Emil und die Detektive - Frank Castorf stellt Kästner vom sentimentalen Kopf auf schmutzige Füße
Emil und die Halbwelt-Dilettanten
von Wolfgang Behrens
Berlin, 2. Dezember 2007. Erich Kästners "Emil und die Detektive" enthält ein Prolog-Kapitel: "Die Geschichte fängt noch gar nicht an". Darin gibt Kästner so etwas wie sein ästhetisches Credo ab, und zwar ein realistisches: "das beste wird sein", lässt sich der Autor dort von einem kunstverständigen Oberkellner raten, "Sie schreiben über Sachen, die Sie kennen. Also von der Untergrundbahn und Hotels und solchem Zeug. Und von Kindern, wie sie Ihnen täglich an der Nase vorbeilaufen."
Und im Folgenden zeigt sich dann, dass die Welt, die Kästner kennt, auch eine Welt ist, die man verstehen kann: Er scheidet fein säuberlich zwischen gut und böse, die Geschichte rollt unaufhaltsam auf ihr voraussehbares Happy End zu.
Man muss Übergänge schaffen, sagt Emil
Auch Frank Castorf mag in seinen Inszenierungen von Dingen erzählen, die er kennt – und jedenfalls erzählt er nicht von einem Jungen im blauen Sonntagsanzug, sondern von einem mit rotem Anorak und cooler Rapper-Pudelmütze. Doch sein Credo hält das Fein-Säuberliche auf Abstand – mitten in seiner "Emil und die Detektive"-Version an der Berliner Volksbühne (die ab 17 Jahren, eine ab 9 wird einen Tag später folgen) lässt Castorf den kleinen Emil-Darsteller David Gabel in die wieder einmal fleißig eingesetzte Handkamera hinein agitieren: "Man muss Übergänge schaffen zwischen den verschiedenen Stilen und Genres" usw.
Es klingt wie ein Echo aus dem Interview, das Castorf kürzlich Ulrich Seidler für die Berliner Zeitung gab: "Jetzt wird wieder öfter eine Klarheit, eine Reinheit auch des Stils angemahnt. Aber das fällt mir schwer, das kann ich nicht, und das will ich auch nicht." Castorf will es schmutzig.
Und so besteht Castorfs Hauptarbeit in seinem "Emil" darin, Kästners überschaubare Welt in eine des Übergangs und der Unklarheit zu verwandeln. Der Nollendorfplatz des Buches liegt nun irgendwo zwischen Döblins Alexanderplatz und St. Pauli, zwischen Moskau ("Jackpot" steht in kyrillischen Leuchtbuchstaben neben der Leinwand, die das Bild der Handkamera wiedergibt) und dem Mexiko von Robert Rodriguez (das in Filmeinspielungen daherkommt).
Detektive auf dem Alexanderplatz
Kästners Gut und Böse weicht moralischen Grautönen: In Milan Peschel fließen die Figuren des verwerflichen Gauners Grundeis, der sogar harmlose Kleinbürgersöhne bestiehlt, und des immer strebend sich bemühenden Döblin’schen Franz Biberkopf zusammen. Denn in einem mitunter ausufernden Nebenstrang erzählt Castorfs Inszenierung jene "Berlin Alexanderplatz"-Episode nach, in der Biberkopf sich gutgläubig mit der Verbrecherbande des Pums gemein macht: der Gauner als Opfer.
Bleibt der Übergang von der Erwachsenenwelt zu den Kindern, die immerhin in Dutzendzahl am Volksbühnen-"Emil" mitwirken. Die Großstadt, in der es sich die Erwachsenen eingerichtet haben, ist in Bert Neumanns Container-Bühnenbild (das Castorfs "Berlin Alexanderplatz"-Produktion entstammt) eine Halbwelt aus Bordell, Spielhölle, Rummelplatz, Box-Gym und Büdchen. Die Kinder erobern sich dieses ihnen im Grunde feindlich scheinende Terrain wie einen Abenteuerspielplatz, auf dem sie ihre Stärken – Spontaneität und Fantasie – behaupten können, auf dem sie aber genauso schnell in die Verhaltensmuster der Erwachsenen fallen: und dann sitzen sie eben auch am Spielautomaten oder stehen – wie der korpulente Petzold – plötzlich zum Amoklauf bereit, mit dem Gewehr im Anschlag.
Typen, Knallchargen und Brüllaffen
Ein schauspielerisches Niveaugefälle zwischen den jugendlichen und den erwachsenen Darstellern gibt es nicht. Das liegt nur zu einem Teil daran, dass sich die fünf Mädchen und sieben Jungen mit Verve ihrer Aufgaben bemächtigen und dabei auch gerne mal in Volksbühnen-Manier lautstark austicken. Das liegt vor allem daran, dass Castorf die Grenzen zwischen Schauspielerei und fröhlichem Dilettantismus längst aufgelöst hat.
