Jenseits obrigkeitskonformer Öffentlichkeit

von Peter W. Marx

Hildesheim, 6. Februar 2013. Der Vortrag widmet sich aus einer theater- und kulturhistorischen Perspektive dem Thema. In einem vergleichenden Blick soll zum einen die "Einmaligkeit" der deutschen Theaterlandschaft auf ihre historischen Bedingungen befragt werden, zum anderen soll das Konzept der staatlichen Fürsorge/Subvention als Denkfigur kritisch diskutiert werden.

Tese 1: Die Kunst soll nicht nach Brot gehen…

Lessings Prinz in "Emilia Galotti" formuliert eine Forderung, die für das 18. Jahrhundert und seinen aufklärerischen Anspruch charakteristisch ist: Die Trennung von Kunst und Ökonomie – in Gestalt einer landesherrlichen Alimentierung.

Damit aber ergibt sich ein paradoxes Bild, denn Kunst – die ja gleichzeitig einen 'Erziehungsanspruch' gegen die Obrigkeit reklamiert ("moralische Anstalt" i.S. Schillers) – gerät in eine unmittelbare ökonomische Abhängigkeit von der Obrigkeit. Zum anderen wird die über Jahrhunderte etablierte Praxis von Theater eben auch Gewerbe zu sein unterdrückt zugunsten des Kunst-Anspruchs.

These 2: Der 'Verfall' der Öffentlichkeit – die Ökonomisierung des 19. Jahrhunderts

Für Jürgen Habermas, den großen Theoretiker der Öffentlichkeit, ist die Ökonomisierung des öffentlichen Lebens, den er im Wechsel zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert ansiedelt, der 'Sündenfall' mit dem die öffentliche Sphäre die Möglichkeit des Raisonements verliert und nur noch den kommerziellen Zwecken dient.

Ein Blick auf die Theatersituation nach 1869 lässt hier eine differenziertere Situation aufscheinen, denn nur durch das privatwirtschaftliche Engagement Einzelner konnten bestimmte Produkte überhaupt als Sprachrohre jenseits einer staats- und obrigkeitskonformen Repräsentationsöffentlichkeit etabliert werden.

These 3: "Berlin hat kein Theaterpublikum…"

Die 'Boomphase' des deutschen Theaters nach 1869 wird orchestriert von der anhaltenden Klage von Kritikern, dass das Publikum nur noch auf seichte Unterhaltung aus sei und zu einem tieferen Kunstempfinden überhaupt nicht mehr in der Lage sei.

Hierbei etabliert sich eine Denkfigur, die den 'Kulturverfall' mit der Erfahrung massiver Binnenmigration zusammendenkt und als Symptom von Verlustängsten eine nahezu physiologische Erklärung des unzureichenden Zuschauers etabliert. Hier aber wäre zu fragen, ob man die Perspektive nicht ändern kann und man bspw. einen produktiven Begriff von "Kulturkonsum" im Sinne einer sozial-identifikatorischen Praxis entwickeln kann.

These 4: "Aber die Zeit, derartige Institutionen privat durchzuführen, ist vorbei."

Dass Max Reinhardt in seinem legendären Brief an die nationalsozialistische deutsche Reichsregierung vom 16. Juni 1933, in dem er offiziell Abschied nimmt, ausgerechnet auf die ökonomische Situation seiner Theater zu sprechen kommt, scheint auf den ersten Blick zu überraschen. Tatsächlich aber offenbart ein zweiter Blick, dass sich hinter dieser Tatsache ein weitreichender Eingriff in die Kulturlandschaft verbirgt.

These 5: Theater muss sein?!

Die Kampagne des Deutschen Bühnenvereins in den frühen 1990er Jahren als Reaktion auf die Schließung des Berliner Schillertheaters war in ihrem Konstatieren einer unhinterfragbaren Notwendigkeit von Theater ein starkes Signal – aber auch die Diagnose des Verlusts ebendieser fraglosen Bedeutung für die post-1989-Gesellschaft der sich findenden Berliner Republik.

Aus dem Blickwinkel einer historischen Betrachtung lassen sich einige Fragen formulieren, die sowohl nach dem kulturellen Ort fragen als auch nach der ökonomischen Bedingung, die ein Konzept des "kulturellen Konsums" entfalten kann.

peterwmarxPeter W. Marx ist seit 2012 Professor für Medien- und Theaterwissenschaft an der Universität zu Köln, wo er auch als Direktor der Theaterwissenschaftlichen Sammlung tätig ist. Schriftleiter von Forum Modernes Theater. Publikationen: Max Reinhardt (2006); Ein theatralisches Zeitalter (2008); Handbuch Drama (2012).



 

Mehr zur Vorlesungsreihe: www.uni-hildesheim.de

Alle Hildesheimer Thesen sind im Lexikon zu finden.

Siehe auch: die Stadttheaterdebatte auf nachtkritik.de

 

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