Vereint im Leid und der Musik

von Martin Krumbholz

Köln, 19. Januar 2013. Vielleicht sollte man doch öfter Dramatiker (wenn sie Schauspieler sind) in ihren Stücken auftreten lassen. In diesem Fall ist die Personalunion perfekt: Wie Sasha Rau da auf ihren Storchenbeinen dicht an der leeren weißen Wand steht, an ihr lauscht, als könnte die Wand doch noch irgendein Geheimnis dieses frappierend geheimnislosen Hauses preisgeben; wie sie die Wand mit dem Finger abtastet und wie sie dann so innig und scheinbar entrückt von einem Schwimmbad und von irgendwelchen Tauben erzählt – das ist so berührend und anziehend wie selten eine Szene auf dem Theater. Nichts gegen den Schauspieler Josef Ostendorf – allein die Geste, mit der er den Steg seiner Brille hochschiebt, ist ja unwiderstehlich –, aber ähnlich überzeugend hat er seinen Eingangsmonolog, in dem er sich als das Kind Egon Richter vorstellt, denn doch nicht hingekriegt; seltsam fahrig und gelangweilt hat sich das ausgenommen, sodass man schon dachte: Oh je, ein Monolog-Abend.

ohitslikehome5 560 hermann und claerchen baus uMelancholische Selbstbestimmtheit: Sasha Rau und Josef Ostendorf © Hermann und Clärchen Baus

Nun heißt aber der Regisseur Christoph Marthaler, und das bedeutet ja nicht zuletzt: Wir haben es mit einem szenischen Konzert zu tun, einem Kammerkonzert, genauer: mit einem Konzert in einem Raum, der für sich genommen ganz und gar unmusikalisch zu sein scheint, oder noch genauer: mit einem Raum, der in seiner kompakten Tristesse danach schreit, zumindest mit Musik gefüllt zu werden, damit man ihn überhaupt ertragen kann. Nicht Anna Viebrock, sondern Duri Bischoff hat ihn gebaut: ein aufgeschnittenes Giebelhaus, darin eine als Speisesaal titulierte Eingangshalle, man sieht eine Durchreiche zur Küche, eine Treppe, eine Schrankwand, die sich zur Seite schieben lässt und dahinter den Teil eines Schlafzimmers freigibt, einen Kamin, eine dominant tiefhängende Lampe – und vor allem einen in Braun- und Beigetönen changierenden Fliesenboden, der garantiert im Zwei-Tage-Rhythmus geputzt wird. Ein Pianist (Bendix Dethleffsen) sitzt hinter der Schrankwand, spielt Chopin und kümmert sich nebenher um die Glühbirne in der tiefhängenden Lampe.

Appetitlosigkeit? Oder Revolte?

"Oh it's like home": Was für ein Titel! Wovon das Stück nun aber handelt, das lässt sich nicht so leicht feststellen. Vier verlorene Seelen, Waisenkinder womöglich oder doch traumatisierte Erwachsene, die sich an ihre Kindheit als einen nicht endenden Alptraum erinnern. Sie werden immer wieder zu "Verhören" gebeten, über deren Gegenstand man nichts weiter erfährt. Ein Quartett: eine große Frau, eine kleine Frau, eine dicke Frau, ein dicker Mann; das Ensemble ist schon auch nach phänotypischen Proportionen komponiert. Josef Ostendorf, Silvia Fenz, Sasha Rau, Bettina Stucky: vier in sich versponnene autonome Charaktere. Ins Gespräch kommen sie nicht miteinander. Es ist eben tatsächlich ein musikalisches Quartett: Jedes geht seinen Motiven nach, und erst das Ganze ergibt ein Muster, eine Melodie. Dass die herzzerreißend traurig ist, versteht sich von selbst.