Man wird schon sagen dürfen, dass Milan Peschel sich in seiner bisherigen Karriere als ein Darsteller von mittleren Gnaden gezeigt hat, nicht unbegabt, aber in seinen Mitteln eklektizistisch und begrenzt: Hier, in diesem Umfeld, ist er der handwerkliche Star. Denn um ihn herum toben die Unschauspieler, die Typen und Originale, die Knallchargen und Brüllaffen. Michael Schweighöfer spielt Emils Oma dämlich travestierend und dauerlaut mit Thierse-Bart, Kopftuch und Baseballschläger; Volker Spengler spielt Volker Spengler; und die schauspielerische Leistung der Damen Luise Berndt und Ewa Mostowiec ist nach konventionellen Maßstäben eigentlich gar nicht bestimmbar.
Ratloses Fazit
Aber Castorf will es ja schmutzig, und ein Schuft, wer ihn deshalb kritisiert! Und so wird Kästners irgendwie noch heile Welt zweieinhalb pausenlose Stunden lang – endlos lange Stunden! – nach allen Regeln der Kunst und Nicht-Kunst in die ästhetische Anarchie gejagt. "Lässt sich daraus was lernen?" fragt Kästner in seinem letzten Kapitel. Bei Castorf lautet die Antwort wohl: "Nein."
Emil und die Detektive
nach Erich Kästner unter Verwendung von Texten aus
Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz"
Regie: Frank Castorf, Bühne und Kostüme: Bert Neumann, Dramaturgie: Dunja Arnaszus, Licht: Lothar Baumgarten.
Mit: Luise Berndt, Georg Friedrich, Michael Klobe, Henry Krohmer, Ewa Mostowiec, Milan Peschel, Michael Schweighöfer, Volker Spengler, Catalina Bigalke, Clara Behmenburg, Zosia Coly, Jacob Funke, David Gabel, Viktor Groß, Christopher Gruner, Marcel Heuperman, Titus Hetzer, Béla Jellinek, Rosa-Rebecca Jellinek und Luise Schumacher.
www.volksbuehne-berlin.de
Kritikenrundschau
Bernhard Doppler im Deutschlandradio (Fazit, 2.12.2007) kann direkt nach der Premiere nur Gutes berichten: Frank Castorf, der zum ersten Mal mit Kindern gearbeitet hätte, sei "nicht der Versuchung erlegen, deren Welt gegen die der Erwachsenen auszuspielen oder sie als Opfer zu heroisieren". Seine Inszenierung, deren ästhetischer Ansatz die Filmübermalung sei (drei "Emil"-Verfilmungen kämen vor, Fritz Langs "M" sowie der "bei ihm unvermeidliche Tarantino"), zeugt ihm keineswegs von einer "künstlerischen Auszehrung der Volksbühne". Die "an Erich Kästner direkt anschließenden Teile" seien "komödiantisch, bisweilen kabarettistisch umgesetzt", Michael Schweighöfer, Milan Peschl und der aus Ulrich Seidl-Filmen bekannte Georg Friedrich gefielen ihm sehr.
Auf Spiegel Online (3.12.2007) und bei Christine Wahl steht die Erzählung vom Abstieg hingegen im Zentrum. Das Haus stecke "tief in der Krise, prägende Dramaturgen haben sich reihenweise verabschiedet, die einst theaterrevolutionären Mittel sind zur hohlen Form erstarrt – und von den Schauspielern, die sie zum Niederknien beherrschten und gestalteten, ist keine Handvoll fest am Haus verblieben." Die Rettung durch "Emil" im Bühnenbild von "Berlin Alexanderplatz" bliebe aus. Zwar sei es "interessant", den bösen Dieb als Wiedergänger Franz Biberkopfs zu sehen, als "schwachen Kleinkriminellen, dem es selbst ständig an den dreckigen Kragen geht", aber Castorfs "alte Theatermittel" wirken "nur noch schal und abgestanden". Die "Alt-Schauspieler" könnten die "schlaffe alte Hülle" nicht mehr füllen, die "Neuzugänge" "nerven nurmehr als Nachahmungsvollstrecker" und die Kinder seien zwar "niedlich", aber kein Konzept für Krisenmanagement.
