Volkshasser mit Stimmvieh

von André Mumot

Berlin, 13. Dezember 2012. Politikverdrossenheit der Wähler – kennen wir. Und die Wählerverdrossenheit der Politiker ist auch nichts Neues. Der stellvertretende Bild-Chefredakteur Nikolaus Blome hat letztes Jahr ein Buch darüber geschrieben ("Der kleine Wählerhasser") und Shakespeare (vermutlich um 1608 herum) ein Stück. Sein "Coriolanus" hat nichts am Hut mit den Bürgern "da unten". Er ist Kriegsheld und elitärer Demokratieverächter, ein provozierend unzugänglicher Tragödienprotagonist, der nur die großen Gesten gelten lässt und keine Kompromisse, der nicht geschaffen ist für die Realpolitik und damit auch nicht fürs Happy End.

Kabarettismus

An diesem Abend steht Judith Hofmann in den Kammerspielen des Deutschen Theaters in schwindliger Höhe und wendet sich mit Unbehagen ans Volk. Sie gibt mit störrischem Ingrimm den gefeierten Feldherrn, dessen Ernennung zum Konsul nur noch durch die Wählerschaft abgesegnet werden muss. Und weil es Sitte ist, zum Wahlkampfhöhepunkt die frisch geschlagenen Wunden zu zeigen, zieht sie sich das Kleid über den Kopf und pult sich die großformatigen Pflaster von der Haut, unter denen dann eindrucksvolle Kunstblutverletzungen zum Vorschein kommen.

coriolanus 1353 280 arno declair hJudith Hofmann als Coriolanus  © Arno DeclairEs bereitet einiges Vergnügen, ihr dabei zuzusehen, wie sie sich windet, wie sie das Publikum mit schlecht verhohlenem Ekel und oft gehörten Phrasen direkt anspricht, um Stimmen buhlt, Kanzlerinnengesten aufscheinen lässt. Wie sie ihre Haut zu Markte trägt und freimütig anbietet, alles zu sagen, was der Pöbel von ihr hören will. Dabei muss sie auch noch Zwischenrufe aus dem Publikum abwehren und sich den Text einsagen lassen, und all das schwingt sich zu einer garstig funkelnden kabarettistischen Einlage auf, die kurz das Gefühl aufkommen lässt, dies könnte doch noch ein unterhaltsamer Abend werden.

Aber abgesehen von der Behauptung, dass Politiker, die Erfolg haben wollen, sich eben permanent verstellen müssen, hat Regisseur Rafael Sanchez im Folgenden dann doch nicht viel zu sagen. Aus der verschlungenen Dialektik von Shakespeares Tragödie, aus seinen Klassenkampfverstrickungen und dem zynischen Ausspielen aller gegen aller, weiß er jedenfalls kaum szenisches Kapital zu schlagen.

Neutralisierende Besetzung

Schon dass bei ihm Krieger und Politiker, Volk und Mütter, Kinder und Kuriere allesamt von fünf Darstellerinnen verkörpert werden, die sich mal eben Bärte und Perücken auf- und absetzen, erzeugt nicht die erwartete Reibung, sondern eine eigenartig stumpfe Neutralität. Kein männliches Rollenverhalten wird ernsthaft aufgespießt, keine erhellenden Verfremdungen ausprobiert. Stattdessen muss das tapfere Quintett (vor allem Susanne Wolff ist immer wieder großartig in ihrer rabiaten Eindringlichkeit) ohne erkennbare Richtung vor sich hin ackern: Gemeinsam wird probehalber gesungen und getanzt, Luft-E-Gitarre gespielt, auf infantile Weise werden Tiere dargestellt und vor allem auf Simeon Meiers Bühnenbild herumgekraxelt.