Einmal deckt der Pianist in einer seiner Nebenfunktionen einen Tisch; "decken" ist freilich zuviel gesagt, es handelt sich um einen fragilen Ausziehtisch, auf dem acht (nicht vier) Kuchenteller nebst Schlagsahne und Gabeln serviert werden. Die Vier werfen einen langen Blick darauf, aber keiner von ihnen kommt auch nur einen Schritt näher. Keinen Appetit? Oder ist dies der winzige Anfang einer Revolte, die eines Tages das ganze Sozialisations-System in die Luft sprengen wird? Oder fühlen die Vier sich in ihrer melancholischen Selbstbestimmtheit letztlich viel zu geborgen, als dass sie ernsthaft einen Versuch unternehmen würden, irgendetwas an ihrem Heideggerschen "Geworfensein" auch nur anzukratzen?

ohitslikehome2 560 hermann claerchen baus uMarthaler-Tristesse: Sasha Rau, Silvia Fenz, Bendix Dethleffsen, Bettina Stucky, Josef Ostendorf
© Hermann und Clärchen Baus

Krass. So heißt die Figur, die Sasha Rau selbst spielt: Gunda Krass. Einmal sagt sie in ihrer entrückt-zärtlichen Art zu ihren Leidensgefährten: "Was für tolle Mitmenschen ihr seid!" Marthaler wiederum schneidet den Mitmenschen gern die Köpfe ab. Mal lässt er zwei von ihnen hinter der Durchreiche in der Küche sitzen, sodass man nur noch die Torsi sieht, mal hockt Silvia Fenz auf einem Kissen im Kamin, die Füße reichen nicht auf den Boden, und dann fährt sie gewissermaßen direkt in den Himmel auf. Gewiss könnte man gegen Sasha Raus Text vorbringen, dass die Sätze gelegentlich allzu kostbar sind und dass sie auch mit der Rätselhaftigkeit und Offenheit der Konstruktion ein wenig kokettiert. Dagegen aber ist Marthalers Humor das allerbeste Mittel.

Und gegen das Theater des Christoph Marthaler hat sich seit jeher bestenfalls einwenden lassen, dass er seine unverwechselbare Methode allzu sehr ausreizt. So lange, bis sie sozusagen in den Wahnsinn umschlägt. Aber über welchen Künstler von Rang ließe sich das nicht sagen?

 

Oh it's like home (UA)
von Sasha Rau
Regie: Christoph Marthaler, Bühne: Duri Bischoff, Kostüme: Sarah Schittek, Musik: Bendix Dethleffsen, Dramaturgie: Malte Ubenauf.
Mit: Josef Ostendorf, Silvia Fenz, Sasha Rau, Bettina Stucky. Pianist: Bendix Dethleffsen. Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.schauspielkoeln.de

 

Kritikenrundschau

Die Figuren des Stücks von Sasha Rau würden "von Bildfetzen, Stimmen, Gerüchen, Gedankensplittern" heimgesucht, schreibt Andreas Rossmann in der Frankfurter Allgemeinen (21.1.2013): "Lange monologische Selbsterkundungen von Menschen, die, wenn sie zum Dialog ansetzen, sich verfehlen und nicht ins Gespräch kommen. Vier Einsame, Ichversunkene, Autisten – auf der Suche nach der verlorenen Kindheit: Kaum miteinander und mehr mit ihren Erinnerungen verbunden, die sie verwickeln und verwirren, weitertreiben und vor existentielle Fragen stellen." Marthaler liefere dazu Leerlauf "in recht brav arrangierten Auf- und Abtritten", "ein paar surreale Bildern", "Manierismen und Rituale, Zwangshandlungen und Standbilder." Doch es entstehe "kein Sog", die "traumlogisch-assoziative Poesie des Texts" komme "nicht zum Tragen. Das Geheimnis des Stücks bleibt Behauptung."

