Von prallen Geldkammern künden

von Verena Großkreutz

Stuttgart, 11. Januar 2012. Alle fühlen die Bedrohung, aber wer versteht sie schon, die globale Finanzkrise, die die hart erarbeitete europäische Einheit gefährdet? Wer hat wirklich Einblick in die komplexen Zusammenhänge, die Staaten in den Bankrott treiben, unsere gemeinsame Währung gefährden oder das mühsam Ersparte verschlingen? Kein Nichtexperte ist in der Lage, sich die Mechanismen vollends zu erklären, die diese Krise auslösten und sie jetzt weiter befeuern. Nichtwissen aber gebiert irrationale Angst. Das Theater schreit deshalb geradezu nach Projekten, die sich über die Gründe der Krise Gedanken machen, was ein heikles Unterfangen bleibt angesichts der Komplexität des Themas.

Die Krise erklären

Der Dokumentar-Filmer Andres Veiel hat es jetzt gewagt. "Das Himbeerreich" heißt sein Stück, eine Äußerung Gudrun Ensslins zitierend, die mit dieser Metapher so etwas wie das Paradies auf Erden meinte. In Hinblick auf die deprimierende Welt auf den Hund gekommener Investmentbanker, die Veiel auf die Bühne bringt, ist der Titel freilich ein ironisches Schmankerl, was allerdings im Stück selbst keinen Widerhall findet. Denn es wird ein ernster, comedyfreier Abend daraus. Im Stuttgarter "Nord", der Interimsspielstätte des Staatsschauspiels, fand gestern die Uraufführung statt. Als Koproduktion mit dem Deutschen Theater Berlin folgt die Premiere dort am nächsten Mittwoch.

himbeerreich3 560 arno declair uRhapsody in Grey: das Banker-Himbeerreich © Arno Declair

Die Vorschusslorbeeren waren enorm, "Das Himbeerreich" wurde schon im Vorfeld zum Theaterereignis der Saison deklariert. Von Andres Veiel, dem emsigen Aufklärer – bekannt unter anderem durch seinen Dokumentarfilm "Black Box BRD" von 2001, in dem er die Biografien des ermordeten Deutsche-Bank-Chefs Alfred Herrhausen und des RAF-Terroristen Wolfgang Grams gegenüberstellt –, erwartete man offenbar Großes in Sachen Krisenerklärung. Und die Vorarbeit, die Veiel für sein Stück leistete, das er nun auch selbst inszeniert hat, war immens. Er führte gut 25 Interviews mit ehemaligen und aktiven Bankern aus den Führungsetagen der großen Finanzinstitute. Er kochte das Textmaterial ein, wählte aus, montierte es und legte es sechs fiktiven Figuren in den Mund: fünf Investmentbankern, darunter eine Frau, sowie deren Chauffeur.

Schachfiguren mit Krawatte

Da stehen sie nun vereinzelt auf der zugigen, großflächigen Bühne von Julia Kaschlinski. Den Riesenraum umschließen fensterlose, zunächst gold-bronzen, dann silbern schimmernde Wände, die von prallen Geldkammern künden. Hinten eine riesige Schiebetüre, die sich geräuschlos öffnet und schließt. Den Abstieg der immer armseliger wirkenden Gestalten dokumentiert am Ende die kalte Beleuchtung, die den Raum flugs in eine unwirtliche Lagerhalle verwandelt. Doch zunächst dämpft noch dicker Teppichboden jeden Schritt, links und rechts gleiten gläserne Aufzüge hoch und runter, Möbel gibt es nur in Form einiger lederner Drehsessel. Man steht starr, die Hände in den Hosentaschen, oder sitzt im Sessel, mit dem Rücken zum Publikum. Wirkt verloren in der Weite des Raumes.

Wie Schachfiguren ordnet Veiel sein Bühnenpersonal in immer neuen Formationen an, während monologisiert wird, was das Zeug hält. Sie in High Heels und dunklem Kostüm, die anderen in korrektem Anzug mit Krawatte. Sechs, die das Finanzsystem wieder ausgespuckt und abgebaut hat: Sei es wegen Alters, wegen Burnouts oder Aufmüpfigkeit. Das System frisst eben seine Kinder. Ob es sich dabei um die skrupellose Personalchefin Manzinger (Susanne-Marie Wrage) handelt oder den altgedienten Banker Ansberger (Manfred Andrae).

himbeerreich5 h280 arno declair uFressen oder gefressen werden? © Arno DeclairVeiel zielt offenbar darauf, die Denkweise der vom schnellen Reichtum geblendeten, immer wieder nach neuen Investitionsgütern gierenden Investmentbanker möglichst authentisch zu vermitteln. Es sind schließlich jene, die einst im Verein mit den vor Geldgier blinden Hypothekensammlern, -bündlern und -verkäufern die globale Wirtschaftskrise auslösten.

