Die Apokalypse - Ulrich Rasche zeigt in Stuttgart auch ohne Chor seine Handschrift
Die Getreuen des ästhetischen Radikalismus'
von Thomas Rothschild
Stuttgart, 12. Januar 2013. Nach der Finanzkrise – die Offenbarung des Johannes. Nach der Beschränkung auf das Dokumentarische – die Verschränkung mit einem kanonisierten Text. Nach Andres Veiels Himbeerreich – Ulrich Rasches "Die Apokalypse".
Beide Uraufführungen nehmen die Ambiguität des von Hieronymus Bosch geliehenen Stuttgarter Spielzeitmottos "Der Garten der Lüste" auf. Gemeinsam haben sie die Entscheidung für eine stilisierte Choreographie anstelle eines psychologischen Realismus und eine Vorliebe für den Monolog. Sie setzen jene Tendenz fort, die das postdramatische Theater nun schon eine gefühlte Ewigkeit vorantreibt: die Preisgabe von miteinander kommunizierenden (oder auch vergeblich nach Kommunikation suchenden) Figuren. Der aktuellen Entwicklung auf der Sprechbühne entspräche im Musiktheater die Ablösung der Oper durch das Oratorium. Vielleicht verdankt sich die Zunahme des Monologs auf der Bühne aber auch einem verständlichen Abgrenzungsbedürfnis gegenüber der hirnrissigen Dialogitis des Fernsehfilms, der uns das "wirkliche Leben" suggerieren will.
Auch ohne Chor die Handschrift bewahrt
"Die Apokalypse" ist nach 30. September und "Kirchenlieder" Ulrich Rasches dritte eigenständige Arbeit am Stuttgarter Schauspiel (inszeniert hat er hier auch Oscar Wildes "Salome" und "Die Wellen" nach Virgina Woolf). Er bleibt seinen ästhetischen Überzeugungen treu – anders ausgedrückt: er bewahrt sich seine Handschrift –, verzichtet diesmal aber auf Chöre, die ja etwas inflationär die Bühnen bevölkern, seit Einar Schleef mit Franz Kafka verkündet hat: "Nur der Chor ist wahr, das Individuum lügt."
Rasche huldigt der Langsamkeit: ein Tarkovskij der Bühne. Er pflegt das Schreiten als Stilprinzip. Es gibt den Grundrhythmus vor. Wurde in den "Kirchenliedern" im Kreis und im "30. September" von hinten nach vorne geschritten, so schreiten die schwarz-weiß gekleideten Protagonisten – die Schaupieler Rahel Ohm, Toni Jessen und Elmar Roloff, die Sänger Inês Madeira und Arturas Miknaitis und drei Instrumentalisten mit Posaune, Cello und Bassklarinette – diesmal von links nach rechts über die Bühne, auf Fließbändern, die sich in die entgegengesetzte Richtung bewegen und so die Gänge wie in Zeitlupe erscheinen lassen.
Ulrich Rasche hat sich dafür eine faszinierende Bühne konstruiert. Drei Holzwände im Hintergrund werden nach und nach durch drei weitere Holzwände ergänzt, die sich aus gestapelten Brettern aufrichten. Die Wände haben gleichförmige Öffnungen wie aus einem Bild von Magritte, die sich nach hinten hin verjüngen. Die Korridore zwischen den Wänden dienen als Spielfläche.
Politik der Religion, Religiösität der Politik
Gesprochen wird die Offenbarung des Johannes in der zeitgenössischen Übersetzung von Walter Jens. Den biblischen Text unterbrechen Stellen aus George W. Bushs Bericht zur Lage der Nation von 2002 und aus Al Gores ökologischer Streitschrift "Wege zum Gleichgewicht": säkularisierte Varianten der Apokalypse. Bush wie Gore nehmen den Ton der Offenbarung auf und verleihen ihr dadurch Aktualität. Umgekehrt entlarvt der Bibeltext den rhetorischen Charakter der politischen Statements – ob sie nun vor der Klimakatastrophe warnen oder das Heil im Kampf des Guten gegen das Böse verkünden, also mit der Endzeit drohen oder die Erlösung verheißen.
Wenn Bush "Rechtsstaatlichkeit, Beschränkung der Macht des Staates, Achtung der Frau, Privatbesitz, Redefreiheit, Gleichberechtigung und religiöse Toleranz" als die Ideale der amerikanischen Gesellschaft deklariert und Johannes ohne Übergang predigt, "Glücklich, wer diese prophetische Botschaft hört und sich danach richtet! Denn was hier angekündigt ist, wird sich bald erfüllen", dann bringt das Licht, das die beiden Texte auf einander werfen, die Wahrheit hinter der Lüge zum Vorschein. Ulrich Rasches "Apokalypse" zeigt die politische Dimension der Religion und die religiöse Dimension der Politik.
