Hau den Kasimir

von Shirin Sojitrawalla

Frankfurt, 2. Februar 2013. "Und die Liebe höret nimmer auf." Das dem Hohelied der Liebe entrissene Motto des Stücks ist Fluch und Drohung zugleich: Die Liebe geht weiter. Und weiter. Ob die Menschen wollen oder nicht. Ob sie können oder nicht. Kasimir und Karoline können nicht. Die Liebe nicht und das Leben auch nicht. Aber das ist der Liebe egal, und dem Leben allemal. Dessen Blick streckt sich sowieso lieber der blanken Zukunft entgegen, ganz so wie die Rummelplatzbesucher zu Beginn des Stücks dem vorbeifliegenden Zeppelin entgegenstaunen. Wie ein glanzvolles Versprechen hängt dieses Schiff in der Luft, gleitet später an den Wänden des Zuschauerraums entlang wie ein Phantom. Am Ende des Abends, wenn das Spiel auf einem Parkplatz gelandet ist, hängt dort ein verbranntes Auto aus dem Schnürboden und erinnert uns daran, was aus Zeppelinen werden kann und wie weit wir Menschen es schon gebracht haben.

Horváths Volksstück "Kasimir und Karoline", ein Gassenhauer auf dem Theater, spielt auf dem Münchener Oktoberfest, und zwar "in unserer Zeit". Bei Christoph Mehler, der das Stück jetzt im Frankfurter Schauspielhaus inszeniert hat, sieht unsere Zeit aus wie die 50er/60er Jahre. Die Männer tragen Tollen im Haar, und die Frauen schwingen artig onduliert und im Petticoat daher. Die Farben ihrer Kleidung sind eindeutig, und so wie sie aussehen, könnten sie gut und gerne auch in einem Musical aus vergangenen Tagen an der Rampe stehen und ein Lied riskieren.

Kein lieblicher Ort
Das tun sie, ganz wie bei Horváth, auch an diesem Abend: Deutsche Volkslieder, Gaudihymnen und Liebesschlager, die wie Revolutionslieder klingen. Wer nicht spielt, nimmt in Reihe 1 Platz. Links auf der Bühne blitzt ein Automat, rechts ein Hau den Lukas und ein undefinierbarer Schlund. Ein Bauzaun begrenzt den Hintergrund, und wenn das Ensemble davor über die Bühne rennt, ergibt das einen bunten Comicstrip. Keine Zuckerwatte, kein Karussell, kein Rosarot. Bei Christoph Mehler ist der Rummelplatz kein lieblicher Ort, sondern eine Stätte von Suff und Niedergang, ganz so wie im richtigen Leben. Grell und lärmend geht es meist bei ihm zu, wobei er es versteht, die Balance aus Tumult und Besinnlichkeit zu wahren und damit dem Wechsel der Horváthschen Stimmungslagen zu folgen.

kasimirkaroline2 560 birgithupfeld uWo ist hier das Karussell? "Kasimir und Karoline" © Birgit Hupfeld

In eineinhalb aufgeweckten Stunden, die erst zum Ende hin mit Längen kämpfen, gelingt ihm eine Kasimir und Karoline-Version, die den Wahnsinn und die Schönheit der 117 Szenen über Liebe, Not und Leid zu wahren weiß. Sandra Gerlings Karoline ist dabei Drachen und süßes Madl in einer mal fauchenden, mal säuselnden patent adretten Person. Sie trägt die Sehnsucht im Blick und Löcher im Herzen. Das Abspielen von Janis Joplins "Cry Baby" hätte diese Karoline nicht nötig und muss es trotzdem in voller Länge über sich ergehen lassen, wie auch wir. Viktor Tremmel als Kasimir trägt dafür ein freundliches Gesicht und rauschhafte Züge. Mit seiner Arbeit verliert er auch Karoline, die sich ihren Blick in die Zukunft nicht verstellen lassen mag.

Wonnige Besäufnisse
Ein paar Figuren hat Mehler gestrichen, was dem Ganzen nicht schadet; den Schürzenjäger Schürzinger verkörpert Isaak Dentler in Schieflage, indem er, in den Vordergrund inszeniert, die innere Haltung der Figur furios nach Außen trägt, sich dehnt, wippt und wankt. Dabei gelingen dem Abend einschüchternde Szenen, und besonders die Besäufnisse sprudeln mit Witz und Wonne. Dann schütten die Figuren der Einfachheit halber Bier und Schnaps nicht nur in sich hinein-, sondern auch über sich und rutschen hernach trunken über die schlierige Bühne. Kasimir selbst wird im Laufe des Abends zur Jahrmarktsattraktion und als solche mit Tomaten beworfen. Eine schöne Sauerei ist die Folge und eine Atmosphäre zwischen brutaler Gewaltherrlichkeit und kinderspielerischem Übermut.

kasimirkaroline 560 birgithupfeld uDie Liebe geht immer weiter: "Kasimir und Karoline" © Birgit Hupfeld

Den Merkl Franz, einen kleinkriminellen Prolo, markiert Oliver Kraushaar als viehische Unperson, die den Sexismus mit Löffeln gefressen hat. Als dem Merkl Franz seine Erna wirft Franziska Junge die Frage nach der Schlechtigkeit der Menschen in den Raum wie faul gewordenes Obst. Sie zeigt sich überzeugt davon, dass die Menschen nicht schlecht wären, wenn es ihnen nicht schlecht ginge. Alle anderen ahnen längst, dass das eine himmelschreiende Lüge ist. Horváth hat diesen gut splitternden Existenzen Sätze für die Ewigkeit eingeschrieben, die von der Sehnsucht nach dem besseren Leben und der Trostlosigkeit des Tagwerks erzählen. Diesen Wahnwitz, der sich Dasein nennt, bringt Mehler mit großer Dringlichkeit zum Klingen. Vom Premierenpublikum kassiert er dafür bloß freundlichen Applaus und ein paar Buhs. Gerecht ist das nicht.
 