Unzählige kleine Holzquadrate bedecken eine undurchdringliche Front, und jedes einzelne von ihnen lässt sich nach vorn ausfahren, so dass, ganz nach Bedarf, Treppen, Balkone, Brücken und Abgründe aus schmalen Balken entstehen, über die dann auch noch gelegentlich machtvolle Videoprojektionen laufen: donnernder Wahlkampfpomp und Schwertkämpfe in schwülstiger Rollenspieloptik.

coriolanus1 560 arnodeclair hvon links: Natalia Belitski , Susanne Wolff, Barbara Heynen, Jutta Wachowiak  © Arno Declair

Vereinfachende Parteinahme

Große Erregungen oder Sympathien löst all das nicht aus. Vielleicht auch deshalb, weil Sanchez unnötig einseitig für Coriolanus und seine Unfähigkeit zur Anpassung Partei ergreift. Das Volk wird dagegen von Anfang an als oberflächliches Stimmvieh denunziert, dessen soziale Gerechtigkeitsideen sich (wenig originell) nur kurz zwischen hedonistische Tanzeinlagen entladen. Die politischen Vertreter sind dümmliche Demagogen ohne jeden Anstand, und nur Coriolanus wird bis zum Ende edle Tragik und nachdenkliche Größe zugestanden. Judith Hofmann leidet innig als Ausnahme-Charismatiker, der zwar das Volk hasst, dieses Volk aber, wie eine der Figuren ehrerbietig nahelegt, immer noch besser zu führen imstande wäre, als die korrupte Schicht der Berufspolitiker. Nein, man mag lieber nicht weiter darüber nachdenken.

Anstatt die Absurdität der Ränke, das beliebige Wechseln der Kriegsparteien, die fragwürdige Hohlheit der Heldenverehrung am Kragen zu packen, gestattet Sanchez am Ende nur noch bleiernes Aufsage-Pathos, mit dem die Darstellerinnen sich am von Andreas Marber neu übersetzten Text entlanghangeln. Der große Mann und Wählerhasser, der an diesem Abend zufällig eine Frau ist und nur sehr wenig mit uns und unserer Zeit zu tun zu haben scheint, opfert sich am Schluss, und man ist dann auch ganz froh, dass es ein Ende hat mit all den gravitätisch nachklingenden Worten. Zur Politik- und Wählerverdrossenheit ist nach gut zwei Stunden längst die Tragödienverdrossenheit hinzugekommen. Und die hätten wir nun wirklich nicht auch noch gebraucht.

 

Coriolanus
von William Shakespeare, Deutsch von Andreas Marber im Auftrag des Deutschen Theaters
Regie: Rafael Sanchez, Bühne: Simeon Meier, Kostüme: Camilla Daemen, Musik: Cornelius Borgolte, Video: Sebastian Purfürst, Dramaturgie: Sonja Anders.
Mit: Judith Hofmann, Susanne Wolff, Natalia Belitski, Barbara Heynen, Jutta Wachowiak.
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de

 

Kritikenrundschau

"Coriolanus" sei "ein sehr schwieriges Stück; wer sich damit beschäftigt, muss gute Gründe und einen langen Atem haben", konstatiert Irene Bazinger in der Frankfurter Allgemeinen (15.12.2012). Am Deutschen Theater sei "Coriolanus" indes "überhaupt nicht mehr schwierig, sondern zur empörenden Banalität geschrumpft", es werfe die nur die "einzige, dafür um so drängendere Frage auf: Warum bloß hat Rafael Sanchez das Stück zu inszenieren versucht?" Die Aufführung sei "ohne jede Idee, Inspiration und Leidenschaft", und auch die Darstellerinnen könnten "wie die ganze pathetische Musik, die aufwendigen Filmeinblendungen und abgedroschenen Spiel- und Sporteskapaden nicht über gähnende Leere und arrogante Dreistigkeit dieser überflüssigen Veranstaltung hinwegtäuschen."

