Spezialist der Anfänge

von Tim Schomacker

Oldenburg, 18. Januar 2013. Wie eine flokatigewordene Version von Malewitschs Quadrat liegt sie da: die Insel. Darauf allerlei Kulturrestprodukte: eine dreckige Badewanne, ein Fahrrad, eine säuberlich ausgespülte Großküchen-Blechdose, vermutlich Sauerkraut. An einer Inselkante liegt Robinson, auf dem Bauch, die Füße im leeren Raum, das Gesicht gebettet auf das flauschige Weiß. Er ist gestrandet. Weniger auf der sprichwörtlichen einsamen Insel, denn in der Frühgeschichte seiner eigenen Art: des homo oeconomicus. Diese Insel ist Teil seiner Erzählung von sich selbst. Die Sprache ist das Werkzeug dazu. Eines der ersten Worte an diesem Theaterabend ist das Wort "organisieren". Und es dauert lange, bis das erste Wort fällt.

Endlose Wochen ohne Freitag

In seiner "Freitag"-freien Bühnenadaption des "Robinson Crusoe"-Stoffs konzentriert sich das Inszenierungstrio Julia Hölscher, Martin Hammer und Susanne Scheerer auf die Sprache als Zivilisationsträger, auf die Art und Weise, wie Erzählungen hergestellt werden. Alles ist auf den Titelhelden abgestellt; statt des "wilden" Widerparts tritt Denis Larischs Robinson lediglich an zwei Stellen ein stummes Mädchen (als eine vage Vision in weißem Gewand: Anneke Schipper) entgegen. Wenn das Team Larischs – gerade in ausdauernden textlosen, bisweilen nahezu tänzerischen Passagen – formidablen Robinson durch verschiedene Stadien der Einsamkeit schickt, wenn es ihn die Einsamkeit erleiden, reflektieren und vor allem sich in ihr einrichten lässt, tut er vor allem eines: sich ans Werk machen und jenes London, das er als Stadt (und vor allem als Prinzip) in seinem Kopf herumträgt, noch einmal erfinden und aufbauen.

Joseph Vogl, der Analytiker des "homo oeconomicus", hat diesen einmal als "Spezialist der Anfänge" charakterisiert. Wenn Larisch gegen Ende das Treibgut auf dem Inselviereck zu sortieren beginnt, sich mit Fundstück-Vorhang um die Schultern auf eine angeschwemmte Leiter stellt, die Verfassung der "Speranza" getauften Insel verkündet und kurz danach statt der Wellen das Wogen von Edward Elgars "Pomp and Circumstance" erklingt, erweist er sich als Prototyp dieses Spezialisten.

crusoe 3 280 hoch andreas j etter uDa ist er, der Staubsauger! Denis Larisch als Robinson © Andreas J. Etter

Ankommen und Abprallen

Dafür allerdings muss er erst einmal rauf auf die Insel. Lang liegt Crusoe bäuchlings da. Irgendwann rutsch die Hand vom Kopf. Er dreht das Gesicht in den Flausch, bringt mit dem einen Arm den anderen nach vorne. In knappster Evolutionsparaphrase kaulquappt und lurcht er sich in den Stand. Hölscher hat mit ihrem Darsteller diverse solcher körperbewegter Denk- und Erzählbilder gebaut. Als ihm ohne Gesprächspartner die Sprache zu entgleiten droht, schnappt er aus der Unbewegtheit chamäleongleich nach einer Fliege. Oder nach einem Wort? Kurz zuvor hatte er das Wort "abprallen" so lange wiederholt, bis dessen Bedeutung an der Lautfolge abprallte. Sein Tagebuch zeichnet er mit einem gefundenen Kassettenrekorder auf: Der Ozean sei "eine feste aber federnde Fläche und ich meine, ich könnte darauf herumspringen und wieder abprallen". Abprallen. Abprallen.

