Leichensezierende Meyerhoffiaden

von Christian Desrues

Wien, 31. Dezember 2012. Burgtheater Intendant Matthias Hartmann erzählt in der Vorrede seinen Silvesterwitz, es wird gelacht und das Stück beginnt. Schon um 18 Uhr. Peter Simonischek, muss dananch nämlich noch in die Staatsoper, zur "Fledermaus". "Der Ignorant und der Wahnsinnige" ist ein frühes Drama von Thomas Bernhard. Jugendwerk im herkömmlichen Sinn ist es aber keines, denn es beinhaltet schon fast alle Themen, die später für Bernhard so charakteristisch werden sollten. Die Darsteller reden aneinander vorbei, dozieren, führen Monologe oder sprechen in unfertigen Sätzen, wiederholen unnötigerweise Teile des Vorangegangenen.

Der Vater und der Doktor warten in einer Garderobe der Wiener Staatsoper auf die Königin der Nacht. Die Motive des Arztes sind nicht ganz klar, aber eine Art Verehrer der Sopranistin ist er wohl doch. Diese singt an diesem Abend zum 222. Mal den Part aus Mozarts Zauberflöte, sie sieht sich selbst zur Koloraturmaschine verkommen, zwitschert dennoch oder deshalb ständig Teile der berühmten Arie. Ihr geht es nur noch um künstlerische Vollendung, das Publikum  ist ihr zumindest gleichgültig und "das Theater, insbesondere die Oper, ist die Hölle"! Sunnyi Melles spielt diese Rolle auf tragikomische, beeindruckend verlorene Weise, sie ist eine große Komödiantin, doch verspürt man ihr gegenüber in diesem Stück keine wirkliche Sympathie.

Strategien des Wartens

Der Vater ist der fast blinde Ignorant. Man erfährt, dass er unter dem ständigen Zuspätkommen seiner Tochter leidet und eigentlich seit ihrem ersten Auftritt trinkt. Er redet nicht zusammenhängend, bleibt passiver Zuseher im Mikrokosmos der Garderobe, später im Speisesaal des Restaurants. Er wiederholt zumeist nur Bruchstücke der Monologe des Arztes, nicht einmal die wichtigsten oder einprägsamsten Aussagen.

Einfach nur so herumsitzend, in stoischer Selbstvernichtung, anscheinend apathisch, stellt Peter Simonischek einmal mehr seine unglaubliche Bühnenpräsenz unter Beweis. Einige Teilsätze, ein paar Schläge mit dem Blindenstock reichen da völlig aus, um der Rolle eine Dichte zu verleihen, die nicht jeder Schauspieler aus ihr herausholen könnte. Aber reicht das, ist das befriedigend für die Betroffenen, in diesem Fall im Saal und auf der Bühne?

Ignowahn1 560 ReinhardWerner uEchte und künstliche Köpfe in "Der Ignorant und der Wahnsinnige" © Reinhard Werner

Joachim Meyerhoffs Darstellung des wahnsinnigen Doktors ist eine ganz merkwürdige Angelegenheit. Anscheinend zusammenhanglos beginnt er mit Zitaten und Beispielen aus einem pathologisch-anatomischen Einführungskurs. Er erklärt, auf extrem anschauliche Weise und mit teilweise großem Vergnügen, verschiedene Arten der Leichensektion. Dann aber kommt der Verdacht auf, dass ihn seine eigenen Schilderungen langweilen oder er sie bloß herunterleiert, um die Langeweile, oder besser gesagt, die Nichtkommunikation mit dem Vater und das Warten auf die Königin der Nacht erträglicher zu machen.

Obsessionen, Ängste, Zweifel

Fast wie ein Gaukler erledigt Meyerhoff diese Aufgabe, mit großem körperlichen und sprachlichen Einsatz. Er spielt seine ganze Virtuosität aus, wenn er die nicht einfachen Texte und Ausführungen ohne einen Patzer aufsagt. Zweifellos entstehen dadurch komische Aspekte, sie lassen aber auf sich warten.

Ignowahn2 280 ReinhardWerner u© Reinhard WernerDie erste Stunde der Aufführung vergeht nur langsam. Spannung kommt keine auf, während der Doktor sich abmüht. Komik für einen kurzen Moment, als Stefan Wieland als sehr dünne Garderobiere Frau Vargo wortwörtlich aus den gelungenen Kostümen (Kathrin Plath) tritt. Die schlichte Bühne von Stéphane Laimé ist praktisch und stimmig: Eine Garderobe voller Spiegel, in denen sich die Darsteller in ihrer Eitelkeit reflektieren, und danach ein Restaurantsaal, in dem sie sich zu verlieren drohen in der Tiefe der Bühne und in ihrer Hilflosigkeit. Die zweite Stunde ist dichter, packender. Der Zuseher beginnt die ganze Tragik der Figuren von Thomas Bernhard zu spüren. Man darf sich fragen, warum Regisseur Jan Bosse so lange damit gewartet hat, die Obsessionen und Ängste, die Zweifel und die Niedertracht der Personen aufzuzeigen.