Der Anfang sei so blöd, da könne "es nur noch besser werden", meint Matthias Heine in der Welt (15.12.2012). "Und es wird. Auch weil Sanchez im Laufe der zwei Stunden zunehmend die flachen Ideen ausgegangen sind. Mehr und beschränkt er sich darauf, die Römer-Damen auf den Balken des Bühnenbildes von Simeon Meier turnen zu lassen." Jutta Wachowiak bringe "das Kunststück fertig, trotz lächerlicher Ozzy-Osbourne-Perücke und Sonnenbrille einen ernst zu nehmenden Aufidius (…) zu spielen." Und Judith Hofmann schaffe es "in der Titelrolle tatsächlich, einen dramatischen Konflikt darzustellen und nicht bloß Kasperinnentheater".

Da "die kalkulierte Inszenierung von Volksnähe und die, jawohl, allgemeine Politikverdrossenheit ja irgendwie tagesaktuell anschlussfähig" seien, unternehme Sanchez "halt eine diffuse Semi-Vergegenwärtigung", meint Christine Wahl im Tagesspiegel (15.12.2012). Andreas Marber habe die Shakespeare'sche Sprache "in Richtung Drehbuchdeutsch entschnörkelt", die Aufführung wiederum wirke "weniger differenziert als vielmehr beliebig: Je nach Schauspielerinnenlaune, so scheint es, wird von Pathos zu Parodie und gelegentlich auch mal in den Songmodus geswitcht." Christine Wahl kommt zu einer düsteren Zeitdiagnose: "Die Bedienung aus einem zeitgeistigen Formenpool, der inhaltlich oft nur bedingt zwingend erscheint, ist leider nicht untypisch für das aktuelle Stadt- und Staatstheater."

Dieser "Coriolanus" sei "ein hervorragendes Beispiel für ein zum Klischee gewordenes, so geschimpftes Regietheater, obwohl es gerade nicht die handelsüblichen Klischees bedient (Nudeln, Nackte etc.)", schreibt Dirk Pilz in der Berliner Zeitung/Frankfurter Rundschau  (15.12.2012). Denn die Inszenierung scheine das Stück "als Hopsvorlage für die allerkürzesten Gedankensprünge zu gebrauchen, was den unguten Eindruck erweckt, dass man sich sowohl dem Text als auch dem Stoff allenfalls im Schnelldenkgang gewidmet hat." Die Darstellerinnen würden "wie Figurenleiharbeiter durch die Szenen geschubst", und die Dramaturige meine offenbar, "das Inszenierungsgeschäft sei schon getan, wenn man laut genug mit dem Aktualitätsbeutel klingelt".

Die reine Frauen-Besetzung trage "nicht zu einem tieferen Rollen-Verständnis bei", meint Peter Hans Göpfert auf rbb Kulturradio (14.12.2012). "Aber der Besetzungsdreh ist nicht das einzige Korsett, in das Sanchez das Drama presst." Angesichts des Bühnenbildes hofft Göpfert, dass alle Darstellerinnen "genügend berufsunfallversichert sind". Außerdem gebe es "keine Kostüme, die die Figuren typisieren und unterscheiden geschweige vermännlichen."  Das Ganze sei "verlorene Liebes- und Gedankenmühe. Ein einziger verkorkster Regie-Bühnenbild-Dramaturgie-Quark."

 

Kommentare  
Coriolanus, Berlin: belanglos
Es ist eigentlich schon erstaunlich, wie es Rafael Sanchez gelingt, ausgerechnet Coriolanus, diesen so ambivalenten Macht- und Demokratiediskurs, zu einem derart belanglosen, jeglichen interpretatorischen Ansatz und jegliche Haltung verweigernden Abend mutieren zulassen. Zweifellos sieht man Judith Hofmann, Susanne Wolff und Jutta Wachowiak gern zu, nur schleicht sich irgendwann der Eindruck ein, Sanchez wäre der Ansicht gewesen, das würde schon ausreichen. Tut es nicht. Nicht einaml im Ansatz.