Wer auf uns zeigt, meint sich selbst

Veiel hatte eine Menge Text zu verbraten: In Monologen, Reden und – eher seltener – in Dialogen darf sich das Bühnenpersonal nun ausbreiten, das meist dann verständlich bleibt, wenn es in Merksätzen spricht: "Risiko und Ertrag sind siamesische Zwillinge", "Der Euro ist ein Homunculus", "In der Hölle gibt es immer noch Hoffnung" oder "Wer auf uns zeigt, meint sich selbst"; oder wenn der gewitzte Chauffeur (Jürgen Huth) das Wort hat: "Ich geb mir Mühe, dass man mich versteht. Die geben sich Mühe, dass man sie nicht versteht."

Stimmt. Wer im Publikum kann schon etwas mit Derivatenmakropotientieller Risikosteuerung oder Volatilität des Risikos anfangen? Und wie genau soll das Handelsgeschäft mit den Lebensversicherungen von Todkranken funktionieren, das am Ende ruinös verläuft, weil die angeblich Todkranken nicht sterben wollen?

Schwalliges O-Ton-Theater

In guter alter Dokumentaristenmanier hält Veiel sich raus, lässt das Recherchierte für sich sprechen. Von staatlich gewollten, hanebüchenen "Deals", die nur in Gang kommen, weil Zahlen geschönt werden, wird berichtet. Niemand widerspreche, alle machten mit. Im Zweifelsfall hafte ja der Staat. Mehr und mehr geraten die Figuren ins Lamentieren, klagen über Überwachungsmechanismen, perfide Kündigungsverfahren, erklären sich zu Opfern des Systems, das auch von Wirtschaftsjournalisten und der Regierung mitgetragen werde. Und greifen am Ende auch noch zur Theodizee. Ein schlechtes Theaterstück erkenne man daran, sagte einmal jemand, dass auf der Bühne pathetisch gefragt werde, warum Gott das alles zulasse. Ansberger tut genau das.

Dass die Finanzwelt ein Haifischbecken ist und dass dort skrupellos agiert wird, ist ja nichts Neues. Viel mehr jedoch kann uns auch Andres Veiels Stück nicht lehren. Die Finanzwelt transparent zu machen, Mechanismen zu durchleuchten, Zusammenhänge herauszuarbeiten, das alles bleibt er uns am Ende schuldig. Das schwallige O-Ton-Theater kreist um sich selbst, und überdies degradiert es die Schauspieler zu Sprechern: Sebastian Kowski als Modersohn, Joachim Bißmeier als von Hirschstein, selbst Ulrich Matthes als Kastein, Ankläger des Systems, bleibt blass.

Und was bezweckt Veiel schließlich mit den Zuspielungen chorisch gesprochener Erinnerungen an Nachkriegserlebnisse oder Schlägereien mit einer Rockerbande? "In seiner innewohnenden Abstraktheit sperrt sich das Investmentbanking gegen jede vereinfachte Etikettierung", sagt Frau Manzinger einmal im Stück. Hermetisch und fremd bleibt die Finanzwelt am Ende auch dem Publikum. Krisenerklärung misslungen.

 

Das Himbeerreich
von Andres Veiel
Regie: Andres Veiel, Bühne: Julia Kaschlinski, Kostüme: Michaela Barth, Dramaturgie: Jörg Bochow und Ulrich Beck, Choreinstudierung: Stefan Streich.
Mit: Susanne-Marie Wrage, Ulrich Matthes, Joachim Bißmeier, Manfred Andrae, Sebastian Kowski, Jürgen Huth.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.deutschestheater.de
www.staatstheater-stuttgart.de

 

Am Bankenwesen und seinen Verwesern hat sich soeben am Theater Basel auch Volker Lösch versucht, und den Roman Angst von Robert Harris auf die Bühne gebracht.