Komik an der falschen Stelle

In vielen seiner Stücke und Texte zeigt Thomas Bernhard beißenden Humor, mehr als die Kritiker anfangs wahrscheinlich wahrhaben wollten, aber er ist mit Sicherheit kein Vaudeville-Dramatiker, wie es hier die Inszenierung stellenweise glauben machen will. Natürlich entsteht durch das Aufzeigen der Schwächen, Leiden und Zwängen der Figuren etwas Lachhaftes, aber "der Ignorant und der Wahnsinnige" ist ein trauriges, pessimistisches Stück, demnach also nur beschränkt für eine "heitere" Silvesteraufführung geeignet. Der mehr als höfliche Applaus galt der zweifellos großen Leistung der Schauspieler.   
 

Der Ignorant und der Wahnsinnige
von Thomas Bernhard
Regie: Jan Bosse, Bühne: Stéphane Laimé, Mitarbeit Bühne: Katharina Faltner, Kostüme: Kathrin Plath, Musik: Arno Kraehahn, Licht: Peter Brandl, Dramaturgie: Gabriella Bußacker. Mit: Sunnyi Melles, Peter Simonischek, Joachim Meyerhoff, Stefan Wieland.

www.burgtheater.at

 


Kritikenrundschau

Gerhard Doppler schreibt auf der Internetseite von Deutschlandradio Kultur (1.1.2013): "Ein wenig zu direkt" erötere Bernhards Frühwerk "existentialistische Fragen", es sei "ein wenig zu konstruiert". Es zeige den abgründigen und sehr komödiantischen Übertreibungs- und Erregungskünstler, den das "vergnügungssüchtige Silvester-Premierenpublikum sich erwartet habe, noch nicht so deutlich. Doch "irgendwie langweilig und müde" wirke diese Inszenierung, zumal Regisseur Jan Bosse sich kaum bemerkbar gemacht habe. Zwar gefalle das Bühnenbild, etwa der Wirtshaustisch, der mit der darauf liegenden Sängerin am Schluss wie "das Rembrandt'sche Anatomiebild beleuchtet" erschien. Doch die Theaterkatastrophen und Provokationen seien nur angesprochen, kaum theatralisch ausgekostet worden. Und die Schauspieler schienen allein gelassen. Peter Simonischek habe sich "keine Mühe gegeben" seiner Rolle "Eigengewicht" zu verschaffen. Sunnyi Melles Stimme traue man kaum große Arien zu. Und Joachim Meyerhoff schien "keinen Ton für den Bernhardsche Erregungstexte" gefunden zu haben.

Norbert Mayer erzählt auf der Internetseite der Wiener Tageszeitung Die Presse (1.1.2013, 18:35 Uhr) erst einmal, wie der berühmte Dirigent Josef Krips 1950 dem vorsingenden Thomas Bernhard empfohlen habe "lieber Fleischer zu werden". Reflexe dieser Kränkung fänden sich auch im Stück, wo der Arzt sagt, dass der Dirigent bei der "Zauberflöte" wie ein Fleischhauer agiere. Mayer findet das 40 Jahre alte Stück "noch immer großartig, wenn es so intensiv wie hier gespielt" werde. Jan Bosse habe "mit viel Gespür für Bernhards Musikalität inszeniert". Meyerhoff biete im Übermaß die für seine Rolle erforderliche "Wachheit und Intelligenz und Geschmeidigkeit im Ausdruck", er setze die Pointen genau. "Kunstvoll zurückhaltend und doch stark präsent" ergänze ihn Peter Simonischek, Sunnyi Melles spiele die Sängerin "herrlich überspannt", sie sei "tatsächlich eine Erscheinung und jeden Zoll eine Königin", die Rolle, die das "Verletzliche, Überspannte und Tragische einschließt", passe ihr perfekt. Stefan Wieland gewinne der Doppelrolle als Garderobiere und Kellner "sinnvoll Bizarres" ab – kurz: Schauspieler und Regisseur "haben einen Klassiker erfolgreich belebt".