Standhafter ästhetischer Radikalismus
Parallelismus, Wiederholung und Variation gehören zu den bevorzugten Stilmitteln der Bibel. Sie decken sich mit Rasches Ästhetik. So finden der Text und die artifizielle Darstellung zu einer besonderen Übereinstimmung. Wer auf Abwechslung fixiert ist, mag das langweilig finden. Wer sich aber darauf einlässt, gelangt in einen Genuss, der dem beim Anhören repetitiver Musik ähnelt. Wobei Repetition keineswegs Einförmigkeit bedeutet. Rasche kennt und nützt beispielsweise ausgiebig die Gewalt des Crescendos. Nur bei der Gestik vermisst man die Virtuosität, die der Autor-Regisseur bei Gängen und Arrangements beweist. Die erhobenen und gespreizten Arme wirken auf die Dauer doch recht dürftig. Vielleicht wäre ein Verzicht auf die Sprache der Hände in diesem Kontext die bessere Lösung. Vielleicht auch hat Rasche das nicht gewagt. Schon so sind die Klagen derer vorauszuahnen, denen an diesem Abend zu wenig passiert. Ästhetischer Radikalismus findet meist mehr Kritiker als Befürworter. Wir wollen ihm ein Lob singen. "Die Getreuen brauchen Standhaftigkeit und Geduld."
Die Apokalypse (UA)
von Ulrich Rasche unter Verwendung von "Das A und das O. Die Offenbarung des Johannes" in der Übersetzung von Walter Jens
Regie und Bühne: Ulrich Rasche, Kostüme: Sara Schwartz, Musik: Johannes Winde, Video: Timm Ringewaldt, Dramaturgie: Kerstin Retemeyer.
Mit: Toni Jessen, Inês Madeira, Arturas Miknaitis, Rahel Ohm, Elmar Roloff und den Musikern Patrick Crossland, Miguel Pérez Iñesta, Martin Smith (Zafraan Ensemble).
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-stuttgart.de
Kritikenrundschau
"Ist das noch Theater? Oder ist das schon ein Gottesdienst?" fragt sich Tim Schleider in der Stuttgarter Zeitung (13.1.2013). Und antwortet sich selbst: "Es ist natürlich Theater! Nein, Ulrich Rasche ist nicht zu den religiös Erweckten übergelaufen." Ganz im Gegenteil, Rasche wolle irritieren. "Indem er immer wieder in die Texte der Bibel Ausschnitte von Politikerreden schneidet, zeigt er, wie stark das apokalyptische Denken Einzug in unser Reden über die Politik nimmt, wie es von Guten (Al Gore) ganz genauso wie von weniger Guten (George W. Bush) benutzt wird, um die Posaunen zu letzten Kämpfen zu blasen, sei es nun gegen die islamischen Terroristen oder gegen die Klimakatastrophe." Drei großartige Schauspieler erfüllten die zunächst befremdende religiöse Inbrunst des Abends derartig genau zum Leben, dass trotz aller Irritation und trotz der Länge des Abends (deutlich über zwei pausenlose Stunden) im Publikum nie ein Moment der Unruhe entstehe. Ulrich Rasche entpuppe sich in seiner in Stuttgart bisher stärksten Inszenierung als ein Meister des Bühnen-Gesamtkunstwerks – und als Sachwalter einer skeptischen Aufklärung. "Empfehlung an die Leser. Aber mit Warnung: Heftig!"
Wie auch in seinen früheren Stuttgarter Arbeiten bereite Rasche das Publikum auf eine große Meditation vor, schreibt Armin Friedl in den Stuttgarter Nachrichten (14.1.2013). Mit dem Komponisten Johannes Winde habe der Regisseur ein Musiktheater entwickelt, das an Phil Glass erinnere. Darin lösten sich kontroverse Denkansätze ins Nichts auf. Die monologisierenden Schauspieler steigerten sich in ein Pathos von Wagner'schen Dimensionen hinein, das kein Priester in einer Kirche leisten könne. "Als dann noch Rahel Ohm Al Gore zitiert, zerfällt dies alles bereits in einen Klangbrei." Fazit: Rasches "Apokalypse" sei "letztlich eine ziemlich wertfreie Meditation.
"Rasche gehört zur jüngeren, avantgardistischen Generation von Musikspielregisseuren", schreibt Dirk Pilz in der Frankfurter Rundschau (16.1.2013). "Die Töne und Worte spiegeln sich ineinander, weben an einer dichten Beschreibung des apokalyptischen Redens und Denkens." Rasche suche nicht den moralischen Hochstand, von dem aus er auf Bush & Co. Krumen der Besserwisserei streuen könnte; "er will die Muster apokalyptischer Erwartungen erforschen – und hat einen ästhetisch entschiedenen, inhaltlich scharf gedachten Abend entworfen, der einem zu verstehen gibt, dass Apokalypsen weder nur Angst- noch nur Hoffnungs-, sondern Suchtmacher sind: Sie stiften den Wunsch nach Erlösung und delegieren ihre Erfüllung ins Zukünftige."
Björn Hayer schreibt in der Süddeutschen Zeitung (18.1.2013): Ulrich Rasches "Apokalypse" übertrage das Läuterungsgeschehen aus der Offenbarung des Johannes in die Gegenwart. Während der Schöpfer das Volk noch von Tugendverfall zu reinigen suche, sei es nicht mehr weit zu George W. Bush, der mit der "Geste des Heilands" den Kreuzzug gegen die Achse des Bösen aufmarschieren lasse, oder Al Gore, der den Klimawandel in "das Tableau des religiösen Weltensturzes" einordne. Das alles komme "ohne kolossales Bildgewitter" aus. Trotz "zähflüssiger Monologe" treffe der Regisseur "den Nerv der Zeit". Am Ende stehe eine Vision: "Getragen von feierlichen Gesängen schreiten die Akteure an einem weißen Leuchten vorüber, in dem das Gottesreich erahnbar wird." Dieser "Mut zum Pathos" verleihe dem Spiel "seine Größe".
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