Kritikenrundschau

Veiel stellt den Aberwitz der Bankenpolitik an den Prager, hüte sich aber vor allzu leichten Verurteilungen, sagt Rainer Zerbst im Deutschlandradio Kultur Fazit (11.1.2013). "Das alles ist brillant formuliert, lässt einem vor allem aber den Atem stocken, weil man weiß, dass diese Formulierungen nicht Fiktion sind, sondern Realität." Ein Theaterstück allerdings beziehe seine Dramatik aus Konflikten zwischen den Figuren – und daran mangele es in "Himbeerreich". "Er gibt seinen fünf Managern auf der Bühne zwar Namen, Individuen aber werden nicht daraus, lediglich Vertreter von Positionen." So sei ein teilweise papierenes Thesenstück entstanden, das seine Brisanz daraus beziehe, dass hier reale Dinge verhandelt werden, "Dinge, die – so ein Satz im Stück – sich ein Machiavelli nie hätte träumen lassen."

"Dabei hatte sich 'Das Himbeerreich' so faszinierend aufgebaut: Fünf ältere Bankiers (…) erläutern uns, was wir Feuilletonheinze auf den Wirtschaftsseiten noch nie kapiert haben", schreibt Franz Dobler in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.1.2013). "Großartige Schauspieler, die hochkomplizierte Sätze plötzlich verständlich machen, durch eine Betonung hier, eine kleine Geste da: Da ist man doch hin und weg!" Und dann sei das Stück doch irgendwie pleitegegangen. "Fünf Schauspieler stehen meistens nur so da, wenn einer spricht, und ich erinnerte mich an die Kabaretttruppen, die ich als Kind im Fernsehen gesehen hatte." Er glaube, es gebe im Theater das ungeschriebene Gesetz, dass ein Autor nicht sein eigenes Stück inszenieren sollte. "Es ist ein gutes Gesetz, und das Stück von Andres Veiel könnte also noch eine große Zukunft haben."

Mit Eigensinn überraschend, mit Scharfsinn bestechend sei die Art, wie Veiel die Abwärtskurve vom "Großen Fest" zum "Großen Regen" im "Himbeerreich" beschreibt, begeistert sich Roland Müller in der Stuttgarter Zeitung (14.1.2013), "hochgradig komplex, pendelnd zwischen Individuellem und Systemischem, zwischen Konkretion und Abstraktion." Auf der Bühne im Nord stünden keine Thesen auf zwei Beinen, sondern Menschen, die den Thesen ihr Fleisch und Blut gäben und sie gerade deshalb zum Laufen brächten. "Und was wir sonst nur als steigende und fallende Aktienkurse wahrnehmen, wird im 'Himbeerreich' in seinem Weshalb und Warum sinnlich erfahrbar." Veiel sei kein lauter Agitator wie Volker Lösch, sondern ein stiller und behutsamer Aufklärer, dem mit diesem Dokumentardrama die Quadratur des Kreises gelinge. "Das nicht Darstellbare, er stellt es dar."

"Dass sich das Theater der Manager-Kaste zuwendet, ist nicht neu", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (14.1.2013). "Urs Widmers Stück 'Top Dogs' zeichnete vor Jahrzehnten differenziertere Psychogramme als Veiels Versuch. Falk Richters 'Unter Eis' ist weit gnadenloser im Blick auf die Wirtschaftseliten. Und neben der heiß laufenden Sprache der Assoziationsketten in Elfriede Jelineks 'Die Kontrakte des Kaufmanns' wirkt Veiels Stück dann doch etwas brav und bieder." Das wäre, so Laudenbach, kein Problem, "wenn Veiels Zugriff Funktionsweisen der Finanzbranche durchsichtig machen könnte." Aber weil er sich ausschließlich für die mal larmoyanten, mal wütenden, mal kühl arroganten Befindlichkeiten seines Personals interessiere und das mit der Variation hinlänglich bekannter Berichte über die Praktiken der Investmentbanken verknüpfe, entstehe ein Text, der nun doch reichlich unterkomplex sei. Veiels Verfahrensweise, sich unvoreingenommen auf seine Gesprächspartner einzulassen, laufe hier in ihrer Kombination aus bewusst eingesetzter Naivität und moralischer Empörung ins Leere. "Paradoxerweise wird diese Naivität des Textes in der Uraufführung zu einer zumindest theatralischen Qualität." Veiels Regie umgehe die Sentimentalitäts- und Kabarettfallen des Textes klug, indem er auf eine trockene, kontrollierte, konzentrierte Spielweise setze, in der besonders Ulrich Matthes als wütend desillusionierter Banker überzeuge.