Matthias Heine in der Welt (4.12.2007) haut in die gleiche Kerbe. Die "Ruine eines Genies" sei am Rosa-Luxemburg-Platz zu besichtigen. Castorf sei in den letzten 20 Jahren der bedeutendste Theatermann der Welt gewesen und hätte nicht nur Menschen verändert, sondern auch die Stadt Berlin. Das sei nun vorbei. Dass Castorf die Theaterkrise als Krise der Kritiker interpretiere, kann Heine in Teilen bestätigen: Tatsächlich blicke man "mit müdem Gefühl" auf die Bühne und betrachte "wehmütig" die Nachahmerinnen von Kathrin Angerer und Sophie Rois. Das derzeitige "Trauerspiel" bringt er in Zusammenhang mit der Chefdramaturgin Gabriele Gysi. "Die gescheiterte Regisseurin sitzt nun auf dem Stuhl, auf dem einmal ein kluger Stratege wie Matthias Lilienthal saß." Das Wort von der Volksbühne als "Wärmestube für verhärmte PDSler" – für "die Leitungbsebene des Hauses" stimme es jetzt.
Im Berliner Tagesspiegel (4.12.2007) zielt Rüdiger Schaper ebenfalls aufs Allgemeine. Aus dem "Sponti" Castorf, dem "großen Erneuerer des Hauptstadttheaters" sei ein "Ewigkeitsabkanzler von Helmut-Kohlschen Graden geworden". Außerdem sei (wohl ebenfalls ein Hinweis auf Gabriele Gysi) "die Volksbühne offenbar nach russischem Muster in schwer durchschaubare, semidiktatorische Verhältnisse" zurückgefallen. Die Inszenierung selbst gefällt Schaper dann aber gar nicht so schlecht. Diesseits der "tiefen Löcher", die die "unkonzentrierte Regie" lasse, funktioniere die Sache als "giftiges Weihnachtsmärchen". Die Kinder seien "wunderbar", Michael Schweighöfer und Volker Spengeler, die beiden "Brüller", auch. Trotzdem bekomme das Publikum der Volksbühne derzeit vor allem "den eigenen Alterungsprozess gnadenlos vorgeführt".
Mit eher sachlicher Ratlosigkeit blickt Katrin Bettina Müller in der taz (4.12.2007) derzeit auf die Volksbühne. An "Emil" gefällt ihr Milan Peschel als "Underdog", und dass Luise Berndt nicht nur Mutter Tischbein, sondern auch die Großstadtfrauen spielt, findet sie "keine schlechte Idee, um von Emils und Erich Kästners hypertropher Mutterliebe zu erzählen". Auch die Inszenierung der Kinder beschreibt sie mit Sympathie. Aber um diese dreistündige Arbeit wirklich zu verstehen, müsse man auch den fünfstündigen "Alexanderplatz" gesehen habe, und das scheint ihr doch ein "seltsamer Umgang mit der Ökonomie der Aufmerksamkeit" zu sein, "der aber doch eines der Probleme des Hauses recht gut illustriert: die Selbstbezüglichkeit, das Schmoren im eigenen Saft".
Dazu und zu einer Attacke im Spiegel (Ausgabe 48/2007, nicht mehr kostenlos online) hatte Müller zuvor die Chefdramaturgin befragt, die von Krise jedoch nichts wissen wollte: "'Es wird etwas geschehen, so oder so. Der nächsten Generation werden Räume geöffnet', sagt Gabriele Gysi, etwas vage die Befürchtungen abwehrend, dass alles so bleibt, wie es ist."
Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung (4.12.2007) hat sich aufs Kritisieren beschränkt: "Die Kinder spielen mit großartigem Laien-Mut. Es gibt schrille Kreischanfälle, linkische Verliebtheitsszenen – und allesamt passen sie in einen Müllcontainer. Die Erwachsenen im Milieu unterscheiden sich in der Spielweise gar nicht so sehr vom Nachwuchs. Die Frauen – Luise Berndt (Emils überforderte Mutter, die im goldenen Kleid am Alex als Hure wieder auftaucht) und Ewa Mostowiec (als gute Polin) – wirken im Vergleich zu den Kindern sogar recht blass. Milan Peschel aber pendelt als Grundeis/Biberkopf immer volle Pulle zwischen Bösewicht, der Emil ein Schlafmittel in die Cola mischt, und armem Würstchen, das am Ende in einen Teppich gerollt und entsorgt wird." Die Erich Kästner-Frage, ob man aus all dem etwas lernen könne, beantworte Castorf "mit einem schmuddeligen Nein". Dennoch "scheint durchaus die weihnachtliche Sehnsucht nach einer Welt auf, die man Kindern zumuten kann, die aber nicht auf Lügen gebaut ist".
Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (4.12.2007) startet seine Kritik wiederum mit einer ausführlichen Krisen-Suada und kolportiert auch interne Stimmen zur Chefdramaturgin Gysi, mit der man nicht reden wolle, und die Bernhard Schütz als "Politkommissarin" bezeichne. Die Inszenierung selbst findet er "vollautomatisch und selbstreferentiell". Die Kinder seien "eine Freude", aber: "Das Ganze wirkt wie eine schlechte Kopie eines Castorf-Epigonen, in der Milan Peschel noch einmal den Kleinkriminellen macht und Volker Spengler noch einmal gefährlich dröhnt."