Komplette Kritik: http://stagescreen.wordpress.com/2012/12/15/wurfelspiel-mit-funf-damen/
Coriolanus, Berlin: grandiose Deutung
Wie überaus erstaunlich, hier nur negative Stimmen zu hören: in meinen Augen ist es eine grandiose Deutung des Shakespeare-Materials mit zahlreichen Anleihen bei populären Science-Fiction-Filmen von Star Wars bis "The Cube", einem semi-populären kanadischen B-Movie des Regisseurs Vincenzo Natali. Das bewegliche Holzklötzchen-Bühnenbild zitiert das zentrale Motiv dieses Films: eine Gruppe von 5 Personen, die in einem gigantischen Würfel von universalen Ausmaßen à la Rubik's Cube gefangen ist. Sie haben keine Vorgeschichte und überleben den Kampf gegen die Maschinerie nicht. Bis zum Ende bleibt ebenfalls unklar, ob es eine fremde, bösartige Macht ist, die diesen gigantischen Würfel steuert (göttlich oder satanisch), der Würfel eine abgeschlossene Entität ist, die sich aus sich selbst steuert, bei der es kein "da draußen" mehr gibt oder ob es eine Art im All schwebender Todesstern mit einem besonders perfiden System zur Tötung von Systemgegnern / unerwünschten Personen o. ä. ist, das den Deliquenten zumindest die Möglichkeit suggeriert, einer solchen Todesstrafe dadurch zu entkommen, dass sie versuchen, das System zu verstehen. Die Kammern des Würfels erreicht man über plötzlich sich öffnende Türen, diese Kammern im System Würfel verschieben sich wie bei Rubik's und eröffnen so neue (Aus-)Wege im Inneren des Würfels. Das Geräusch, mit dem sich die Würfelkammern verschieben, wird bei "Coriolanus" beim Ausfahren der Holzstege aus der Bühnenwand eingespielt (es ist sehr charakteristisch und daher deutlich erkennbar). So wie Rafael Sanchez diese Zitate aus dem Populärwissen bekannter Science-Fiction-Blockbuster anreißt (auch "Herr der Ringe" schien mir durchzuscheinen), benutzt er Shakespeares Tragödie als Schablone, als Abziehbildvorlage für sein Stück. In dessen Zentrum meiner Ansicht nach sehr gut herausgearbeitet wurde, wie Prinzipien der Popularität - sei es eines Filmes, der zum Kassenschlager wird, wie auch eines Politikers, der sich im Wahlkampf bewegt - funktionieren. Zu Shakespeares Zeiten wie auch heute. Insbesondere die Frage der Integrität treibt die agierenden Personen um: wie PolitikerIn sein, das Spiel um die Macht mitspielen und andererseits sich selbst und seinen eigenen Werten treu bleiben? Weil man daran glaubt, an entscheidender Stelle sehr viel gutes bewirken zu können. Sehr deutlich sind hier die Parallelen zum amerikansichen Wahlkampf, zu Obama als "good boy", der vom System der Politik benutzt, durchgekaut und wieder ausgespuckt wird, bis kaum eines seiner humanitären Ziele mehr übrig ist (so der Tenor einiger poitischer Analysen der Zeit im November '12). Die Probenzeit von Coriolanus fiel genau in den Zeitraum der amerikanischen Wahl. Dies löst Sanchez zu weiten Teilen über das Stilmittel der Karikatur auf, andererseits aber auch mit dem klassischen Tragödienelement der Einfühlung/Katharsis. Was daran belanglos sein soll, erschließt sich mir nicht. Der Spannungsaufbau ist derart beklemmend und martialisch (sic!) auf den Punkt gebracht, dass man nach dem Schlussapplaus froh ist, wieder an die frische Luft zu gelangen, auch weil man dem aussichtslosen Kampf von Caius Martius kaum mehr zusehen kann, der mehr und mehr zum hilflosen Spielball der Interessen anderer mutiert. Ein sehr gelungener, hervorragend gespielter Abend!
Kommentar schreiben