden und sieben Darsteller einleuchtend dadurch motiviert, dass das Stück in der Rückblende gespielt wird.

Johanna sitzt bereits vor ihrer Henkersmahlzeit im Kerker, bevor das Spiel seinen Lauf nimmt. Während dann im Hintergrund Johannas zu Orleanscher Universalbürgerschaft hochgechorte Familie ihr perspektivloses Nichteinmischungscredo in die Geschicke der Welt intoniert, ersteht Lena Drieschners Johanna als Verkörperung der Geburt des Krieges aus dem Geist der pubertären Vorstadtgörenrevolte. Eine kleine Geste des Ritzens genügt, ihre spätere göttliche Beseeltheit weniger als Grenzgängertum zwischen göttlichen und menschlichen Sphären als auf der Borderline anzusiedeln.

Unübersichtliche Umbruchsituationen

Das ist die Stärke dieser Inszenierung: kleine, richtig gesetzte Details öffnen immer wieder verblüffende Deutungshorizonte. Allein Johannas asymmetrische Frisur reizt, darüber zu philosophieren, wie langhaarige Heiligkeit in kurzgeschorenes Warten auf den Scheiterhaufen kippt, über Changieren zwischen Geschlechterrollen oder wie schon rein haarschnitttechnisch die totale Mobilmachung zum Volkskrieg gegen die Engländer in strukturelle Nähe zum aufgestachelten Mob von Rostock-Lichtenhagen rückt.

jungfrauorleans3 560 maurice korbel uLena Drieschner als Jungfrau von Orleans © Maurice Korbel

Der Gedanke ist nicht mal weit hergeholt, da Bruckers Inszenierung darauf zielt, herauszupräparieren, wie Führerpersönlichkeiten Gestalt annehmen, wie unübersichtliche Umbruchsituation zum Einschwenken aufs Führerprinzip verlocken, dass auch vermeintlich heiliges Berserkertum rücksichtslos Menschen zerstückelt, und dass am Ende doch die Macht des Bestehenden triumphiert.

Der mit Johannas Hilfe inthronisierte König des geeinten Frankreichs kann eine Instanz über sich nicht dulden und lässt sie zwischen der Unterwerfung unter den Brautschleier und dem Scheiterhaufen wählen. Der Vater, der die Tochter denunziert, ist da nur der nützliche Idiot zum Anschieben des Notwendigen.

Überzeugendes Konzept

Getragen wird das Stück dazu von der herausragenden Lena Drieschner als Johanna, aber auch den tollen Akzenten, die das übrige Ensemble immer wieder zu setzen weiß. Dagegen fallen kleinere Schwächen, wie der selten erfolgreiche, aber dennoch offenbar obligatorische Versuch, durch Rennen Dynamik zu erzeugen, nicht ins Gewicht. Das ist eine sehenswerte Inszenierung mit einem überzeugenden Konzept, das die anregenden Spannung des Dazwischen hält, nicht in überflüssige Eindeutigkeiten kippt und vom Ensemble richtig gut umgesetzt wird.

Die Jungfrau von Orleans
Romantische Tragödie von Friedrich Schiller
Regie: Felicitas Brucker, Bühne & Kostüme: Viva Schudt, Musik & Sounddesign: Malte Preuß, Licht: Stephanie Meier, Dramaturgie: Viola Hasselberg.
Mit: Lena Drieschner, Konrad Singer, Nicole Reitzenstein, Frank Albrecht, Hendrik Heutmann, Holger Kunkel, Malte Preuß.

www.theater.freiburg.de

 

Alles über die Regisseurin Felicitas Brucker auf nachtkritik.de im Lexikon.

 

Kritikenrundschau

"Ein starker Sieg auch beim Premierenpublikum", schreibt Bettina Schulte in der Badischen Zeitung (8.12.2012). Felicitas Bruckers Inszenierung bescheinigt sie analytischen Verstand. Schillers Stück habe sie "für die heutige Zeit" seziert, und bleibe dabei doch ganz bei Schiller.
Lena Drieschner, die Darstellerin der Titelrolle, habe man so auf der Freiburger Bühne noch nicht gesehen: "Ein Kind mit unbeirrbaren Augen, die oft ins Leere zu blicken scheinen, weit hinaus und hinweg über die anwesenden Männer." Auch dieser "große, überwältigende Auftritt" sei Bruckers hervorragender Regie geschuldet.

"Die kluge Inszenierung verordnet Krieg nicht als neues Emanzipationsprogramm," schreibt Siegbert Kopp im Freiburger Südkurier (8.12.2012) sondern sie lasse weibliche Machtphantasien blühen, "um ihre reale Ohnmacht zu zeigen". Der Abend sei "Körpertheater vom besten" und besonders Lena Drieschner in der Titelrolle furios.

 

 

 

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