Als "grob und schludrig zusammengebastelt" beurteilt Irene Bazinger die "Emil"-Inszenierung in der FAZ (4.12.2007). (Ihrerseits verwechselt sie dann aber Michael Schweighöfer mit Georg Friedrich...) Die Kinder "nölen, zetern, rackern sich eifrig an eingebauten Theoriebrocken ab, geraten brüllend außer sich – und sind überdies fast nie zu verstehen." – "Ist diese Aufführung reiner Zynismus mit Kindern als liebreizenden Schutzschildern, hinter denen sich der berechnende Regisseur versteckt, oder bereits die inoffizielle Demission mit dem salopp ausgedrückten Wunsch, die nächste Generation möge den Karren aus dem Dreck ziehen?" Zum Abschluss weist auch sie auf die bereits sehr lange Amtszeit Castorfs hin.
In der Neuen Zürcher Zeitung (5.12.2007) schreibt Dirk Pilz: "Aus der einst ästhetisch gesuchten Anarchie ist hier banales Chaos geworden; früher rückte Castorf der Gesellschaft mit wütender Analyse zu Leibe, jetzt hat man es mit trotzigem Parolentum zu tun." Castorf inszeniere Kästners Kinderroman vor allem, "um ihm das Happy End streitig zu machen". Emil wie Grundeis sind Opfer der Verhältnisse, bei Castorf. Die Inszenierung wolle wissen, "warum es in dieser, unserer Welt Diebe und Bestohlene, Gewinnler und Verlierer überhaupt gibt. Allerdings wird einem nichts Genaueres darüber erzählt, sondern lediglich die Schlechtigkeit der Welt beschworen." Aber soviel können Emil und die Zuschauer doch lernen: "Für den Mittellosen hält die Geld-Gesellschaft allenfalls Mitleid bereit. Das ist die Lektion, die Castorf seinem Emil erteilt."
Warum Herr Castorf bei so offensichtlicher Lustlosigkeit seinen Vertrag verlängert hat, ist mir ein Rätsel...
Ich finde die Kritik nicht "tendenziös" sondern ausgesprochen gnädig.
P.S. Herr Peschel ist kein schlechter Schauspieler, aber er macht und spielt immer das Gleiche - das ist zu Recht mal angemerkt worden - und hat mit Volksbühnenbashing nix zu tun!
den kindern vorzuwerfen, nicht jeder einsatz habe immer und sofort gestimmt passt in dieses bashing - ich fand premiere, schauspielerInnen und ganz besonders die kinder garanten für einen warhhaft schönen theaterabend.
castorf rules ok, behrens ab in die arche, nachsitzen!
Nicht die Qualitäten des Milan Peschel sind es... und auch nicht die Frage, ob eine Geschichte seit Generationen funktioniert. (Da kann man ja auch dran rütteln und der Sache einen neuen Dreh geben. - Ist ja durchaus auch mal eine, nun, Volksbühnensache gewesen.)
Was mich ärgerte war das "Untermittelmäßige", aus dem eher ein überforderter Theaterkursleiter als ein (wenigsten routinierter) Theaterprofi herausklang: "Nee, ick weeß och nich... aber stellt' Euch mal uf die Stühle hoch und tut so als ob ihr tanzen tut oder so - damit der Kleene noch im Zimmer dat Geld suchen kann..."
Und auch sonst kaum Ideen (vielleicht ist mir da aber was an einer der Stellen entgangen, die akkustisch so mau blieben) aber auch keine Chuzpe für eine Räuberpistole oder einen Takt Carmagnole. Schade eigentlich.
Man möchte Milan Peschel auf der Volksbühne nun wirklich um keinen Preis missen - und glücklicherweise ist er Castorf als einer der wenigen aus der alten Truppe (noch?) treu -, aber bezüglich der Begrenztheit der schauspielerischen Mittel hat Herr Behrens nicht ganz unrecht. Meistens ist das doch so: Peschel ist Peschel spielt Peschel. Das allerdings, das Gepeschele, macht er großartig! Wie wir ihn kennen und lieben. Über dieses wohlbekannte Rampen-Nöl-Berlinern dominiert im "Emil" allerdings ein etwas anderer Peschel: als Grundeis/Biberkopf darf er erstaunlich dunkle, gehetztäugige Seiten aufziehen - Peschel macht ernst.