Einmal schaut Crusoe auf die Uhr. Es ist aber keine Uhr da. Er kratzt sich am Handgelenk, verlegen fast. Eine Übersprungshandlung. Bevor ihm seine Zivilisation gänzlich abhandenkommt, wird es Zeit, sich auf der Insel ein- und sich als Mensch wieder herzurichten. Anfangsspezialist, der er ist, funktioniert er das Fahrrad zur Stromerzeugung um. Es treibt einen Staubsauger an, den Larisch – "da ist er!" – triumphierend in die Höhe hebt wie weiland Oliver Kahn die Meisterschale. Und in dem Moment, da man rätselt, ob der insular wenig funktionale Staubsauger nicht doch ein arg eindimensionales Symbol sein könnte, baut Hölscher das Bild weiter. Sie lässt Larisch seinen Gummibandbart einsaugen. Als poetischen Verweis zugleich theaterimmanent auf die erzählte Zeit wie inhaltlich auf die Kulturleistung der Rasur.

Geräuschkunst

Der in exzellentem Klangverlauf durchs Saugerrohr fluppende Bühnenbart verrät Hölschers musikalisches Verständnis des Bühnengeschehens. In einem Eimer findet Crusoe einen Socken. Er lässt ihn lange austropfen. Dann hebt er – der Socken tropft immer noch hörbar – ein Hosenbein. Die Tennissockenstreifen weisen ihn als seinen zweiten aus. Im vielleicht schönsten Moment des Abends kommt das Theater wörtlich zu sich selbst. Larisch sitzt reglos auf einem herumliegenden Kühlschrank. Eine sehr lange Weile passiert nichts, als dass man die Scheinwerfer knacken hört – als ein Stück unbestimmter Geräuschmusik, durchaus im Sinne eines John Cage.

Diesem akustischen Moment gesellt sich am Schluss eine optische Entsprechung hinzu. Dann beginnt die Flokati-Insel selbst Wellen zu schlagen: Sie schiebt sich als Zeitlupentsunami mit allen gestrandeten Utensilien in Richtung Publikum. Im Universum dieses Crusoe sind – aller Organisationswut zum Trotz – Natur, Kultur, Katastrophe und die Erzählungen davon nicht mehr zu unterscheiden.


Crusoe
Nach Motiven von Daniel Defoe und Michel Tournier
Inszenierung, Konzept, Ausstattung: Julia Hölscher, Martin Hammer, Susanne Scheerer, Musik: Arno Waschk, Licht: Malte Alber, Dramaturgie: Jörg Vorhaben.
Mit: Denis Larisch, Anneke Schipper.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause

www.staatstheater.de


Mehr Robinsonaden: nachtkritik.de besprach auch den Robinson Cruose von Jan Bosse am Wiener Burgtheater 2012 und Robinson oder die Insel der Visionen von Sandra Strunz in Zürcher Gessnerallee 2009.

 

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Kritikenrundschau

Ein "mutiges Stück" habe Julia Hölscher mit "Crusoe" geschaffen, schreibt Simone Wiegand in der Nordwest Zeitung (21.1.2013) und lässt sich von Denis Larischs Performance gefangen nehmen: "Wenn jemand einen Spezialisten für Einsamkeit eindrucksvoll spielen kann, dann ist es wohl Larisch, ein nachdenklicher, poetischer Mensch, im Einklang mit sich selbst." Es "geht unter die Haut", etwa wie Larisch einmal undeutlich Worte nuschele, die sich dann zum Song "Help" von den Beatles "formen und in verstörten Hilfeschreien enden".

Für Johannes Bruggaier von der Kreiszeitung (online 21.1.2013) ist es ein "zähes Vergnügen" zu sehen, wie sich der Alltag dieses „als Durchschnitts-Robinson unserer Tage" angelegten Protagonisten durch "bemerkenswert kleine Triumphe" versüße. Hölscher klammere in ihrer "an sich ja durchaus hellsichtigen Einsamkeitsdiagnose unserer Zeit" aus, wie sich die "allerorts zu beobachtende Vereinzelung sich mit der grassierenden Sucht nach Kommunikation verträgt und wie diese Kommunikation das Gespräch als Kulturtechnik ablösen konnte". Diese aktuell "drängenden Fragen finden in Hölschers Robinsonade keinen Resonanzboden. Und weil Denis Larisch es nicht recht gelingen mag, diese Leerstelle mit spielerischen Mitteln zu füllen, bleibt die Parabel auf unsere Sprachlosigkeit ihrerseits seltsam sprachlos."