Margarete Affenzeller macht in der Tageszeitung Der Standard (2.1.2013) darauf aufmerksam, dass Bosse [wieder einmal wie schon bei "Wer hat Angst vor Virginia Woolf?" am Burgtheater] eingesprungen wäre. Ursprünglich sei eine Trinkerinnentragikomödie von Thomas Vinterberg angesetzt gewesen. Bosse sei bewusst gewesen: An Bernhard könne man nicht "groß herumdoktern", aber es könne gelingen, "ihn aufzupolieren". So mache Simonischek als der Vater mit dem Blindenstock "Terror", während Meyerhoff als Doktor ein "artifizielles Ungeduldstänzchen" vollführe, bei Bedarf seine "nervösen Kniegelenke" verknote oder die Hose seines redefaulen Gesprächspartners "zum Quietschen" bringe. Wenn Sunnyi Melles dann aus ihrem Kleiderschrank trete, ergebe sich die Inszenierung dem, wenn auch recht edlen "Schabernack". Bosse ziehe die Sätze Thomas Bernhards ins Klamaukige. Das beeinträchtige die Sprache in ihrer eigenen Künstlichkeit erstaunlicherweise nicht. Es bleibe ein Vergnügen, dem Fatalismus der Bernhardschen Monologe zu folgen. Erfolgreich aufpoliert, habe dieses Stück "immerhin ein wenig gestrahlt".

Ulrich Weinzierl vergleicht in der Welt (2.1.2013) Bosses Inszenierung mit der Uraufführung von Claus Peymann. Obwohl sie, "dank fulminanter Besetzung", das "Zeug gehabt, an das Vorbild heranzukommen", könne sie dem "nicht das Wasser reichen". Bosses Regie zwinge den virtuosen Sprecher Joachim Meyerhoff in "einer Art Horror Vacui zu einer erdrückenden Fülle manierierter Gesten und Aktionen, die auf Dauer niemanden interessieren und vom Eigentlichen ablenken". Peter Simonischek – "hergerichtet als Doppelgänger von Marlon Brandos Don Vito Corleone im "Paten" " - müsse mit seinem Blindenstock "wild um sich schlagen und sonstige Allotria treiben". Erst Sunnyi Melles' Erscheinen bringe die Wende zum Guten. "Schon wenn sie sich einträllert, mit Tee gurgelt, girrend lacht, ist das ein Ereignis." Die "äußerste Anspannung einer disziplinierten Hysterikerin" passe ihr wie angegossen. Plötzlich gelängen auch Bosse szenische Lösungen, "die – statt ein Menschendrama zu simulieren, wo lediglich ein Sprachkonzert ist – dramatische Wucht und böse, grausame Komik entwickeln".

Martin Lhotzky befindet in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (2.1.2013): Dieser zu Recht selten aufgeführte frühe Bernhard tauge nur gering zur Unterhaltung, strapaziere eher die Nerven selbst eines "wohlmeinenden Publikums". Um aus der Ödnis der Monologe zu retten, bedürfe es mehr als einer "singenden, schwingenden Königin der Nacht", auch wenn Sunnyi Melles ihre "ganze Fahrigkeit und Nervigkeit, ihre schrillste Stimme und ihre beste Koloraturpantomimik" auffahre. Für einige Zeit sei das noch ganz witzig, die Übertreibung käme auch der Grundintention des Textes, ein "Stück absurden Theaters" zu sein, wieder "recht nahe", trage aber keine zwei Stunden. Peter Simonischek, der den Säufervater als rülpsenden Rabauken behaupten dürfe, trommele bei jeder Bemerkung, die das "als inzestuös (auch so eine Schnapsidee) angedeutete Verhältnis zur Tochter" anstreife, mit dem Blindenstock auf den Schminktisch. Joachim Meyerhoff gebe den boshaft-redseligen pathologischen Mediziner als eine Variante von Doktor Seltsam aus Kubricks Bombenfilm. "Er hechelt, er schubst, er näht (das zerrissene Kleid) und neckt seinen blinden Zuhörer auf vielerlei Arten."

Christopher Schmidt schreibt in der Süddeutschen Zeitung (3.1.2013): Die Luftnummer von Sunnyi Melles bleibe der einzige Höhepunkt der Silvesterpremiere. "Eine Metapher auch für den Kunstbetrieb, der oft genug eine Hängepartie ist und manchmal eine bodenlose Unverschämtheit, in jedem Fall aber nichts anderes als ein großer Zirkus." Das Stück zähle eher zu den "misanthropischen Aufwärmübungen Bernhards". Doch sein Salzburger Schockerl tauge nur mehr als buntes Knallbonbon zum Jahreswechsel. Meyerhoff gebe mit "schütterem Resthaar des Wahnsinns schlaksige Beute". Halb Frankenstein, halb Dr. Seltsam rede er sich um Kopf und steifen Kragen, steigere sich, "ein Sprechautomat mit irrem Wackelkontakt", in sadistischen Furor hinein. Peter Simonischek sei das ganz Fat-Suit gewordene Phlegma. Nur ab und zu grunze er dazwischen, und haue mit dem Teleskopstock auf den Tisch, ein Hallo-wach-Signal für den "von Bernhards Hasslitaneien gründlich eingelullten Zuschauer". Sunnyi Melles spiele die Königin der Nacht als eine "Art Olimpia", eine Puppe, die wie "auf Autopilot Koloraturen markiert, eine wundersam hyperaktive und ferngesteuerte Kunstfigur".

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