Jenseits dieses einen Schauspielers, über den die Meinungen ja ruhig auseinandergehen dürfen: wo, lieber Melville, ist die Kritik bitteschön "tendenziös"? Behrens hat Recht: Ja, Castorf will es Stil-schmutzig - und wird dafür ja auch nicht kritisiert. Ja, Castorf treibt die fein-säuberlichen Heilewelt-Kategorien Kästners in die ästhetische Anarchie (lieber Christian: der Kästner-Welt wird auch mit keinem Satz hinterhergetrauert). Ja, gelernt werden soll dabei vermutlich nichts. Was wirft man dem Kritiker dabei denn eigentlich vor, dass man ihn gleich, wie der liebe Christian, auf alte Kähne und in Schulbänke verbannen will?
Habe Emil und die Detektive am Premierentag mit meinen Kindern gesehen. Wir haben soviel gelacht wie lange nicht. Das Publikum war total begeistert und es gab ziemlich oft Szenenapplaus, besonders für die Kinder, die "Grossmutter" und auch für Milan Peschel. Ich habe sehr gemocht, daß die Kinder nicht so artig wie im Weihnachtsmärchen ihren Text aufgesagt haben, sondern rotzig, frech und selbstbewusst sich streiten, sowohl untereinander als auch mit Erwachsenen. Sie haben gespielt als wären sie schon immer auf der Bühne gewesen. Ich habe Kinder noch nie in der Weise auf einer Bühne gesehen. Für mich sind diese Angriffe der Presse eine klare Kampagne. Frank Castorf ist seit NORD und EMIL wieder da, wo er aufgehört hat mit seinen grossen Dostojeweski-Erfolgen. Der Applaus von Emil hat es gezeigt. ... frage mich, in welcher Welt leben wir eigentlich? Ich schliesse mich Christian an: In einer heilen Kästner-Welt sicher nicht.
Die Halbwelt, die sich aus Bordell, Rummelplatz und Spielhölle zusammensetzt, die gibts doch gleich am Hermannplatz, aber da geht Herr Behrens wahrscheinlich nicht hin.
Und außerdem finde ich, das Behrens Peschel auch nicht wirklich runtermacht: Er war der "Star". Von "mittleren Gnaden", ok. Aber Du sagst ja selbst, dass es eine Ebene drüber gibt. Wen Behrends echt runtermacht, sind die Frauen - "nach konventionellen Maßstäbern nicht messbar". Aber das scheint keinen zu stören. Weil's stimmt?
@bertis erbe: Milan Peschel, deutscher Meister mit "Kampf des Negers" an der Volksbühne Berlin, EM Titel mit dem Film "Lenz", nächste WM ist erst 2010...
@pastorfido: behrens kritik ist nach konventionellen masstäben eigentlich gar nicht bestimmbar.
Leider kippt der letzte Satz dann wieder ganz aus der Sachlichkeit, schade. Auch da könnte man ja vielleicht konkret werden. Stattdessen: ein rächendes Zitat, klingt nett, aber es hält nicht stand, denke ich. Oder ist das Unsägliche etwa unsagbar. Nun ja, man kann wohl nicht alles nüchtern haben. Immerhin ist uns nun Peschels Kunst ein bisschen weniger rätselhaft. Mehr von sowas.
Ich werfe in den Topf: Peschel kann locker, rotzig, spontan, uneitel, prollig, maulig, wirrköpfig, schulterhängend. Außerdem: sein wankender Gang bei Emil, seine geweiteten Augen, sein großstadtvoller Blick.
@milan peschel: vielen dank! Eine Stück-Kritik auf eine Person umzujustieren ist in der Tat kränklich. Mehr Eindrücke von der Inszenierung selbst bitte!
Sie geben allerdings das sehr diskussionswürdige Stichwort "Kinderstück" ...
Petra Kohse
Ich sah mir Emil heute an. Es ist eine wunderbar frische Inszenierung.
Castorf mache bitte noch lange weiter!
Warum scheuen sich eigentlich die meisten Leute vor differenzierten Meinungen und Urteilen? Es heißt immer nur: miserabel. Und: war einfach toll. Sagt dagegen jemand: das habe ich so gesehen, und das war vielleicht so zu deuten, sagen die andern: "Hä? Bist Du dumm oder was? War's jetzt miserabel oder toll?"
Dank nochmal deswegen an gerhard, der eine wie ich finde differenzierte Charakteristik des Schauspielers Milan Peschel gegeben hat. Und nicht einfach nur "toll" gerufen hat. Oder "mittelmäßig". Oder "wunderbar frisch".
Ich bin eines der Kinder die bei Emil mit auf der Bühne stehen.
Und ich würde mich sehr freuen, wenn mehr über uns Kinder in dieser Inszenierung diskutiert wird...
Das hilft uns nämlich auch etwas weiter...
ein kleines Feedback
schreibt uns doch mal selber was. zum beispiel, ob ihr auch (wie viele erwachsene) der meinung seid, dass die inszenierung nichts für kinder ist. darf ruhig ein längerer text und kein kommentar sein.
esther slevogt
dies ist ein forum für verwickelte "erwachsene".
