Ein letztes Austrinken

von Charles Linsmayer

Bern, 9. Dezember 2012. "Im Himmel gibt's kein Bier", steht an dem Gefährt geschrieben, das man als Servicewagen von der Bahn her kennt. Und tatsächlich: In Maria Ursprungs Uraufführung  von "Ustrinkata", dieser zauberhaften Geschichte von den Bündner Dorforiginalen, die den Untergang ihrer Dorfbeiz "Helvezia" mit einem letzten "Austrinken" begehen, bekommen die neun Stammgäste statt Bier jene Holzprügel vorgesetzt, die aus der vier Meter hohen Scheiterbeige heruntergepoltert sind, als sie sich zu Beginn des Abends den Weg auf die Bühne freikämpften. Tische oder Bänke gibt's in der himmlischen Wirtschaft natürlich auch nicht, und so stellen die Gäste sich in eine Reihe vor die jeweiligen Holzprügel und nehmen immer dann Achtungsstellung ein, wenn die Wirtin, vom Ende ihres Lokals offenbar schwer mitgenommen, ihr depressives "Viva" oder "Vivat" in die Runde krächzt.

Gewollte Symbolik
Kaum ein anderes Buch hat die Schweiz in jüngster Zeit so elektrisiert wie der Roman "Ustrinkata" des 34-jährigen Bündners Arno Camenisch. Ein Buch wie ein Stück lebendige Volkskultur, ein höchst vitaler, mit bündnerdeutschen, rätoromanischen und italienischen Anklängen versetzter Text, in dem sich eine Erzählerstimme raffiniert mit denjenigen von Figuren zusammenfindet und ein ganzes Panoptikum an Erlebnissen und Geschichten entwickelt wird. Ein Abgesang auf eine untergehende Zeit, der wie ein Musikstück aus verschiedenen, sich ablösenden und sich kontrastierenden Stimmen besteht, den lokalen Rahmen transzendiert und zu einem apokalyptischen Reigen wird.

ustrinkata4 560 annette boutellier uAuf dem Trockenen sitzen: "Ustrinkata" © Annette Boutellier

In der Berner Inszenierung von Maria Ursprung aber ist von all dem kaum etwas zu spüren. Die Idee mit den Holzprügeln wirkt in ihrer gewollten Symbolik schwer und belastend, und die Protagonisten finden bei aller fühlbaren Anstrengung nicht zu einem Zusammenspiel, das den Text in seiner Kraft und Farbigkeit über die Rampe bringen könnte. Statt die polyphone Struktur des Ganzen arbeitet die Regisseurin lauter einzelne Momente heraus, die bloß aneinandergereiht werden. Dadurch lässt der Abend jegliche Spannung oder Steigerung vermissen und gibt einfach nur den Schauspielern Gelegenheit, ihre komödiantischen Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Was jedoch auch nur zum Teil gelingt.

Schweizer Fluchrekord
So wirkt Margot Gödrös als Wirtin und Tante matt und abgekämpft, Sophie Hottinger erscheint einem mit ihrem nervösen Kettenrauchen und ihren gelegentlichen Einwürfen wie eine Figur in einem falschen Film, Marcus Signer spielt mit Emphase den Wüterich vom Dienst, der über alles und jedes zornig ist und offenbar mit seinem "Gottverteckel" oder "Gottverdammi" einen Schweizer Fluchrekord aufstellen will, Stéphane Maeder macht den Otto zum unbeholfen-pedantischen Neurotiker, Herwig Ursin steuert in der bunten Befiederung eines Indianerhäuptlings durch eine Lücke der Scheiterbeige allerlei Musik bei, die manche Szene zu allem Überdruss in eine billige Sentimentalität taucht.

Was Camenisch mit seinem Roman anpeilt, ist ein Weltuntergangsdrama in Form einer fein ausziselierten, virtuos durchkomponierten Wortsymphonie. Was das Berner Theater daraus macht, ist ein Potpourri ohne erkennbaren inneren Zusammenhang.

Ustrinkata (UA)
von Arno Camenisch
Regie: Maria Ursprung, Bühne und Kostüme: Anika Marquardt und Lani Tran-Duc, Musik: Herwig Ursin, Dramaturgie: Jan Stephan Schmieding.
Mit: Margot Gödrös, Sophie Hottinger, Stéphane Maeder, Marcus Signer und vier Statisten.
Dauer: 2 Stunden, eine Pause

www.konzerttheaterbern.ch

 


Kritikenschau

Ausführlich lobt Tina Uhlmann in der Berner Zeitung (11.12.2012) die Ausstattung von Anika Marquardt und Lani Tran-Duc, um dann die Schwäche der Inszenierung zu benennen: Die Sprache, die dem Originaltext immerhin zum Eidgenössischen Literaturpreis verholfen habe. "Arno Camenischs Mix aus hölzernem Hochdeutsch, Bündner Dialektismen sowie rätoromanischen und italienischen Einsprengseln gerät auf der Bühne zum Brei." Dennoch zündeten die "Pointen, die der Autor üppig gestreut hat".

"Man schaut diesen mitunter sturen und dann wieder anrührenden Querköpfen gerne zu", findet Alexander Sury in Der Bund (11.12.2012). Dass Ursprungs Inzenierung etwas hölzern wirke, entbehre nicht einer gewissen Logik: "Die Figuren in diesem kleinen 'Welttheater' können sich nicht wirklich entwickeln, sie sind als Naturprodukte gleichsam vollendet, die einzelnen Charaktere in diesem Stimmenorchester prägen jedoch wie die unterschiedliche Maserung des Holzes durchaus reizvolle Sprachmuster ganz eigener Prägung."

Reduziert seien Ausstattung und Inszenierung, meint Alexandra von Arx im Bieler Tageblatt (11.12.2012). Was in der Romanvorlage allerdings das Reizvolle sei, "diese Kargheit der Sprache, die eine Vielfalt von inneren Bildern auslöst", funktioniere in der Umsetzung nicht: "Die Poesie des Textes wird nicht entfacht." Neben Marcus Siegner als Luis blieben die anderen Figuren blass und konturlos.

 

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