Sasha Rau schicke in "Oh It's Like Home" "vier Personen ins Unbehauste", und Christoph Marthaler schenke diesen "heimatlosen Figuren ein Giebeldach über den Köpfen. Gemütlicher wird es dadurch nicht", schreibt Christian Bos in der Frankfurter Rundschau (21.1.2013). Ab und an gelängen Sasha Rau "dichte, beklemmende Einsamkeits-Beschreibungen. (…) Aber ebenso oft gefällt sie sich in einem mutwilligen Obskurantismus. Als sichere das Unentschlüsselbare bereits die dichterische Qualität." Christoph Marthaler lasse "dazu oft offensiv nichts passieren. Diesen Tanz auf dem ästhetischen Nullpunkt kennt und liebt man ja sonst bei ihm." Diesmal aber erschöpften "Text und Inszenierung sich gegenseitig".

"Alles, was in diesem Abend schön und assoziativ groß ist, kommt von Marthaler, alles, was diesen Abend zu einem trübseligen Ärgernis macht, von Rau." So bringt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (21.1.2013) seinen Blick auf den Abend auf den Punkt. Rau schreibe "Verschrobenes, ohne sich viel darum zu scheren, was man damit anfangen kann." Das Aneinandervorbeireden der Figuren sei "konstruiert, es führt zu nichts." Der Text wirke "eher wie der Versuch, interessant von etwas zu raunen, was im Kern uninteressant ist" und bleibe "beim Lesen hermetisch". Durch die Aufführung werde er "ein klein wenig lichter, auch weil sich Marthaler ganz marthalerisch für die 14 dürren Seiten sehr viel Zeit nimmt." Und immerhin seien Fenz, Stucky, Sasha Rau selbst und Josef Ostendorf "tolle Schauspieler, die mit leuchtenden Augen ungerührt die seltsamsten Sachen sagen können".

Beim Lesen wirke Sasha Raus Text "melancholisch, depressiv, hoffnungslos", meint Stefan Keim in der Welt (21.1.2013). In der Aufführung aber regiere "nicht die Tristesse. Denn Christoph Marthaler nähert sich diesen schattengleichen Figuren mit der feinfühligen Zärtlichkeit, die ihn fast immer auszeichnet. Großer Respekt liegt darin vor den Macken und Wunden dieser Leute, Geduld, Ruhe, ein Wille zur Schönheit auch." In " Oh it's like home" schärften sich die Sinne, "die Außenwelt hat keine Bedeutung mehr, das Theater schafft einen Raum aus eigenem Recht – sich und jenen, die auf der Bühne leben." Weil Raus Text und Marthalers Inszenierung "keine konkreten Geschichten erzählen, Assoziationsfelder und rätselhafte Bilder schaffen, die Schauspieler ebenso entspannt wie choreografisch präzise agieren, ist die Aufführung offen für eigene Sehnsüchte und Erinnerungen."

Die Monologe der Akteure seien "alles andere als lineare Erzählungen, vorgetragen mit hoher Distanz zwischen Sprechweise und Gesagtem, jeweils so idiosynkratisch, dass der Hau ins Absonderliche, den sie offenbaren, uns für die Figuren einnimmt", schreibt Alexander Haas in der taz (22.1.2013). "Raus Stück begünstigst in seiner bewussten Ungreifbarkeit, seiner surrealen Hermetik, die es durch die unverbunden nebeneinandergestellten Sätze der Figuren erzeugt, Marthalers bekannte Ästhetik der Langsamkeit und der feinen Bizarrerien." Gelegentlich kämen zwar Zweifel "am Meister" auf, wenn isolierte Äußerungen ohne Pointen verpufften und man Marthaler "als Marke" samt der "Rezeptur" hinter seiner Ästhetik erkennen. Dennoch gäbe es "die tollen Momente" und die auf Marthalers "Weise choreografierten Kombination aus Raum, Musik und Schauspieler" und eine verloren wirkende Grundstimmung, die sich in den "monadischen Figuren" reflektiere.

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