Wir waren mit unserem 10jährigen Sohn da. Ich fand die Inszenierung spannend. Unser Sohn war entsetzt. Ich halte diese Inszenierung definitiv ungeeignet für Kinder, sagen wir, unter 15. Die meisten anwesenden Kinder waren jedoch deutlich unter 9! Wie soll ein Kind all diese Andeutungen und Zitate ohne Kommentar eines Erwachsenen verstehen? Muss in die Menge geschossen werden? Muss im Hintergrund eun Film zitiert werden, in dem jemand brutal zusammengeschlagen und -getreten wird? Für Kinder ist das nix, als Erwachsener kann man sich schon damit auseinandersetzten. Wenn Castorf schon zwei Verionen auf die Bühne bringt, dann sollte die eine wirklich kindgrecht sein.
Also bitte nicht falsch verstehen: Kinderinszenierungen, die Kinder ernstnehmen sind auch kindgerecht - nur vielleicht nicht in dem Sinne meiner Vorrednerin.
(p.s. marcel, hi)
Wie kann man so etwas als Theater für Kinder anbieten? Das ganze Stück strotzt nur so vor Gewalt, Gebrüll und Aggressivität. Absolut überflüssig sind die Szenen mit dem Maschinengewehr und die eingespielten Filmszenen.
Interessanterweise hatte der Klassenlehrer vorher mit einigen Schülern der Klasse darüber gesprochen, wie man nicht miteinder umgeht (sich anspucken, anschreien, etc.) War natürlich eine "super Bestätigung" dessen, was vorher Thema war. Keinem der Kinder hat das Theaterstück gefallen, nicht einmal denen, die sonst schon das eine oder andere Mal gewalttätig mit anderen zu kommunizieren versuchen.
Wäre ich nicht nur Begleitung, sondern verwantwortliche Lehrerin gewesen, hätte ich mit den Schülern die Vorstellung verlassen.
Das einzig Gute, was sich aus dem Vormittag ergeben hat, war die anschließende Diskussion mit/unter den Kindern.
Man kann nur hoffen, daß den Kindern (vor allem denjenigen , die zum 1. Mal im Theater waren) nicht völlig die Lust und Neugier auf (altersgerechtes) Theater vergeht.
Und auch mir ist die Lust vergangen, mal wieder in die Volksbühne zu gehen.
Es ist doch bei Weitem nicht so, dass auf der Bühne zwangsläufig wünschens- und nachahmenswerte Zustände bzw. Verhaltensweisen dargestellt werden. Was sollten wir sonst beispielsweise mit den Shakespeareschen Bösewichten à la Richard III., Jago, Aaron etc. anfangen? Und das sind ja nur ganz wenige Beispiele von sehr vielen. Kaum ein Theaterstück handelt doch von glücklich, vorbildlich lebenden Menschen, sondern eher von den Konflikten, Widersprüchen, Dunkelheiten, Abgründen des Menschen und der Menschen untereinander. Wichtig ist doch, dass das, was auf der Bühne passiert, anregt, auch aufregt und zu einer irgendwie gearteten Auseinandersetzung führt - was ja offensichtlich auch bei ihnen der Fall war. Sie können natürlich einwenden, Theater für Kinder sei ein spezieller Fall. Ist es auch. Wo allerdings genau die Grenzen liegen, ist schwer zu sagen. Castorf ist sicher kein Pädagoge, das ist klar. Irgendwelche frohen Botschaften oder Vorbilder will er dem Publikum ganz bestimmt nicht mit auf den Weg geben. Er meint offensichtlich, dass man 9jährigen schon die ganze Schlechtigkeit der Welt zumuten könne und auch müsse. Kann man das? Muss man das? Weil alles andere schlichtweg nichts mit der Realität zu tun hat? Ich finde das eine sehr wichtige Frage, auf die ich selbst keine Antwort habe. Ab wann ist man bereit, die Illusion einer einfachen Welt (wie sie Kästner ja, mit pädagogischem Gestus, zeichnet) gegen ungeschönte Komplexität einzutauschen? Und was ist mit den Kindern, die in Verhältnisse hineingeworfen sind, die ihnen eine realistischere Sichtweise ohnehin tagtäglich aufzwingen. Wie Lilith Feuth weiter oben schreibt (Nr. 9): "Die Halbwelt, die sich aus Bordell, Rummelplatz und Spielhölle zusammensetzt, die gibts doch gleich am Hermannplatz". Ich will die Inszenierung überhaupt nicht in ihrer Gänze verteidigen, will nur sagen, dass das, was sie fordern, problematisch ist und nicht einfach als gültiger Anspruch ans Theater, auch nicht ans Kindertheater, formuliert werden kann.
vielen Dank für die Antwort, über die ich mich sehr freue, vor allem auch, weil ich mich ernst genommen fühle. Die Kritik habe ich zugegebenermaßen in einer sehr aufgebrachten(?) Stimmung geschrieben, einfach, weil die Kinder und auch die Erwachsenen völlig unvorbereitet in das Stück gegangen sind (was aber auch der Schule vorzuwerfen ist). Und ja ( siehe Kästner: "Die Menschen sind gut, bloß die Leute sind schlecht.") die Realität ist das auf der Bühne Gezeigte.
