Suche als Lebensverhinderung

von Mounia Meiborg

Berlin, 13. Februar 2013. Dass der große amerikanische Erzähler Thomas Pynchon, mittlerweile 75 Jahre alt, immer noch unerkannt von der Öffentlichkeit lebt, ist eines der letzten Wunder unserer vernetzten Welt. Seit den 70er Jahren lebt er, dessen Werk oft mit dem von James Joyce verglichen wird, im Verborgenen. Viele Journalisten haben seitdem versucht, ihn zu finden. Einem Reporter von CNN gelang es 1997, ihn in New York zu treffen – aber was er sagte, war so enigmatisch, dass es die Neugier eher anfachte als stillte.

Pynchon, der Gesuchte, schrieb im Jahr 1963 seinen ersten Roman ausgerechnet über einen Suchenden. "V." heißt er, nach jener mysteriösen Frau, deren Vornamen mit V. beginnt und in der der alternde Reisende Herbert Stencil seine Mutter zu erkennen glaubt. Er ist besessen von der Suche nach ihr und so glaubt er überall Zeichen zu erkennen: Im Ägypten des Jahres 1898, in Paris 1913, in Malta während des Zweiten Weltkriegs. Die Suche nach der Gestalt ist dabei zugleich Lebensinhalt und Lebensverhinderung.

Die kranke Bande auf dem Sofa

Am Ballhaus Ost in Berlin hat Regisseur Daniel Schrader gar nicht versucht, diese Odyssee zu entwirren. Stattdessen werden die Verschwörungstheorien zum Klamauk: Stencil glaubt, auf der Getränkekarte einer Bar geheime Botschaften zu erkennen. Und wenn endlich ein Mann auftaucht, der ihm helfen könnte, spricht der breites Sächsisch.

v1 560 mae ost uEin Teil der Bande: Simon Mantei, Gina Henkel © Mae Ost

Die Zuschauer sitzen in drei Reihen und blicken auf die langgestreckte, leere Spielfläche und auf zwei angrenzende Räume: eine Hafen-Bar, die mit dem holzvertäfelten Tresen den Charme einer Berliner Eckkneipe versprüht, und eine Art Wohnzimmer (Bühne: Thea Hoffmann-Axthelm). Hier lümmeln sich die neun Schauspieler auf Sofas, machen Trinkspiele und operieren eine Nase. Denn V. ist auch ein Roman über eine Horde Freunde, die nicht weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. Matrosen und Bardamen versammeln sich hier, die "ganze kranke Bande", wie es im Buch heißt. Da fällt die Annäherung auch mal direkt aus: "Du hast keinen Job, ich hab keinen Job, dann können wir ein bisschen ficken."

Dreieinhalb Stunden lang Themen streifen

Viele Szenen werden live gefilmt und auf den beiden Leinwänden am Bühnenrand gezeigt. Die Schauspieler wissen damit umzugehen: Sie schneiden Grimassen in die Kamera, zwinkern ihr zu, posieren. All das hat man natürlich schon mal gesehen, aber trotzdem macht die Gruppenhysterie Spaß.

Das liegt vor allem an der tollen Ensembleleistung der Schauspieler Kristof Gerega, Gina Henkel, Andreas Klopp, Simon Mantei, Tina Pfurr, Sophie Schneider, Wieland Schönfelder, Claire Vivianne Sobottke und Matthias Zeeb. Sie kämpfen mit einem Krokodil in der Kanalisation, planen einen Kunstraub in den Uffizien und schreien nach Käsekuchen. Doch so unterhaltsam das am Anfang ist, so ermüdend wird das im Laufe der dreieinhalb Stunden. Das liegt auch daran, dass die Themen, die der Roman verhandelt, höchstens gestreift werden: das Verhältnis zwischen Mensch und Maschine, Sinn und Unsinn der Sinn-Suche, Kolonialismus.

