Rutschende Erinnyen

von Hartmut Krug

Dresden, 8. Februar 2013. Zwei junge, clowneske Wandervögel stehen im hellen Licht, der eine trägt eine Umhängetasche, der andere eine Schiebermütze über hellem Jackett. Die weißgeschminkten Kunstfiguren mit schwarzgerändert aufgerissenen Augen sind Orest (Christian Clauß) und der Pädagoge (konzentriert komisch: Torsten Ranft), der den als Kind von seiner Mutter im Wald Ausgesetzten in Korinth erzog und ihn nun in dessen Heimatstadt Argos begleitet hat. Noch ist offen, ob Orest in Argos zum Racheengel werden wird, wo nun seine Mutter Klytämnestra mit Ägist (Benjamin Höppner mit dickem Zufriedenheitsbauch) nach dessen Mord an ihrem aus dem Trojanischen Krieg heimgekehrtem Mann Agamemnon herrscht.

Tragödie der Freiheit

Die beiden Reisenden beteiligen sich erst einmal lautmalerisch am kräftigen, über die Szene tönenden französischen Lied, indem sie in ein imaginäres Mikrofon singen oder auf eine imaginäre Trommel schlagen. Ein schönes Bild, ein toller, offen hoffnungsfroher Einstieg in die traurige Existentialismus-Fabel, mit der Jean-Paul Sartre die Orestie des Aischylos umfunktionierte, weg von der Tragödie des Schicksals, hin zu einer Tragödie der Freiheit.

DieFliegen2 560 MatthiasHorn uGrell-aggressiver Totentanz  © Matthias Horn

Als das Stück im unter deutscher Besatzung stehenden Paris 1943 uraufgeführt wurde, wollte Sartre die Franzosen aus der "Selbstgefälligkeit in der Reue und Scham" holen, die sie unfähig zum Widerstand mache. Trotz Geiselerschießungen durch die Nazis nach französischen Attentaten müsse man diese verüben und zu einer Freiheit der eigenen Verantwortlichkeit stehen. Und als das Stück 1948 in Düsseldorf erstmals in Deutschland aufgeführt wurde, hob Sartre das angeblich positive Gefühl der Verantwortlichkeit gegen das passive der Reue hervor. Das historisch fest verankerte Stück wird zu Recht kaum noch gespielt. Redselig, philosophisch verblasen, ganz ohne die vielfachen Perspektiven bis hin zur Ironie, die Sartres "Die schmutzigen Hände" auszeichnen, wirkt es schon bei der Lektüre arg verstaubt.

Weißclowns an Wackel-Stäben

Regisseur Andreas Kriegenburg versucht den (noch zu wenig) gekürzten Text mit allen oft erprobten Mitteln aus dem Fundus seines Regiezaubers zu entstauben, indem er ihn geradezu mit Regieeinfällen überschüttet. Seine Inszenierung ist von hoher Künstlichkeit. Sie ist clownesk, unpsychologisch und körpersprachlich bestimmt. Die schwarzgekleideten Frauen, die in die Eingangsszene schleichen und das Bild eines Mannes (Zwangsregime?) mit Tomaten bewerfen, sind wunderbar grell aggressive Elendsgestalten, knickebeinig, knochengesichtig, schwarmhaft. Die Fliegen, die als Erinnyen auch für Misstrauen, Angst und Denunziation von Spitzeln stehen, werden meist von Weißclowns an Wackel-Stäben gegen die Menschen eingesetzt. Jupiter, den Christian Erdmann mit Pepita-Hut und ausbauchenden weißen Pluderhosen in die souveräne leichte Veralberung spielt, ist so machtsicher wie leutselig.

So erklärt er dem fragenden Orest (Motto: Achtung, hier wird Theater gespielt) auch mal, das werde er wohl später im Stück erfahren. Die Menschen, die sich zum jährlichen Ritual des Totenfestes der Reue auf Befehl Ägists versammeln, bekämpfen Angst und schlechtes Gewissen. Die seelischen und körperlichen Krüppel, die unentwegt aus dem Nebeltopf bedient werden, bilden eine wirr wuselnde Menge aus Schauspielern, Maskenfiguren und schlecht geführten kleinen Puppen, von denen einige Hitler (Widerstand!?) ähneln. Elektra stürmt im kurzen Unterrock-Kleid mit blauen Mülltüten auf die Bühne und verschleudert als zu Küchenarbeit verbannte Königstochter heutigen Haushaltsmüll über die Bühne. Worauf eine Gruppe von Menschen, ihre Besen als Luftgitarren nutzend, zum Aufräumen auf die Bühne stürzt.

DieFliegen3 560 MatthiasHorn uIiiih, die Fliegen kommen! © Matthias Horn

Die überzeugende Sonja Beißwenger spielt Elektra mit darstellerischer Energie und den schwankenden Handlungszweifeln ihrer Figur ins Zentrum der Aufführung. Leider aber muss sie entweder ihrem Bruder fragend an den Hals springen oder sich unentwegt auf dem Boden wälzen, während Klytämnestra (Nele Rosetz) auf Überspanntheit und schreiende Verzweiflungstöne reduziert bleibt.