Kommentare  
Crusoe, Oldenburg: gelungenes Experiment
Ich fands auch schön was unser Oldenburger Theater da als gelungenes Experiment auf die Bühne gestellt hat. Und ich finds schön, dass Nachtkritik das dem Rest der Welt auch mal mitteilt. Wir sind hier ja sonst nicht so im Rampenlicht der internationalen Theaterszene, aber vielleicht ändert so eine Kritik das mal? Wie man sieht haben wir ja was interessantes vorzuweisen, was es sonst sicher nicht überall gibt. Danke!
Crusoe, Oldenburg: Jubel
ein toller Abend mit einem wunderbaren Denis Larisch!
Crusoe, Oldenburg: doch international, mit Link
hinweis @manfred:

guck mal hier:

http://www.staatstheater.de/archiv/20102011/festivals/10-internationale-tanztage.html
Crusoe, Oldenburg: ein bisschen her
jo, schon klar, aber ja auch schon ein bisschen her mittlerweile... wird denn Crusoe auch mal auf solche Festivals eingeladen?
Crusoe, Oldenburg: Hinweis
@ theaterfreundin:
Ihre URL funzt leider nicht...
Crusoe, Oldenburg: aktuelle Auflage
@manfred

und hier die aktuelle auflage:

http://www.staatstheater.de/20122013/tanz/11-internationale-tanztage-9-20-april.html
Crusoe, Oldenburg: Wahrnehmung von draußen
ist ja nichts gegen einzuwenden, aber ich meinte ja primär Theater, nicht Tanz. Und vor allem meinte ich die Präsenz von Theaterstücken - noch dazu nicht die Kassenschlager des Großen Hauses - in der Wahrnehmung, z. B. auf dieser Plattform. Ich wollte damit nicht behaupten, dass wir Oldenburg per se nichts zu bieten hätten. Würde mich einfach freuen, wenn da von draussen noch ein paar Leute mehr draufgucken. Dieser Crusoe hätte das verdient! Ich geh sicher noch mal hin...
Crusoe, Oldenburg: bestes Ex-Hallenstück ever
Also ich mochte die Vorstellung ja auch sehr aber ich verstehe die Kritik nicht so richtig ... Das mit dem Anfangen stimmt ja nur für das Ende (das zu zauberhaft ist als dass man es hier verraten dürfte), und Sauerkraut gab es nun wirklich keines zu sehen. Meine Heizung knackt auch manchmal. Der Rezensentist hiermit herzlich eingeladen auch dies als Cage Performance zu rezensieren. Aber wie gesagt das eigentliche Stück hab ich gern gesehen! Das beste Ex-Hallenstück ever! Einen schönen Tag noch.
Crusoe, Oldenburg: Sauerkraut?
sauerkraut? hab ich was verpasst?
und lieber manfred, wie die "url" dahin gekommen ist, weiß ich ebenfalls nicht...
ob crusoe sauerkraut mag?
fragen über fragen
gruß tf!
Crusoe, Oldenburg: Beginn der Zivilisationsgeschichte
o Mann, Kritiker... kann jemand bitte Herrn Bruggeier sagen, dass Herr Crusoe auf einer Insel landet, und nicht im Internet? Dass es um das Nacherleben des Beginns der Zivilisationgeschichte geht, und nicht um deren Ende? Juri Bashmet (und alle anderen auch) hat recht, bloß keine Kritiken lesen. Naja, ausser die auf Nachtkritik natürlich :-)
Crusoe, Oldenburg: NW-Zeitung
@manfred: und die aus der NW-Zeitung, die darf man auch lesen ;-)

p.s.: wer ist Juri Bashmet?

tf.
Crusoe, Oldenburg: neugierig
also, wenn man das hier so liest, wird man ja eigentlich nicht schlau. Aber doch immerhin neugierig. Falls ich heute noch eine Karte kriege, gehe ich hin.
Crusoe, Oldenburg: Hinweis
@theaterfreundin

ob das hier hilft: http://de.wikipedia.org/wiki/Juri_Abramowitsch_Baschmet ?
Crusoe, Oldenburg: Was soll das?
und was soll das jetzt mit Herrn Bashmet oder Baschmet? Spielt der da auch mit?
Crusoe, Oldenburg: wohl kaum
wohl kaum;-)

da weiß wohl nur herr "manfred" eine antwort drauf!