Über die Form aber kann und muß man meiner Meinung nach reden.
Und wie gesagt, das war ja das Gute daran, dass Gesprächsbedarf entstanden ist. Ich wünsche mir, daß Lehrer und Eltern dran bleiben.
Die Kinder hatten die Idee, dem Regisseur eine Brief zu schreiben und haben das in der Deutschstunde auch gleich getan.
Auf die Frage, die Sie stellen, habe ich auch keine Antwort, vielleicht wird die Antwort ja jeden Tag neugegeben .
ich fände es äußerst interessant, wenn Sie uns den Brief, den die Kinder an Frank Castorf geschrieben haben, mitteilen könnten. Das würde den Kommentaren auf dieser Seite eine wichtige (und bislang zu wenig gehörte) Stimme hinzufügen.
Herzlich wb
auch ich würde es sehr begrüßen, wenn man hier lesen könnte, was die Kinder an Castorf schreiben. Wahrscheinlich können sie letztlich am besten beurteilen, ob die Inszenierung etwas 'für sie ist'. Wenn sie uns daran teilhaben ließen, was sie dazu zu sagen haben, wäre das toll.
wie mir mein Sohn gerade mitteilet, schickt die Lehrerin die Briefe in den nächsten Tagen.
Danke für die schnelle Rückmeldung und viele Grüße!
Es freut mich sehr, dass sich eine so rege Diskussion ergibt.
die Deutschlehrerin unserer Klasse hat die Briefe direkt an die Volksbühne geschickt. Ich werde mich bemühen, Kopien zu bekommen.
Viele Grüße
wäre toll, wenn's klappt. Interesse besteht weiterhin sehr. Und danke für Ihr Engagement.
Rita W.
Hier der Brief, den mein Sohn geschrieben hat:
"Lieber Regisseur!
Ich war mit meiner Klasse 5 a der Bouché-Grundschule am 12.02.08 in ihrem Theaterstück "Emil und die Detektive". Meine Meinung möchte ich Ihnen in diesem Brief schreiben: Mir hat das Stück nicht gefallen, es wurde zu viel Gewalt verherrlicht, zu viele Ausdrücke und sexistische Szenen. Ehrlich gesagt hätte ich mir mehr von diesem Stück erwartet, da ich auch den Film gesehen habe. Ich habe auch mitbekommen, dass eine Klasse in der Pause gehen wollte und auch gegangen wäre, wenn man ihnen die Jacken gegeben hätte. Und es hat keinem der Klasse gefallen und auch den Lehrern nicht! Ich wollte Sie fragen, was Sie sich bei diesem Stück als Regisseur gedacht haben? Ich verstehe auch nicht die Eltern, die ihre Kinder da mitmachen lassen. Ich persönlich würde es nicht weiterempfehlen.
bitte schreiben Sie uns zurück! Danke schön!"
Viele Grüße und danke für den wirklich spannenden Gedankenaustausch! Myriam
erstmal vielen Dank dafür, dass Sie uns hier den Brief Ihres Sohnes zur Verfügung gestellt haben. Wirklich.
Ich muss mich meinem Vorredner allerdings darin anschließen, dass ich aus dem Brief kaum die Sicht eines 5.-Klässlers herauslesen kann (oder haben sich die 5.-Klässler in den letzten Jahren so rasend gewandelt?). Kann es sein, dass die Kinder diese Formulierungen in den Gesprächen mit den Erwachsenen/Eltern/Lehrern über das Stück übernommen haben? Das ist ja nicht unwahrscheinlich. Wenn dem so ist, sagt das allerdings leider nicht allzu viel darüber aus, was genau sie an dem Stück irritierend gefunden haben / was sie gestört hat. Nun ja, Sie wissen ja, in diesem Forum können eigentlich alle schreiben, auch 5.-Klässler... Übrigens bittet unter 38. auch eines der mitspielenden Kinder um Feedback.
Mich würde außerdem interessieren, was Sie als Mutter finden, ab wann man Kinder die 'schlechte Welt' nicht mehr ersparen kann/darf. Weil Sie ja sagten, das auf der Bühne Gezeigte sei durchaus die Realität, über die Form aber müsse man streiten. Gehört die Realität nicht aufs Theater? Welche Form wäre gemäß?