Problematisches Freiheitsideal

Kriegenburgs anfangs noch ästhetisch beeindruckende Bild- und Bewegungsmittel wirken schnell beliebig. Sie besitzen keine choreographische Form, keinen Rhythmus, kein Tempo, und scheinen in Gruppenszenen sogar hingeschludert. (Als habe Kriegenburg, der zur gleichen Zeit an der Dresdner Oper Händels "Orlando" probte, seinen Sartre nicht wirklich zu Ende inszeniert.) Wenn die Aufführung auch keinen Spannungsaufbau besitzt, so erzeugt sie doch immerhin zuweilen Wirkungen mit der Illustration von Figuren und Handlungen. Das Freiheitsideal von Sartre (Ich bin meine Tat, ich mache meins und stehe dazu), mit dem sich Orest nach dem Mord an Ägist und seiner Mutter von Jupiters Herrschaft (Du musst Dich einfügen!) lossagt, ist in Zeiten von Terroristen und Selbstmordattentätern, gelinde gesagt, ja keineswegs unproblematisch.

Vollkommen in die unfreiwillige Komik misslungen dann das Schlussbild nach später Pause: Auf wassernassen Plastikfolien rutschen die Erinnyen, die sich langwierig mit Blut überschüttet haben und Orest mit Blut bespucken, in weißen Mänteln so unmotiviert wie lustvoll unchoreographiert auf dem Boden hin und her. An ihrer turnerischen Bodengymnastik beteiligt sich zunächst die bis auf ihre Unterwäsche entkleidete Elektra, bis sie die nicht selbst begangene Mordtat bereut und sich in die Obhut von Jupiter begibt.

Orest aber tritt selbstbewusst und identisch mit sich und seiner Tat vor sein Volk, statt wie bei Sartre in die Fremde zu gehen, und wird, so berichtet es der Pädagoge, von diesem gesteinigt. Ganz deutlich wird in dieser eklektizistisch veräußerlichenden Inszenierung nicht, was uns mit ihr erzählt werden soll. Und zumindest für den Zuschauer, der Kriegenburgs Arbeiten kennt, ist sie auch ästhetisch eine arge Enttäuschung.

 

Die Fliegen
von Jean-Paul Sartre
Regie: Andreas Kriegenburg, Bühne: Harald Thor, Kostüm: Barbara Drosihn, Licht: Björn Gerum, Dramaturgie: Robert Koall
Mit: Christian Erdmann, Christian Clauß, Benjamin Höppner, Torsten Ranft, Sonja Beißwenger, Nele Rosetz, Tom Quaas, Stefko Hanushevsky, Robert Höller, Benjamin Höppner, Thomas Kitsche, Anna-Katharina Muck.
Dauer: 2 Stunden, 30 Minuten, eine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Eine andere Sartre-Inszenierung von Andreas Kriegenburg - Die schmutzigen Hände - wurde 2007 zum Berliner Theatertreffen eingeladen.

Kritikenrundschau

Kriegenburg habe ein spannendes Spektakel inszeniert, das durchweg in den Bann ziehe, schreibt Silvia Stengel (Sächsische Zeitung, 11.2.2013). Er zeige sich als ideenreicher Regisseur, alle Darsteller überzeugen, "hausragend ist Sonja Beißwenger erst als leidenschaftliche und dann als verzweifelte Elektra. Köstlich istChristian Erdmann als Jupiter, der in eine Hose mit dickem Hintern gesteckt wird." Einfallsreich auch die Kostüme von Barbara Drosihn.

Anders sieht es Irene Bazinger (Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 11.2.2013). Das 1943 im besetzten Paris uraufgeführt Stück sei mit seinen Debatten über die Verantwortung des Individuums keine leichte Kost, bei Kriegenburg sei weder vom Drama noch von den Worten viel zu begreifen, weil er die Darsteller nach der Devise "Auf sie mit Gebrüll!" zu reinen Äußerlichkeiten anstiftet. "Völlig oberflächlich wird mit Slapstick, Gymnastik und Pantomime der Hauch jedes Gedankens veralbert. Zwischentöne finden sich kaum, und wenn, werden sie sofort ironisch weggeplappert." Fazit: "Ein zweieinhalbstündiges künstlerisches Ausweichmanöver vor einem Stück, seinen Sujets und Figuren."

Strapaziöse Rhetorik verpacke Kriegenburg in eine Mischung aus Farce, Burleske und Klamotte, mixt Stilmittel aus Antike, Commedia dell'Arte, Klassik, Pop und analytisch kommentierendem Zertrümmerungstheater und spare nicht mit Metaphern und Anspielungen, so Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (11.2.2013). "Tragödie und philosophischer Ernst wollen sich aber nicht recht verbinden", im Reigen der rasch wechselnden, durchaus eindrücklichen Bilder regieren Brüche. So virtuos und engagiert das sei, produziere es aber auch viel Schauwert und Äußerlichkeiten.

 


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