Als sei's ein Groschenroman

von Dorothea Marcus

Mülheim, 12. Dezember 2012. Sind wir hier im richtigen Stück? In einer Textilfabrik werden die Kisten gestapelt, Lieblich schön singt die Belegschaft ein schwebendes "Lilli Marleen" während der Akkord-Arbeit, stellt selbst die zischenden, klopfenden Rhythmen dazu her. Bis die Fabriksirene dröhnt, die Tupperdosen verteilt werden und – statt eines Pausenbrotes ein Reclam-Heft herausfällt. Fesselnde Lektüre für Fabrikarbeiter. Bald beugen sich die jungen Frauen und Herren in geblümten Hausfrauenkitteln und Kopftüchern eifrig über die Lektüre von "Minna von Barnhelm", das bekannteste deutsche Lustspiel der Literaturgeschichte, als sei's ein Groschenroman. Bis, man ahnt es, alle anfangen, die Geschichte nachzuspielen. Als erstes zieht sich Steffen Reubers Windhund von Wirt seinen Hausmeisterkittel an, für Volker Roos' Diener Just in heruntergekommener Rambo-Kluft, mit kurzen Hosen und klaffender Narbe wird der Text noch ansouffliert, in breitem Balinarisch erfährt man, wie Major Tellheim aus Geldmangel vor die Tür des Gasthauses gesetzt wurde.

minna2 560 a koehring uMit Audrey-Hephburn-Appeal: Simone Toma als Minna, dahinter Dagmar Geppert und Steffen Reuber. © Andreas Köhring

Die Fabrik-Rahmenhandlung, in die Regisseurin Karin Neuhäuser Lessings "Minna von Barnhelm" von 1767 gesetzt hat, ist eher die ironische Replik auf ein 50er-Jahre-Märchen als die Etablierung einer modernen Lesart. Wie sehr man sich eben im täglichen Hamsterrad des Alltags abstrampelt, während man doch so gerne von fernen Majoren und Gräfinnen träumt. Oder vielmehr: im grünen Käfig von Gralf Edzard Habben, an dem Kleiderreihen hängen, die je nach Rolle ausgewählt werden – die Requisiten kommen dagegen je nach Bedarf aus den rund dreißig Kartons. Praktischerweise spielt auch Requisiteur Thomas Hoppensack mit, wenn mal was verwechselt wird. Nach einem Krieg ist das Leben eben nur noch ein Provisorium.

It-Girl trifft auf Traumatisierten

Simone Thomas Fräulein Minna von Barnhelm dagegen wälzt sich mit Kammerzofe Franziska noch ein wenig im Himmelbett herum, das bald auf die Bühne rollt und träumt vom fernen Soldaten: die Morgengymnastik findet im Militär-Modus statt, ihr Riesenteddy trägt Preußenuniform. Klaus Herzogs heimgekehrter Soldat Tellheim ist allerdings eher ein Brummbär, der sich nicht recht in das geplante Happy-End einpassen will. Schluchzend führt sie einen Freudentanz auf und schafft es, die Verkrampftheit der Adelstochter, die mädchenhafte Unschuld und ihre ironische Unterwanderung zugleich zu spielen.

minna3 280 a koehring uLeben aus Kartons: Klaus Herzog als Tellheim
© Andreas Köhring
Eine großartige Szene haben Thoma und Herzog auch, nachdem ihnen das resolut sächselnde Kammermädchen Franziska den Tisch auf dem Bett gedeckt hat: vergeblich bemüht sich der "verkrüppelte" Major mit einer Hand, die Pellkartoffeln zu schälen, graziös windet sie ihre Gliedmaßen um eine zu entkorkende Weinflasche. Herzog ist ganz verknöcherter, altväterlicher Ehrbegriff, der die Hacken beim Wiedersehen zusammenschlägt und von inneren Zwängen (und Kriegstraumata) gepeinigt ist, von denen sie keine Ahnung hat. Sie dagegen ein weltfernes, verwöhntes Audrey-Hepburn-It-Girl, eine Mischung aus unbedarftem Mädchen und bevormundender ältlicher Tante, die ihm so fürsorglich wie übergriffig die Kartoffeln zerteilt. Das kann nichts werden mit den beiden.