Außerdem frage ich mich, wie Kinder eigentlich auf solche Elemente wie die Oma mit Bart, den plötzlich an die Rampe tretenden Erzähler oder den ständig zwischen den Kindern umherwuselnden Grundeis halten, den sie bei Kästner doch eigentlich klammheimlich verfolgen. Wie kommen sie mit diesen 'verfremdenden' Elementen zurecht?
Ich spiele selber bei EMIL mit und mir gefällt die Inszenierung sehr gut. Am Anfang war es schwer sich reinzuspielen in diese andere "Theaterspielweise", doch nachdem wir aus dramatogischer Sicht erklärt bekommen haben und auch von Frank Castorf erklärt bekommen haben, was er sich bei seiner Inszenierung gedacht hat, war es sehr schön zu spielen. Und es war auf jeden Fall eine sehr sehr schöne Erfahrung und ich freu mich jedes mal aufs neue auf die Bühne zu gehen, und zu spielen....
(p.s. hi tim)
Die besten Castorf-Inszenierungen:
1. Das trunkene Land (Volksbühne)
2. Die schmutzigen Hände (Volksbühne)
3. Der Bau (Karl-Marx-Stadt)
4. Dämonen (Volksbühne)
5.John Gabriel Borkmann (Deutsches Theater)
6. Endstation Amerika (Volksbühne)
7. Miss Sarah Sampson (München)
Die miesesten Castorf-Inszenierungen
1. Der Auftrag (Berliner Ensemble)
2. Fuck off, Amerika (Volksbühne)
3. Terrordrom (Volksbühne)
4. Dickicht der Städte (Volksbühne)
5. Emil und die Detektive (Volksbühne)
Schreibt auch Listen, dann machen wir hier das ultimative Castorf-Ranking. Yeah!
1.John Gabriel Borkmann/Nationaltheater Oslo
2.Mysterium Buffo/Volksbühne
3.Die Tragödie des Macbeth/Theater Magdeburg
4.Die bitteren Tränen der Petra Kant/Burgtheater
5.Being Lawinky/Schauspiel Frankfurt
6.Orlando furioso/Magdeburg
7.Romeo und Julia/Burgtheater
Diese Liste stellt nur eine Auswahl dar.
1. "Pension Schöller/ Die Schlacht" (Volksbühne)
2. "Raststätte" (Deutsches Schauspielhaus)
3. "John Gabriel Borkmann" (Deutsches Theater)
4. "Paris Paris" (Deutsches Theater)
5. "Teufels General" (Volksbühne)
und Sebastian Hartmann ist ein uninteressanter Epigone !
1. "Maria Stuart" (Düsseldorf) Inszenierung des Jahres
2. "Die Gottlosen" (Maxim Gorki Berlin)
3. "Wahlverwandtschaften" (Zürich)
4. "Jeff Koons" (Hamburg)
5. "Seidener Schuh" (Bochum)
"verlisten" - regt doch mal die spiegel-theater-bestzeller-liste an...da lesen es auch die, die sich für solche listen interessieren.
auch finde ich sprüche wie "uninteressanter epigone"
irgendwie daneben.
als "alte theaterhäsin" schaue ich da schon genauer hin und ich sehe durchaus eigene, charismatische inszenierungen, sowohl bei hartmann, bachmann, castorf. nicolas stemann habt ihr "lister" ganz vergessen. naja vielleicht greift das thema mal jemand von "theater heute" und promoviert darüber. viel spaß noch !
Also die Top 4 Stemänner:
1. Das Werk (Burgtheater)
2. Hamlet (Hannover)
3. Ulrike Maria Stuart (Thalia Theater)
4. Don Karlos (Deutsches Theater)
Bei Bachmann fehlt meiner Ansicht nach noch:
6. Lila (Theater Affekt)
7. Triumph der Illusionen (Hamburg)
Und bei Castorf liegt nach Abgabe zweier Listen "John Gabriel Borkmann" in Führung. Wer schickt weitere Castorf-Lieblingslisten?
1. Dämonen
2. Erniedrigte und Beleidigte
3. Endstation Amerika
4. Herr Puntila und sein Knecht Matti
5. Des Teufels General
6. Forever Young
7. Schmutzige Hände
8. Pension Schöller/Die Schlacht
9. Trainspotting
10. Kokain
Mh. Ganz schon nostalgisch so eine Liste. Wo sind sie hin, die guten Castorf-Zeiten? Soll ich mir "Fuck off, Amerika" überhaupt anschauen?
(Friedensreich Hundertwasser)
Viele Grüße, Petra Kohse
Petra Kohse
heiteres und die schauspieler sind ein "gutes team" - ein grosses miteinander auf der bühne....leider verpasse
ich aus krankheitsgründen die heutige premiere von "mauser/massnahme"- bin schon ganz gespannt auf die "morgendliche nachtkritik" !