Kasimir und Karoline
von Ödön von Horváth
Regie: Christoph Mehler, Bühne: Jochen Schmitt, Kostüme: Lene Schwind, Video: Konny Keller, Dramaturgie: Claudia Lowin.
Mit: Viktor Tremmel (Kasimir), Sandra Gerling (Karoline), Sascha Nathan (Rauch), Isaak Dentler (Schürzinger), Oliver Kraushaar (Der Merkl Franz), Franziska Junge (Dem Merkl Franz seine Erna) und Marlene Hoffmann (Elli).
Dauer: 1 Stunde 35 Minuten, keine Pause.

www.schauspielfrankfurt.de

Kritikenrundschau

"Eine Ausstattungsorgie mit schauspielerischen Turnübungen" hat Christian Gampert für den Deutschlandfunk (3.2.2013) gesehen. "Es sei ja zugestanden, dass ein Regisseur der jüngeren Generation nicht noch mal so einen Volksstück-Horváth machen will, der den plappernden Jargon der Figuren ausstellt und deren falsches Bewusstsein durch den Wolf dreht." Aber eine Antenne für Sprache, für Leitmotive, für betrogene Gefühle sollte man, so Gampert, schon haben, wenn man sich auf diesen Autor einlässt. "Kasimir haut den Lukas, er schlägt mit dem Hammer auf den Kraftmesser, der ein Gewicht in die Höhe schnellen lässt." Und das bleibe dann leider den ganzen Abend das Inszenierungsprinzip. Es sei immer wieder erstaunlich, wie hörig junge Regisseure den angeblichen Autoritäten zu Füßen liegen: "Bei Mehler sieht man immer wieder Frank Castorfs Münchner grell verzappelte 'Kasimir'-Inszenierung durchscheinen." Immerhin habe Mähler sich "freundlicherweise" mit einer gekürzten Fassung und anderthalb Stunden Spieldauer beschieden.

Christoph Mehler, Hausregisseur am Schauspiel Frankfurt, inszeniere das Stück, weil es sich theatermodenmäßig noch ganz ordentlich ausbeuten lasse: für schrille Effekte und flache Mätzchen, meint Hubert Spiegel in der FAZ (4.2.2013). "Das ist das Nervtötende an einem gewissen Typus des Regietheaters, das sich im Modus des Wiederkäuens gefällt: Ganz gleich, was man vorn an Stoffen, Figuren, Themen und Konflikten hineinstopft, hinten kommt immer nur das ewig Gleiche heraus." Lobend hervorgehoben werden Sandra Gerlings Karoline ("ein trauriger Vorstadt-Flamingo, der sich (…) einen Rest an Würde zu bewahren weiß") und Isaak Dentlers Schürzinger ("eine Karikatur, aber eine mit Eigenleben"). Der Rest gehe unter. In Lärm, Gebrüll, Tomatenmatsch und Bier und Schnaps. "'Kasimir und Karoline' in Zeiten des Koma-Saufens."  

"Viktor Tremmel und Sandra Gerling als Titelpaar, Sascha Nathan als komödiantisches Urtalent und feist-jovialer Kommerzienrat, Isaak Dentler als Zuschneider und instabiler Knie- und Spielbeinschaukler mit subtilen Nuancen, Oliver Kraushaar als herrlich kraftvolles Arschloch Merkl Franz brillieren in mitreißend individualisiertem Spiel", ist Marcus Hladek dagegen in der Frankfurter Neuen Presse (4.2.2013) begeistert. Alle, zurückgenommener auch Franziska Junge als Erna und Marlene Hoffmanns gelbe Elli, gäben sie in den Miniszenen ihr Allerbestes, wie Mehlers Rhythmus es ihnen abfordere. "Die Inszenierung ist voller Schönheiten, die unmöglich aufzuzählen sind." Wie Mehler etwa Kernstellen manisch wiederholt, wie Kraushaar das hyänenhaft-kehligste Lachen herausholt oder Nathan im Hippodrom zum fetten Gaul wird und die peitschende Karoline auf dem Holzpferd zieht, präge sich ein. "Herrlich!"

Kommentare  
Kasimir und Karoline, FFM: das Publikum hat meistens recht
Anmerkung zum Schluss der Kritik: Das Publikum hat meistens Recht.
Kasimir und Karoline, FFM: auch Kritiker sind Publikum
anmerkung zum selbsternannten horvath: auch kritiker sind publikum. und so etwas wie eine einheitliche publikumsmeinung gibts nicht. im applaus äussert sich max. die mehrheitsmeinung der anwesenden gruppe. und wenn ich dabei an das frankfurter premierenpublikum denke, dann kann ich mir anhand der beschreibung von frau soijtrawalla schon denken, was ihnen nicht gefallen hat. ich hingegen bin jetzt erst recht neugierig und werde mir meine eigene meinung bilden.
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