Dirk Niebel kann nicht helfen

Es gibt also einen Schamanen-Tanz (der mit dem Ausstellen gesammelter Klischees vielleicht geeignet wäre, die Debatte über Blackfacing zu ergänzen), einen Entwicklungshelfer, der zum Sklaventreiber wird, und die Erkenntnis, dass Dirk Niebel auch nicht weiterhelfen kann – einer der wenigen aktuellen Bezüge. Sonst sprechen die Schauspieler den Romantext, dessen schnoddrige, manchmal auch veraltete Sprache an J. D. Salinger erinnert. Sie agieren mal als wechselnde Erzähler, mal als Figuren, die am Ende in einem Knäuel übereinander liegen.

Dass Daniel Schrader, seit zwei Jahren einer der beiden künstlerischen Leiter am Ballhaus Ost, es geschafft hat, aus dem Roman mit 500 Seiten und verworrenen Handlungssträngen eine spielbare Fassung zu destillieren, kann bereits als Leistung gelten. Aber ein bisschen mehr Konzentration – auf ein Sujet, eine Figur, eine Metaebene – wäre schön gewesen. So geht einem die gelebte Gruppentherapie der Figuren irgendwann auf die Nerven.

 

V.
nach Thomas Pynchon
Regie: Daniel Schrader, Bühne: Thea Hoffmann-Axthelm, Kostüme: Nina Kroschinske, Dramaturgische Mitarbeit: Anna-Sophie Weser.
Mit: Kristof Gerega, Gina Henkel, Andreas Klopp, Simon Mantei, Tina Pfurr, Sophie Schneider, Wieland Schönfelder, Claire Vivianne Sobottke, Matthias Zeeb.
Dauer: 3 Stunden 40 Minuten, eine Pause

www.ballhausost.de

 

Kommentare  
V., Berlin: Cineastisches Einfallsreichtum
Schraders Inszenierung entspricht einer szenischen Lesung mit vielen Illustrationen und einem cineastischen Einfallsreichtum. Das kryptische Pynchon-Debüt „V.“ aus den neurotischen 1960igern kriegt in den Leibeigenschaften eines Schauspiels im 21. Jahrhundert das Format einer verständlichen Erzählung mit allerhand Schmuck an der Textbacke.

„Hinter und in V. ist mehr verborgen, als irgendeiner von uns vermutet hatte“, stellte Stencil sen. einmal in seinem Agententagebuch fest. Vierzig Jahre später geht der Sohn jeder Spur nach, selbst wenn sie in eine teuer bezahlte V-Vagina führt.
„Veld vst vur vum V-Vicken vut“, erklärt er Benny Profane, der immerhin einwendet, dass eine an Beispielen von Privatvergnügen entwickelte „Geschichtstheorie“ notwendig mit Schwächen belastet sein müsse. Ich kann nur zu dem Vergnügen dieser Vorstellung raten.
V., Berlin: Lob
Ich finds auch gut!
V., Berlin: Höchstleistungen
Daniel Schrader gelingt es, seine Schaupieler über 3 Stunden 40 Minuten zu psychischen und physischen Höchstleistungen zu animieren. Sie spielen lustvoll, mit Hingabe und für ihre Jugend mit erstaunlichem Können. Pynchon wird erfühlt und erkennbar adaptiert. Zu verstehen gibt es da nicht viel und auch keine Botschaften rüberzubringen; denn Pnynchon ist ein Seelenverwandter von William S. Burroughs und kein Botschafter. Das Leben ist unentwirrbar und es passieren so Sachen und die kann man erzählen. Und im Ballhaus Ost werden die Sachen sehr gut erzählt. Es gibt Momente zarter Poesie und es gibt pralle Dramatik und es gibt Engpässe, wo sich die ganze Angelegenheit etwas durchquälen muss. Und das alles ist wie bei Pynchon und adäquat in Szene gesetzt. Bravo - 5 Vorhänge minimum.
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