Weniger ein Theaterstück denn einen "Lesetext" habe Andres Veiel geschaffen, schreibt Judith von Sternburg in der Frankfurter Rundschau (14.1.2013). Die Einsichten ins Bankenwesen seien bekannt. Sie würden von Schauspielern vorgetragen, die gut "spielen, aber halbherzig dabei wirken". Denn hier liege ein grundsätzliches Problem: Der Abend wirke, als "wüssten alle Beteiligten, dass die meisten Zuschauer dieses eine Mal im Leben nicht die guten Schauspieler sehen wollen, sondern die Banker". Hier trete der "Verlust (nicht den Bankern in einem Dokumentarfilm von Andres Veiel zuhören zu können) scharf zutage".

"Das Himbeerreich" verdeutliche: Das Spiel ist noch längst nicht aus, es werde munter weiterspekuliert, schreibt Volker Oesterreich in der Rhein-Neckar-Zeitung (14.1.2013). Veiel habe 20 Finanzprofis zur Beichte gebeten, Absolution erteile er ihnen mit seinem aus den Interview destillierten Stück nicht. Der Uraufführungs-Abend wirke "betont sachlich." Dass insgesamt eine bleierne Atmosphäre bestimme, liege mit Sicherheit an den langen, spröden Monologstrecken. Insgesamt wirkten Spiel und Inszenierung so metallisch kühl wie die Tresorwände des Bühnenbilds.

"Vage, blass und dokumentarisch neutral", kurz: gescheitert sei der Versuch, die Finanz-Katastrophe zu dramatisieren, konstatiert Michael Laages in der Welt (17.1.2013). Mehr verstehe man hinterher von der Problematik nicht. "Manchmal hören sich Veiels Bank-Manager an, als hätten auch sie bloß den Wirtschaftsteil besserer Zeitungen gelesen. Selbst das Personal selbst bleibt sonderbar blutleer, da mag Matthes noch so vehement an die abgezockten Zahlmeister, also an uns, appellieren – es bleibt ein Manko dieses Veiel-Projekts, dass die Geld-Maschinisten ungeoutet bleiben."

Wut ist der mächtigste Affekt im "Himbeerreich", findet Peter Kümmel in der Zeit (17.1.2013). Was auf der Bühne gezeigt werde, sei "präpariertes, von DNA und Fingerabdrücken gereinigtes Fundmaterial", ein "grandioser, mit Eigensinn, Niedertracht und Selbstgerechtigkeit glühend verstrahlter Theaterstoff". Allerdings bringe Veiel ihn "nicht auf jene Dichte, die imstande wäre, die tollen Spieler Susanne-Marie Wrage, Ulrich Matthes, Joachim Bißmeier, Manfred Andrae, Sebastian Kowski und Jürgen Huth in den Nahkampf zu zwingen".

"Wir sehen 'Im Himbeerreich' nur Platzhalter und Stellvertreter, konstruierte Figuren, Klons der Bankenunterwelt. Aber so austauschbar ist kein Mensch, nirgendwo", schreibt Rüdiger Schaper nach der Berliner Premiere im Tagesspiegel (18.1.2013). Das sei die erste Schwäche dieser heiß erwarteten, mit Riesenhype bedachten Koproduktion des Deutschen Theaters Berlin mit dem Schauspiel Stuttgart. Die Bunker-Bühne von Julia Kaschlinski suggeriere, dass hier brandheißes Material verhandelt werde, "sieht leider nur so aus", enthüllt werde nichts. "Veiel erweist sich als Banker-Versteher, das will er wahrscheinlich dann auch nicht sein. Aber darauf läuft sein Arrangement (Inszenierung wäre ein wenig hoch gegriffen) hinaus."

Die Inszenierung von Andres Veiel bleibe seltsam hüftsteif und blutleer, schreibt Katrin Bettina Müller in der taz (18.1.2013). Das habe nichts Smartes, nichts von der Selbstermächtigung im Wahn von der Beherrschbarkeit des Marktes. "Der Inszenierung fehlt es an Ebenen der Vergegenwärtigung dessen, was erzählt wird, über den Text hinaus. Sie ist ästhetisch eindimensional und konventionell - was dem Dokumentarfilmer Andres Veiel zur Tugend gereicht, das Festhalten an Figuren, die Langzeitbeobachtung -, kann auf der Bühne keine eigene Kraft entfalten."

 

 

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