(warten auf manfred)
Crusoe, Oldenburg: merkwürdige Metamorphosen
Nun werden schon Haushaltsgeräte zu Phallussymbolen

http://www.saugertest.de
Crusoe, Oldenburg: beeindruckend
Beeindruckender Theaterabend! War gestern drin... (und gehe eher selten ins Theater)

Danke an Denis Larisch!
Crusoe, Oldenburg: Bart und Loriot
wenn dann schon eher der Bart. Es saugt und bläst der Heinzelmann, was Crusoe selbst nicht blasen kann. Aber das ist ja gottseidank nicht das Niveau des Abends ;-)
Crusoe, Oldenburg: worum geht's?
also wenn ich Daniels Kommentar lese, frage ich mich ja schon worum es in dem Abend geht, falls sein Kommentar mit dem Stück zu tun haben sollte... geht es da wirklich um Staubsauger? Okay, auf dem Bild ist einer zu sehen, aber dreht es sich da wirklich um Haulshaltsgeräte und Kochingredenzien? Oder war das mit dem Sauerkraut ein schlechter Witz der Rezension? Und wenn der Staubsauger wirklich der neue Phallusersatz ist, wofür steht dann das Sauerkraut?

P.S. oder anders gefragt, geht es da jetzt um Nietzsche oder Freud oder doch nur Defoe?
Crusoe, Oldenburg: Defoe, Freud oder Tournier?
>> oder anders gefragt, geht es da jetzt um Nietzsche oder Freud oder doch nur Defoe?

Michel Tournier ist vor lauter Sauerkraut nicht zu vergessen!

tf.
Crusoe, Oldenburg: das Knacken der Lampen
und das Knacken der Lampen ist tatsächlich gespenstisch!
Crusoe, Oldenburg: nicht bemerkt
>>> falls Daniels Kommentar mit dem Stück zu tun haben sollte

habe auch das Gefühl, der hat woanders zugesehen... Phallussauger? Hab ich nicht bemerkt...

Kraut dagegen schon eher ;-)
Crusoe, Oldenburg: kein Sauerkrautabend
mein Gott jetzt hackt doch nicht auf irgendwelchen unrelevanten Sachen rum, es ist kein Sauerkrautabend, und Phallussymbole spielen auch nur sehr unterschwellig mit, wenn überhaupt. Auch wenn ich da natürlich nichts dagegen gehabt hätte...
Aber die Kunst des Schauspielers kann nicht hoch genug gelobt werden, und steht absolut im Zentrum des Abends. Wers nicht glaubt kann ja reingehen..
Crusoe, Oldenburg: läuft gut
genau, es gibt noch eine Menge Vorstellungen im Februar. Scheint gut zu laufen dort.
Crusoe, Oldenburg: erstes mal
war das eigentlich das erste mal, dass die regisseurin hier in oldenburg inszeniert hat?

das fragt sich die tf.
Crusoe, Oldenburg: Hinweis-Info
@theaterfreundin

"Mit Crusoe stellt sich die junge Regisseurin Julia Hölscher dem Oldenburger Publikum vor. Bekannt für ihre sinnlich, atmosphärisch intensiven Inszenierungen und eine spielerisch poetische Körpersprache (...)" steht auf der Homepage des Theaters...
Crusoe, Oldenburg: Zum nk-Theatertreffen
also wenn es Crusoe jetzt schon auf die Nachtkritik-Charts geschafft hat, dann hätte man es ja eigentlich auch für das virtuelle Theatertreffen nominieren müssen!
Crusoe, Oldenburg: großzügig
nö, die Nachtkritik-Charts sind ja rein wissenschaftlich, wie man da so lesen darf. Nominiert werden natürlich die großen Namen. Die ja manchmal auch nicht schlecht sind...
Crusoe, Oldenburg: wann wieder
Weiß jemand wann das Stück wieder läuft?
Crusoe, Oldenburg: dann wieder
april oder mai müsste es wieder kommen
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