Verliebt sieht anders aus

Karin Neuhäuser, die in Mülheim mit Shakespeares Was ihr wollt vor gut einem Jahr schon einen großen Erfolg feierte, hat in ihrer "Minna" viele Register eines Boulevard-Krachers gezogen. Ein komisches Ereignis ist Dagmar Geppert als bodenständige, sächselnde Kammerzofe Franziska mit pinken Spangen und rosa Ballett-Rock, die nie ein Blatt vor den Mund nimmt und auch gerne mal einen Schluck nimmt. Rülpsend verliest sie den Brief, in dem der unehrenhaft verlassene Major wieder in Amt und Würden eingesetzt wird und fällt danach schnarchend in den Schlaf. Ihre rustikale Mädchenhaftigkeit ist ein toller Gegenentwurf zu Simone Thomas blasiert-blassem Fräulein. Und auch Steffen Reuber als spitzelnder Gutmensch-Wirt mit Uralt-Kassettenrecorder und haarigem Mikro regt zu mancher Slapstick-Szene an.

Selten so gelacht, allein: Was soll hier eigentlich erzählt werden? Die Unmöglichkeit der Liebe zwischen Mann und Frau, weil sie nie so gleich sein können, wie Lessing das verlangte ("Gleichheit allein ist das Band der Liebe")? Die moralische Heruntergekommenheit einer Gesellschaft nach einem Krieg, in der Geld alles Sein bestimmt und jeder jeden kontrolliert? Zum Schluss sitzen der Major und das Fräulein apathisch Händchen haltend auf dem Bett. Verliebt sieht anders aus. Einen politisch-aktuellen Ansatz kann man an diesem Abend nicht so klar erkennen, es ist eher eine psychologische Studie über Kontrolle und Kontrollverlust, Selbst- und Fremdbilder. Aber auf jeden Fall hat man sich prächtig amüsiert.

 

Minna von Barnhelm
von Gotthold Ephraim Lessing
Inszenierung: Karin Neuhäuser, Bühne: Gralf-Edzard Habben, Kostüme: Alexander Schulz, Musik: Matthias Flake, Dramaturgie: Sven Schlötcke.
Mit: Klaus Herzog, Simone Thoma, Dagmar Geppert, Volker Roos, Steffen Reuber, Petra von der Beek, Fabio Menéndez, Thomas Hoppensack.
Dauer: 2 Stunden, 5 Minuten, keine Pause

www.theater-an-der-ruhr.de



Kritikenrundschau

"Es ist ein höchst unterhaltsamer Abend mit großer Liebe zum ausgefallenen Detail geworden", schreibt Steffen Tost in der Neuen Ruhr / Neuen Rhein Zeitung (14.12.2012). Wie bereits im "Woyzeck" würden auch hier "Rollen gegen den Typ besetzt, was erneut zu überraschenden und überzeugenden Ereignissen führt". Wie Tellheim und Minna "sich nicht verstehen und aneinander vorbeileben", sei "das eigentliche Thema, das Karin Neuhäuser interessiert". Von Szenenapplaus für das Spiel der Akteure wird berichtet. Und auch Ministerpräsidentin Hannelore Kraft habe sich "prächtig" amüsiert.

Klaus Stübler schreibt für das Onlineportal der Ruhrnachrichten (13.12.2012) über die "zwei äußerst kurzweiligen Stunden": Karin Neuhäusers Inszenierung "treibt ein lustvolles Spiel mit den Facetten des Lustspiels: Verkleidung, Scherz und witzigen Charakteren. Dabei lässt sie statt eines typenhaften Komödien-Personals Menschen aus Fleisch und Blut auftreten."

 

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